Steffen Dietzsch
Nansenpass One. Oscar Levys andauerndes Exil

Er fand in der Verbannung seinen Gleichmut, seinen Humor, sein inneres Maß. In der Verbannung erst wurde er zu dem großen Philosophen.
Christoph Hein, Passage

EIN NOMADISCHER ENTSCHLUSS – Der junge Jude aus Stargard in Pommern hatte eine Lebensentscheidung zu treffen. Gerade erst, im Sommer 1891, hatte er an der medizinischen Fakultät zu Freiburg im Breisgau promoviert: Über Knochenabscesse; er wusste also Schnitte zu setzen.

Die Heimat blieb ihm unvertraut, »never known a nation so brutally chauvinistic«, schrieb er einem Freund nach London. Damit stieß er auf eine verwandte Empfindungslage bei einem, dem er bald lebenslang als nimmermüder Verteidiger zur Seite stehen sollte – Nietzsche. Der hatte fünf Jahre zuvor in seinem Notizheft vermerkt: »Es scheint mir immer mehr, man treibt uns Deutsche aus dem Vaterlande, die wir nicht flach und nicht gutmüthig genug sind, um an dieser märkischen Junker-Vaterländerei mitzuhelfen und in ihre Hass schnaubende Verdummungs-Parole Deutschland Deutschland über Alles einzustimmen.«

Der frischgebackene Freiburger Doktor jedenfalls ging nach England. Er wollte nicht einfach die Nationalität wechseln. Bloß Brite zu werden, das hielt er für irrelevant. Vielmehr kultivierte er eine ganz eigene Mitte zwischen Integration und Abgrenzung, betrieb eine kulturelle Symbiose zwischen dem kontinental-kulturell Besten, das er mitbrachte und – wie er hoffte – einer aristokratischen Noblesse des Empire. Levy versammelte bald eine Runde von Freunden um sich. Zumeist trafen sie sich in seinem Stammlokal Café Vienna in Bloomsbury. Einer aus der Runde schrieb später: »Dr. Oscar Levy is an English institution, and his office is to introduce to us not only Nietzsche, but all of Nietzsche’s friends.« Der Levy-Kreis setzte darauf, dass durch seinen Einfluss etwas die national-üblichen kulturellen Werte und die je selbstbezüglichen Standards Übersteigendes entstehen könnte. Was Levy dabei vorschwebte, waren Umrisse für eine ›Neue Renaissance‹. Er erprobte eine Art kritisches Ferment: die Ideen Nietzsches in den britischen Geist zu implantieren. Dass eine solche Operation gerade auf der Insel – wo man, wie Nietzsche schrieb, »mit der ›Heilsarmee‹ moralisch grunzen lernt« – die geistige und geistliche Welt nicht gleichgültig lassen würde, davon war schon der Röckener einigermaßen überzeugt gewesen. Als er nämlich den Ecce homo seiner englischen Übersetzerin Helen Zimmern am 8. Dezember 1888 avisierte, verband er damit die Vermutung: »dieses Attentat auf das Christentum wird in England ein ungeheures Aufsehen machen.«

Levy fand den Boden dafür schon bereitet, u.a. in der Zivilisationskritik der um die Jahrhundertwende in London gegründeten Zeitschriften Notes for Good Europeans, The Savoy und The New Age.

Vor diesem Hintergrund gab Levy in schneller Folge zwischen 1909 und 1913 eine achtzehnbändige englische Nietzsche-Ausgabe heraus. Deren außerordentliche philologische Qualität rühmte Josef Hofmiller als einen »jener paradoxen Fälle, dass eine Übersetzung sprachlich besser sein kann als das Original.« Diesem geistigen Reservoir entnahm Oscar Levy die begrifflichen und mentalen Versatzstücke für seine eigenen zeit- und kulturkritischen Diagnosen. Levy untersuchte und attackierte vor allem dasjenige, was er als den inneren Zusammenhalt in allen Nationen seiner Zeit bemerkte: ein Überlegenheitsgefühl Anderen gegenüber, Missachtung des (rassisch oder religiös) Fremden, Militarismus und – vor allem – ein quer durch alle Konfessionen bemerkbares religiöses Sonderbewusstsein der jeweils eigenen Gemeinschaft. Es herrschte ganz allgemein ein Geist des verständigen ›Fertig-seins‹ und des triumphalen ›Das-ist-auch-gut-so‹ – den Sokratismus unserer Zeit, wie Nietzsche es nannte –, gegen den Levy mit seiner Vernunft des unabgeschlossenen ›Unterwegs-seins‹ opponierte.

