Kulturen prägen das Leben der Menschen bis in dessen innerste
Bezirke, verleihen ihnen eine öffentlich erkennbare Identität und
sind selbst doch keine homogenen Gebilde. Als Inbegriff der in der
Geschichte eines Volkes verfestigten Ausdrucksformen bieten sie
zwar ein gewöhnlich als Einheit empfundenes Repertoire kollektiv
verfügbarer und vor aller reflektierend erst zu erwerbenden Distanz
schlichtweg ›gegebener‹ Ausdrucksmöglichkeiten. Gleichwohl haben
aber in ihrer Geschichte, in der sie zu dem geworden sind, als das
sie nun existieren, viele und zum Teil gegensätzliche Einflüsse in
sie hineingewirkt und sind viele und zum Teil gegensätzliche
Impulse aus ihnen hervorgegangen. Und nicht nur die eigenen Ideen,
Gestaltungsimpulse und Formkräfte eines Volkes haben sich zu dessen
Kultur zusammengefügt, sondern auch die pure Macht und Gewalt der
Unterdrückung von außen, manchmal aber auch die eigene Bewunderung
und Begeisterung für die andere Kultur anderer Völker haben sich in
die Kulturen eingeschrieben. Kulturen sind gewachsen und nicht
geplant, sie tragen nicht nur die Früchte inspirierter Gedanken und
schöpferischer Taten, sondern auch die Narben vergangener Fesseln,
des ohnmächtigen Verstummens und des verstümmelten Widerstandes.
Kulturen sind vielstimmige Gebilde, und nicht jede Stimme besitzt
einen reinen Klang. Kulturen sind in diesem Sinne gewöhnlich
Mischkulturen.
Zu einem eigenen Thema und manchmal auch zu einem eigenen
Problem wird die Mischform einer Kultur dort, wo sich in dieser
Mischung dominante Elemente finden, die einer fremden Kultur
entstammen und der Stempel des Fremden so das Eigene mitprägt. Wie
kann sich – oder kann sich überhaupt – eine eigene kulturelle
Identität bilden, wenn das Eigene sich über das Fremde
mitzudefinieren hat? Tatsächlich scheint fast überall diese
besondere Form einer Mischkultur vorzuliegen, in der Eigenes und
Fremdes die Frage nach der Identität abfordern, nach der
kulturellen, aber auch der nationalen Identität – und damit
zugleich immer wieder auch nach der persönlichen, der individuellen
Identität. Lässt sich eine solche Mischkultur überhaupt als eine
eigene Kultur verstehen, in und mit der man lebt und zu der man
gehört und gehören will? Gibt es in der auch vom Fremden geprägten
Pluralität der Faktoren und Impulse eine grundlegendere Einheit,
die das Fundament für eine lebbare Identität sein kann? Oder müssen
wir einzelne Elemente aus der Mischkultur herauslösen und als eine
›Leitkultur‹ definieren, aus der wir unsere Identität
herleiten?
›Identität‹ bedeutet hier vieles: Selbstwertgefühl und
Vertrautheit, Abgrenzung gegen andere und gegen Fremdes,
Einbeziehung ins Eigene und Selbstverständliche. ›Identität‹
bedeutet für uns alle ein gemeinsames Feld von Orientierungen für
unser Denken, Fühlen und Handeln und für jeden einzelnen ein Maß,
unter dem sich seine Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit entwickeln
und präsentieren kann. Zur ›Identität‹ gehören schließlich auch die
symbolischen Welten: die Bild- und Sprachwelten, die Handlungs- und
Wahrnehmungswelten, in denen wir aufwachsen und leben und in denen
wir – nicht zuletzt auch dies – sterben können.
Wer über eine Kultur in ihrer Mischform redet, scheint in einer
besonderen Weise über Identität zu reden, über eine gebrochene oder
nicht-identische Identität, über die Geschichte eines Anderen im
Eigenen, eines Fremden im Vertrauten oder des Eigenen im Anderen,
des Vertrauten im Fremden. Man kann diese Formulierungen auch als
eine verknappte Darstellung unserer Gegenwartssituation lesen:
nämlich der Rolle, die eine lokale oder regionale Identität –
überhaupt noch oder gerade jetzt wieder – spielt in einer
globalisierten Handelswelt mit einer, zumindest als Element des
Eigenen, allgegenwärtig werdenden und überall gleichen
Minimalkultur.
Die Frage nach dem Verhältnis des Fremden und des Eigenen in
einer Kultur artikuliert mehr als eine Frage an die historische
Genese dieser Kultur. Sie benennt exemplarisch ein Problem, das wir
alle haben, die in den Sog dieser kommerziellen und kulturellen,
politischen und technischen, administrativen und militärischen
Globalisierung geraten sind. Es ist ein Problem, das nur als
Paradox formuliert werden kann: Die regionalen Kulturen werden
immer stärker ausgehöhlt und mit Versatzstücken einer
minimalistischen Einheitskultur aufgefüllt – und zugleich
verstärkt sich das Bedürfnis nach der Pflege einer eigenen,
regionalen Kultur bis hin zum drohenden oder wirklichen ›Kampf der
Kulturen‹ (Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die
Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert. München / Wien
1996). Im Verschwinden des kulturell Eigenen in einem kulturellen
Allgemeinen entsteht zugleich Wiederentdeckung der eigenen
kulturellen Besonderheit – und dies bis hin zum kämpferischen
Bestehen auf dieser Besonderheit: unter allen Umständen und
gegenüber allen Verfremdungen, bis hin zu einem kulturellen
Fundamentalismus.
Die Allgemeinheit des Problems mag es begründen, einige
allgemeine Überlegungen zur kulturellen und individuellen
Identität, zum Austausch zwischen den Kulturen und zum Verstehen
des Fremden wie dem Verstehen seiner selbst vorzutragen. Ich tue
dies in 16 Thesen, die – aufgeteilt auf drei Gruppen – dem Sinn
und den Schritten einer Identitätsbildung (1), der Polarität von
Fremdem und Eigenem (2) und der Integration des Fremden im Eigenem
(3) gewidmet sind. (In einem größeren Zusammenhang habe ich diese
Fragen behandelt in meinem Buch Die kulturelle Existenz der
Menschen. Berlin 1997.)
1. Kulturelle und persönliche Identität
These 1:
Unsere kulturelle oder individuelle Identität wurzelt in einem
geordneten Gefüge von Ausdrucks- und Wahrnehmungs–, von Denk- und
Handlungsformen, von Formen des Fühlens und Wollens, die uns als
Muster in unserem Leben eine Orientierung bieten. Unsere
Identität gewinnen wir dadurch, dass dieses Gefüge tatsächlich
unser Leben prägt, dass wir mit ihm sozusagen verwachsen und es als
unsere eigene Lebensform verinnerlicht haben.
These 2:
Ohne eine Identität in diesem Sinne der verinnerlichten
Orientierungsmuster wären wir unfähig zu existieren. Identität ist
daher nicht etwas, das man sich zulegen und auch wieder ablegen
kann. Identität ist die Form unseres Selbst, ohne die wir
überhaupt kein Selbst wären.
These 3:
Wir gewinnen unsere Identität, d. h. wir werden wir selbst, nur
dadurch, dass wir unsere Ausdrucks- und Wahrnehmungs–, unsere
Denk- und Handlungsformen, die Formen unseres Fühlens und Wollens
durch die Symbole unserer kulturellen Umwelten ausbilden und
zugleich damit zu Symbolen unseres eigenen Lebens verdichten und
befestigen. Jede geistige Formbildung ist eine Symbolisierung.
Formen des Ausdruckslebens und der Wahrnehmung, Formen der
Bewusstseinsereignisse und der geistigen Vollzüge gibt es nur als
Vergegenwärtigungen, als Repräsentationen von Prozessen, die sonst
nur abliefen, auftauchten und wieder verschwänden, die
möglicherweise sogar Spuren in uns hinterließen, aber keine
Erinnerungen. Das bloße Auftauchen und Verschwinden eines Eindrucks
oder einer Vorstellung, das bloße Passieren oder Geschehen,
verbliebe in einem unfassbarem Strom, dessen fließende Formen im
Wechselspiel ihres Entstehens und Vergehens immer schon vorbei
wären. Wir könnten sie nie als diese oder jene erfassen. Wir
könnten sie nicht identifizieren, weil wir sie uns nicht
repräsentieren, vergegenwärtigen könnten. Vergegenwärtigen können
wir sie nur, wenn wir ihnen einen Halt und Stand geben, wenn wir
sie in einer Form fixieren, in der sie repräsentiert sind – und
d. h., wenn wir sie symbolisieren. Ein Symbol ist eine fixierte
Repräsentation. Selbst unsere flüchtigsten Regungen und
Empfindungen werden für uns als diese Regungen und Empfindungen nur
erfassbar, gewinnen für uns eine Identität als diese Regungen und
Empfindungen nur, wenn sie in irgendeiner Weise symbolisiert, durch
Repräsentationen fixiert sind. Ohne diese elementare Identität
unseres Ausdrucks–, Wahrnehmungs- und Gefühlslebens ist keine
Identität unserer Person, unseres Denkens und Wollens möglich. Dass
dann auch keine kulturelle Identität entstehen kann, versteht sich
von selbst. Denn kulturelle Identität hat nur eine symbolische
Existenz.