»Ich fürchte«, schrieb Oscar Levy am 6. Juni 1921 nach Weimar, an Nietzsches Schwester, »ich habe mich bei den Deutschen, wie Ihr großer Bruder, zwischen den christlichen und den jüdischen Stuhl gesetzt.« Doch der böse Geist des Nationalismus blieb in allen Nationen ungebrochen virulent.

Als der Große Krieg der »nationalen Derwische«, wie Levy sich ausdrückte (in einem Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche vom 28. Dezember 1915), begann, wurde in England – absurd – gerade seine große kulturelle Leistung, die Nietzsche-Ausgabe, als ›hunnische‹ Konterbande identifiziert. Ein Slogan machte zu jener Zeit in London die Runde: The Euro-Nietzschean War. Read the Devil in order to fight him the better. In dieser Fehlzeichnung Nietzsches als demjenigen Macht- und Kriegsphilosophen, durch dessen Einfluss (wie Förster-Nietzsche zu Kriegsbeginn am 30. Dez. 1914 an Baron v. Taube schrieb) »aus den geduldigen, nachsichtigen Deutschen dieses stahlharte nach Macht strebende Volk geworden ist«, war man sich bezeichnenderweise zwischen Foreign Office und Nietzsche-Archiv einig.

1915 mußte Levy seine Insel verlassen, er ging in die Schweiz.

DISPLACED PERSON – Nach den Erfahrungen des Krieges war jener schreckliche Geist allerdings nirgends besiegt, kaum blamiert. Der kosmopolitische Träumer und Spötter Levy erfuhr und erlitt es wieder einmal als erster. Er, der bereits ein Vierteljahrhundert in England gelebt hatte, wurde, wie er im Herbst 1920 nach Weimar berichtete, als einer der »former alien enemies« ausgemacht: »Ich habe immer noch einen schweren Stand, sowohl als Deutscher als auch als Nietzschejünger. Selbst mein Hierbleiben ist noch ungewiss.« Obwohl sich ganz unterschiedliche britische Intellektuelle (Georges B. Shaw, Arthur Connon Doyle, Lord Alfred Douglas, John Galsworthy) vehement für ein Aufenthaltsrecht Levys in Großbritannien einsetzten, gelang das nicht. Levy erhielt daraufhin demonstrativ den soeben gestifteten ersten ›Nansen‹-Pass. Dieses von dem bekannten Polarforscher Fridtjof Nansen angeregte, völkerrechtlich basierte Reisedokument für staatenlose politische Flüchtlinge wurde Anfang Juli 1922 auch vom Völkerbund anerkannt. So konnte Levy seine nomadische Lebensweise fortsetzen.

Levy begriff Nietzsches Diktum »Wir sind Emigranten« als zentrales Signum seines Selbstverständnisses. Damit machte er aber auch eine Aussage über die generelle Eigenart seines Denkens. Dessen ›Nomadismus‹ motivierte das immerwährende Interesse Levys für das Phänomen des Jüdischen: »There is no race in the world more enigmatic, more fatal, and therefore more interesting than the Jews«, schrieb er 1920 im Vorwort zu einem Buch von Pitt-Rivers.

Levys Untersuchungen waren fortan befasst mit den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen jener dunklen ideologischen Kräfte, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Bolschewismus, an denen Europa zu zerbrechen drohte. Er begriff die beiden zeitgenössischen ›Erlösungsphantasien‹ als verquere Aufnahme biblischer Quellen: die ›Rassenerlösung‹ der Nazis sei eine säkulare Abirrung mit Versatzstücken des Alten Testaments, so wie die ›Klassenerlösung‹ in Russland eine entsprechende im Horizont des Neuen Testaments.