These 4:
Die symbolische Fixierung unseres Ausdrucks–, Wahrnehmungs-
und Bewusstseinslebens schafft die Möglichkeit, ein geistiges und
kulturelles Leben zu entwickeln. Oder anders gesagt: Die
symbolische Befestigung der fließenden Gefühls- und
Bewusstseinswelten schafft Konturen, gibt uns eine geistige
Gestalt, mit der wir uns in der Welt präsentieren und uns zu einem
Selbst gestalten können. Die expressiven, affektiven und
emotionalen Grundlagen unserer Existenz sind gleichsam die
strömenden Energien unserer geistigen Existenz, die in den Symbolen
einer Kultur ihre Form finden und dadurch zu den Motiven und
Impulsen unseres Denkens, Fühlens und Wollens werden können. Unsere
geistige Formung ist eine individuelle Formung in einer Welt von
kulturellen Formen, in einer Welt von ineinander verschränkten
Formwelten, von Bild- und Sprach–, von Handlungs- und
Wahrnehmungs–, von Ausdrucks- und Hörwelten sowie von allen
anderen Welten, in denen Formen des Lebens sich in Symbolen
befestigt haben. Die symbolischen Welten sind die Atmosphäre, in
der wir als geistige Wesen atmen, bilden ein Gestaltungspotential,
das in die Poren unseres Denkens, Fühlens und Wollens, unseres
Wahrnehmungs- und Ausdruckslebens eindringt und es mitformt. Wir
sind durch und durch Kulturwesen. Unser Kultur ist nicht nur die
Außenwelt der Werke, die in der Geschichte der Arbeit der
symbolischen – und technischen – Gestaltung geschaffen worden
sind. Unsere Kultur existiert auch als die Innenwelt unserer
innersten Gedanken und Gefühle, unserer unmittelbarsten
Wahrnehmungen und Ausdrucksgebärden. Gerade in unserer
Individualität sind wir Kulturwesen. Und unsere Kultur ist nicht
nur eine Werkewelt, sondern auch eine Gefühls- und Gedankenwelt,
eine Ausdrucks- und Wahrnehmungswelt. Und unsere Individualität ist
immer eine kulturelle Individualität.
These 5:
Unsere persönliche und unsere kulturelle Identität sind nicht zu
trennen, aber sie sind nicht dasselbe. Durchtränkt von und
verwurzelt in den kulturellen Symbolwelten, wird uns die Arbeit an
der Selbstgestaltung nicht erspart. Wir können nicht einfach das
Überkommene übernehmen. Täten wir das, es verwandelte sich aus
einem kulturellen Werk in ein persönliches Klischee, bliebe
allgemein und wäre kein Schritt auf dem Wege zu unserer eigenen
Individualität, zu unserem persönlichen Selbst. Gestaltung ist
nur möglich als Umgestaltung. Die Arbeit der Individuation
verbleibt uns als Aufgabe auch dort, wo die kulturellen Werke
unserer symbolischen Welten schon Werke vergangener Individuationen
sind.
These 6:
Wir sind nie nur wir selbst als in sich abgeschlossene
Individuen. Wir sind immer auch das, was die anderen sind, die in
unserer Kultur leben. Das macht den Austausch und den Umgang mit
diesen anderen in derselben Kultur leichter. Auch wenn wir uns
nicht verstehen, miteinander streiten oder gegeneinander kämpfen,
verbleiben wir im Umkreis gemeinsamer Symbole und Orientierungen.
Wir verlieren dann nicht die eigene Orientierung. Wir mögen Gegner
sein. Aber wir sind uns in einem elementaren Sinne vertraut. Wir
erkennen die Richtung unserer Gefühle und Äußerungen, auch wenn sie
sich gegeneinander wenden. Dies ist anders in unserem Verhältnis zu
den kulturell Anderen, zu den anderen, die in einer anderen Kultur
leben. Sie sind uns in einem elementaren Sinne fremd.
2. Das Fremde und das Eigene
These 7:
Fremd erscheint uns jemand, wenn die elementare Gemeinsamkeit
fehlt, die durch eine gemeinsame Kultur geschaffen und erhalten
wird. Das beginnt bei der anderen Kleidung, dem anderen Aussehen,
der anderen Mimik und der anderen Gebärdensprache, den anderen
Bräuchen und der anderen Ausdrucksweise und endet bei der anderen
Weise zu denken, zu fühlen, zu wollen. Dabei geht es meist nicht um
das völlige Unverständnis. Wir mögen die Gebärde, die uns
herbeiruft oder fernhält, durchaus verstehen. Aber was wir dann
gleichwohl nicht verstehen, ist, ›wie sie gemeint ist‹: freundlich
oder ärgerlich, heftig oder begütigend. Nicht völliges
Unverständnis, sondern ein teilweises Missverständnis
charakterisiert unser Verhältnis zum Fremden.
These 8:
Die Mischung von Verständnis und Unverständnis lässt im Fremden
sozusagen zwei Individuen hervortreten: das kulturelle
Individuum und das persönliche Individuum. Das kulturelle
Individuum ist das Mitglied einer anderen symbolischen Welt und uns
fremd, das persönliche Individuum kann uns dagegen trotz seiner
Fremdheit verständlich werden. Die Begegnung mit dem kulturell
fremden und persönlich verständlichen Individuum mag uns sogar
einen Weg ebnen zu einem wenigstens teilweisen Verständnis der
anderen kulturellen Welt. Allerdings gibt es ebenso häufig auch den
anderen Fall, dass die kulturelle Fremdheit das persönliche
Verstehen erschwert oder sogar verhindert. Jedenfalls ist es das
kulturelle Individuum, das wir als erstes wahrnehmen. Die
Wahrnehmung des kulturellen Individuums steckt am Anfang den Rahmen
ab, innerhalb dessen wir überhaupt einen Austausch oder einen
Umgang beginnen können.
These 9:
Auch wir selbst nehmen uns zunächst mit den Augen der anderen
wahr. In diesen anderen Augen sind wir ebenfalls vor allem ein
kulturelles Individuum. Was wir als persönliches Individuum sind,
müssen wir erst zeigen – und zwar in Abweichungen von den
kulturellen Mustern der individuellen Repräsentation. Diese
Abweichungen können als Variationen oder als
Oppositionen auftreten. Die Terminologie der Linguisten gibt
uns hier theoretisches Rüstzeug an die Hand.
These 10:
Als kulturelle Individuen besitzen wir eine kulturelle
Identität. Diese tendiert in ihrer Struktur zur Verfestigung und
Selbstbestätigung. Für unser Ausdrucksleben hält sie Formeln
bereit. Für unsere Wahrnehmungen bietet sie uns paradigmatische und
stereotype Bilder. Für unser Fühlen werden in ihr Geschichten
tradiert, deren kanonisierte Dramatik die Dynamik unserer Gefühle
formt. Für unser Denken und Wollen enthält sie ein Gefüge von
Ideen, deren allgegenwärtige Präsenz und Präsentation die
kollektiven Selbstverständlichkeiten erzeugt. Für unser Verhalten
kontrolliert sie Kodizes, die uns berechenbar machen. Die
kulturelle Identität gewährt uns Entlastung in der
Orientierungsformel und kann uns zugleich in eine erstarrte
Gedankenlosigkeit führen, in der wir eine persönliche Identität nur
noch präsentieren, ohne sie errungen zu haben.