Vor allem seit Sommer 1933 warnte Levy, dass die nationalistischen Isolationen nach außen und ›Säuberungen‹ nach innen, mit denen einige der wichtigsten Nationalstaaten Europas aus der europäischen Geschichts- und Kulturkontinuität ausbrechen wollten (namentlich der ›Nazional‹-Sozialismus, aber auch der bolschewistische ›Sozialismus in einem Lande‹), mehr seien als nur eine vorübergehende »Verrücktheits-Episode«. Gerade so hatte Thomas Mann die jüngsten Ereignisse in Deutschland in einem Gespräch mit Oscar Levy am 28. Mai 1933 verstehen wollen.

NIZZA – Im Frühjahr 1934 trafen sich an der Côte d'Azur gelegentlich einige der Naziherrschaft entronnene Schriftstellerkollegen. Der erste Winter ihres Missbehagens in der Fremde war vorüber. Sie alle kamen aus einem seltsamen Land, das sie ›Bei-uns-zu-Hause‹ nannten. Regelmäßig trafen sie hier einen, bei dem sie, die ›les-chez-nous‹, wie man sie spöttisch titulierte, mit ihrer Klage der ›Entwurzelung‹ nur ein helles Lachen ernteten. Dieser eine war Oscar Levy, ein enger Freund von Heinrich Mann und Ernst Toller. Levy war wahrscheinlich, das wussten sie jedoch noch nicht, der erste wirkliche Europäer, den sie zu Gesicht bekamen. Sein halbes Leben lang Emigrant, in England, der Schweiz und Frankreich, hatte er längst keine deutschen Papiere mehr. Er zeigte den neuen Schicksalsgenossen, wie man sich dennoch selbst erhalten kann, sozusagen ›übernational‹ (wenn auch zunächst erzwungenermaßen), in der Einübung einer – vorerst nur geistigen – europäischen Existenz.

Erneut widmete sich Levy – jetzt im französischen Exil – mit ganzer publizistischer Kraft der Verteidigung des Werkes von Friedrich Nietzsche, diesmal gegen die volksdeutsche Vereinnahmung. Levy eröffnete mit seinen Analysen und Polemiken schon früh eine hoffnungsvolle Perspektive auf Nietzsche in einer hoffnungslosen Welt. Er werde wohl, wie Levy am 18. Mai 1921 nach Weimar schrieb, »als einziger Europäer diese Sintflut überleben...«

In dieser Zeit benutzte Levy für seine Zeitschriftenpublikationen das Pseudonym Defensor Fidei. Mit seinen Beiträgen unterstützte er vor allem Leopold Schwarzschild und seine deutschsprachige Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch, die von Juli 1933 bis Mai 1940 in Paris erschien.

Im Bericht von einer Feier für Friedrich Nietzsche, den »modernen Troubadour der Provence und des Mittelmeers«, die am ersten März 1937 in Nizza stattfand und die das dortige ›Centre Universitaire Méditerranéen‹ veranstaltete, machte Levy die ›erstrebenswerte europäische Konfession‹ deutlich, wenn er schrieb, »dass es sich in Europa nicht um den alten Nationalismus oder den alten Inter-Nationalismus handeln könne, sondern um einen neuen ›sur-nationalism‹«. Der erfordere allerdings nicht einfach eine Rückkehr zu alten gesellschaftlich-politischen Normativen, sondern eine Volte im Denken selber.

Sein letztes, 1940 in London veröffentlichtes Werk, The Idiocy of Idealism, versuchte sich an einer ideengeschichtlichen ›Naturgeschichte‹ der Diktatoren und Erlöser. George Bernard Shaw empfahl dieses Buch, das zu einer umfassenden Selbstbesinnung und Selbstkritik des christlich-idealistischen Europa aufrief, um zu erkennen, dass das Böse nicht von ›draussen‹ zu uns kam, sondern aus den Tiefen unseres Ureigensten. Shaw hat auch die unabhängige, bisweilen befremdliche geistige Verfassung des Autor, des lebenslangen Emigranten Levy begriffen, als er ihn pointiert einen »Entirely tactless Nietzschean Jew« nannte. Dieser blieb mit seinen Urteilen stets ungebunden, unwillkommen, störrisch, suchend, ortlos, ja nomadisch.