These 11:
Die Erstarrungstendenzen, die einer jeden Kultur zunächst einmal
immanent sind, lassen sich von innen und von außen aufhalten. Von
innen ist es das persönliche Individuum, das nur in Abweichung –
in einer »kohärenten Deformation« (wie Maurice Merleau-Ponty sagt)
– die kollektive Gedankenlosigkeit und allgemeine Verfestigung
der kanonisierten Formen und Kodizes durchbrechen kann. Der
Existenzialismus setzt auf diesen Weg. Von außen ist es die Öffnung
für andere Kulturen – der Austausch und die Auseinandersetzung
mit ihnen –, der die alten Selbstverständlichkeiten auflöst, auch
wenn dann wieder neue Selbstverständlichkeiten geschaffen werden
mögen.
These 12:
Eine Kultur ist zumeist kein homogenes Gebilde. Sie erfasst
unterschiedliche Gruppen einer Gesellschaft unterschiedlich. Sie
verbindet daher nicht nur, sie trennt auch. Für ihre Verbindungen
und Trennungen hat sie allerdings selbst zumeist wieder Muster des
Umgangs damit, so dass Verbindungen nicht Verschmelzungen sind und
Trennungen nicht Sprengungen des kulturellen Zusammenhalts. Eine
Kultur ist in sich so lebendig wie die Spannungen, die sie zwischen
ihren verschiedenen Momenten und Impulsen aufrechterhalten und
aushalten kann. Nicht die Homogenisierung wäre das Ziel einer auf
diese Weise lebendigen Kultur, sondern die »Harmonisierung« im
Sinne Heraklits, wenn er die »gegenspännige Verbindung wie bei
Bogen und Leier« (Fragment 51) als Beispiel für eine
»nichtoffensichtliche Harmonie« anführt, die »stärker ist als
offensichtliche« (Fragment 54). Es wäre dies die Integration der
Abweichungen, die Vereinigung der Individualitäten, die zugleich
die Individualitäten bestärkt und die Abweichungen ernst nehmen
kann. Für die Lebendigkeit einer Kultur sind die persönlichen
Individuen wichtig, aber auch die anderen Impulse und Momente
anderer Kulturen oder Teilkulturen.
3. Das Fremde im Eigenen
These 13:
Sich einer anderen Kultur gegenüber zu öffnen, bedeutet – und
verlangt – nicht, die eigene Kultur aufzugeben. Kulturen sind,
wie man im Anschluss an Max Weber sagen kann, »historische
Individuen« (Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und
sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 31968, S.178.). Sie
wachsen aus vielen Elementen zusammen, bilden aber eine
organische Einheit, in der die verschiedenen Elemente durch
ihr Wirken miteinander verschränkt sind. In jedem Teil, so kann man
sagen, ist über diese Wirkverhältnisse das Ganze dieser Einheit
präsent. Daher kann man keinen Teil wegnehmen oder hinzufügen, ohne
diese Einheit zu verändern. Zugleich ist diese Einheit aber auch
eine dynamische Einheit, die sich selbst in den Prozessen
ihrer Realisierung – wie die Sprache im Reden und Schreiben, die
Kunst in der Schaffung und Erfassung von Kunstwerken usw. –
ständig entwickelt. Und schließlich ist zu sehen, dass diese
Einheit in ihrer Dynamik auf Fixierung aus ist, dass es eine
Dynamik ist, die die jeweilige kulturelle ›Realität‹ – mit ihren
Formeln und Kodizes – erzeugt: in immer neuen
›Definitionsversuchen‹ ihrer eigenen Identität. Ein historisches
Individuum kann sich einem anderen Individuum nur öffnen, wenn es
seine Individualität bewahrt. Nicht dadurch werden wir anderen
verständlich, dass wir im unbestimmten Allgemeinen bleiben, sondern
alleine dadurch, dass wir uns – und d. h. unsere Äußerungen –
zu einer bestimmten Besonderheit bringen, in eine individuelle
Form, die nicht bloß der Fall einer allgemeinen Formel ist.
These 14:
Wie die Entwicklung der Sprache in ihrem Gebrauch, so vollzieht
sich die Entwicklung einer Kultur in ihrer individuellen Aneignung
und Nutzung, vor allem dann, wenn diese Aneignung und Nutzung nicht
nur die Wiederholung von Formen und Formeln, sondern ein Akt der
schöpferischen Gestaltung ist. Die Kultur lebt in den Äußerungen
und Handlungen der Individuen, die ihr angehören. Und in diesen
Äußerungen und Handlungen muss auch die Öffnung gegenüber einer
anderen Kultur geschehen, wenn sie denn überhaupt geschehen soll.
Diese Öffnung ist selbst Teil eines Individuationsprozesses, in dem
die Individuen ihre geistige Individualität gewinnen. In diesem
Prozess werden die Elemente der fremden Kultur zu Momenten und
Impulsen der eigenen Individuation – und nur wenn sie das werden,
können sie in die Geschichte einer anderen Kultur, eines anderen
historischen Individuums hineinwachsen.
These 15:
Die Aufnahme fremder Kulturelemente in die eigene Kultur ist
daher nicht die bloße Übernahme dieser Elemente, so wie sie sich in
dieser fremden Kultur ausgebildet haben. Sie ist die Integration
eines Fremden durch dessen Umwandlung zu einem Impuls im Eigenen.
Und nur in dieser Umwandlung können das Fremde im Eigenen und das
Eigene mit dem Fremden lebendig bleiben. Aneignung heißt hier
schöpferische Verformung, heißt produktives Missverständnis und
darf nichts anderes heißen. Die Integration in die anderen Kontexte
einer anderen Kultur ist noch sensibler als die Transplantation
eines Organs in einen anderen Körper. Denn das Organ bleibt in
seiner physischen und funktionellen Identität erhalten. Das
kulturelle Moment aber kann in den neuen Kontexten neue Funktionen
übernehmen und – z. B. durch die Umgewichtung seiner
Bedeutungsakzente – eine andere Struktur gewinnen.
These 16:
Die Integration des Fremden im Eigenen ist nicht mehr nur eine
Frage der Lebendigkeit, sondern sie ist inzwischen auch eine Frage
des Überlebens, und zwar einer jeden Kultur, geworden. Denn das
internationale Geflecht politischer, rechtlicher, kommerzieller,
militärischer, technischer, wissenschaftlicher und anderer
Beziehungen setzt immer mehr und inzwischen fast alle Kulturen
einander aus – und dies nicht nur in einem Wettstreit der Ideen
und Werke, sondern auch in einem Kampf um Einflusssphären und
Märkte. Wo dieser Kampf verloren zu gehen droht, scheint nur das
ureigenste Moment der kollektiven Identität, die eigene Kultur,
noch Rückhalt und Macht zu versprechen. Aus dem Kampf um Macht und
Märkte kann dann in der Tat ein Kampf der Kulturen werden. Aber
auch die andere Möglichkeit zeigt sich: die Einebnung der Kulturen
unter der Dominanz einer minimalisierten Kultur mit maximaler
Verbreitungsmöglichkeit oder auch das direkte Versinken in eine
allgemeine Kulturlosigkeit. Mir scheint es kein abwegiger Gedanke
zu sein, dass die Weltgesellschaft in einem immer stärkeren Maße
das tun muss und auch tun wird, was innerhalb einzelner größerer
Gesellschaften und in der Beziehung kleinerer zu größeren
Gesellschaften schon immer getan wurde: Elemente fremder Kulturen
in die eigene Kultur aufnehmen, ohne dadurch die Individualität
dieser historischen Individuen zu zerstören.
Ich habe meine Bemerkungen damit begonnen, über kulturelle und
nationale Identität auf der einen, über persönliche und
individuelle Identität auf der anderen Seite zu reden. In meinen
Thesen habe ich von nationaler Identität nicht mehr gesprochen.
Gleichwohl bieten die Thesen einige Gründe an, auch die nationale
Identität in einer Weise zu verstehen, die die Integration des
Fremden im Eigenen nicht ausschließt. Denn auch hier kommt es
darauf an, dass die nationale Einheit nicht zur Präsentation von
Emblemen und Parolen und womöglich von Uniformen und Waffen
erstarrt und darin verkommt. Das ist aber nur dann möglich, wenn
die Nation sich nicht nur – und jedenfalls nicht aus ihrem
obersten Prinzip bzw. ihrer bestimmenden Idee – aus einer
territorialen oder biologischen Einheit definiert. Auch sie muss
sich geistig und kulturell verstehen, wenn sie eine
überindividuelle Einheit sein will, die das Leben in ihrem Rahmen
oder unter ihrem Anspruch lebendig, nämlich verstehend und tätig
gestaltend, hält und macht.
Der Begriff der Nation ist ein heikler Begriff. Er ist in der
Geschichte immer wieder zu einem Begriff der Machtdarstellung und
Kampfbereitschaft, vor allem aber zu einem Begriff gemacht worden,
der das Fremde abwehrt, bekämpft und vernichtet. Mit einem solchen
Begriff der Nation würde man womöglich eine nationale Identität
erreichen, die kulturelle Identität aber als eine lebendige Einheit
vernichten. Gerade in Deutschland gibt es hier eine wechselvolle
und im letzten Jahrhundert eine im wahren Sinne des Wortes
mörderische Geschichte. Wo im 19. Jahrhundert die Berufung auf die
Nation die Willkürherrschaft der Kleinstaaterei überwinden sollte,
hat sich im 20. Jahrhundert die Berufung auf dieselbe Nation mit
Großmannssucht und dann mit einem staatlich geschürten Hass auf das
Fremde vermischt. Wir haben es heute mit den Scherben aus beiden
Traditionen zu tun.
Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie die Vielfalt der
symbolischen Formen hervorhebt und für den eine kulturelle Einheit
immer nur als eine offene Einheit gegenüber anderen Kulturen und
symbolischen Welten existieren kann, hat 1916 gegen die Angriffe
Bruno Bauchs auf jüdische Philosophen für die Kant-Studien einen
Aufsatz Zum Begriff der Nation geschrieben, der im Begriff
der Nation und des Volkes die entscheidende geistige Perspektive
ausmacht, in der sich diese Angriffe ergeben konnten. Er spricht
dort von der »Grenze«, die »zwischen dem echten geistigen
Selbstbewusstsein eines Volkes und zwischen dem, was an seiner
Selbstschätzung zufällig und willkürlich bleibt«, liegt. Und er
fügt hinzu: »Dieser Unterschied wird verwischt, wenn man den echten
Begriff des Volkes nicht in seiner ideellen Aufgabe und Leistung
sucht, sondern ihn schon in der Bluts- und Rassengemeinschaft
erfüllt sieht. Die Sonne der Rassengemeinschaft leuchtet über
Weisen und Toren, über Gerechte und Ungerechte. Eine Norm aber
gewinnen wir erst, wenn wir das, was die einzelnen Völker in ihrer
Geschichte für sich erstrebt, was sie als Gebot und Forderung vor
sich hingestellt haben, vergleichen und wenn wir das Maß der
tatsächlichen Erfüllung dieser Forderung abschätzen. Auf solchen
Momenten beruht die ideale Continuität und der ideale Zusammenhang
jeder nationalen Geschichte.« Der Aufsatz wurde damals übrigens
nicht zum Druck angenommen. Er ist erst 1991 im Bulletin des Leo
Baeck Instituts veröffentlicht worden.
Und gerade dieses Faktum zeigt noch etwas. Ohne die Achtung von Grundrechten und einer darauf aufgebauten Rechtsgemeinschaft haben auch weiterführende oder visionäre Gedanken keine Chance, zur allgemeinen Kultur einer Gesellschaft zu gehören. Eine kulturelle Identität im Sinne einer geistig lebendigen Einheit kann sich nur entwickeln, wo eine Rechtsgemeinschaft ihr den Raum für diese Entwicklung freihält. Recht und Kultur sind nicht zu trennen. Und auch hier mag – aus seinem Aufsatz Vom Wesen und Werden des Naturrechts – ein Zitat des Kulturphilosophen Ernst Cassirers angeführt werden: »[D]as Neue, das Eigentümliche des Menschen besteht darin, dass er diesem Leben eine feste und dauernde Form gibt, dass es in der Idee des Rechts, als einer bindenden und verpflichtenden Norm, sich selbst objektiv und sich selbst bewusst macht.« (Zeitschrift für Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis. Leipzig 1932, Band 6, S. 22) Und weiter: »Die Fähigkeit, sich zum reinen Gedanken des Rechts und der rechtlichen Verbindlichkeit zu erheben, und die Fähigkeit, eine einmal eingegangene Verpflichtung um jeden Preis innezuhalten, bildet also den eigentlichen Ursprung und das Fundament jeder spezifisch-menschlichen Gemeinschaft.« (Ebd., S. 23) Diese Worte sind 1932 geschrieben worden. Sie gelten heute nicht weniger – und nicht weniger dringlich – als damals.