Ralf Grötker
Zugriff verweigert
Politik daheim mit ›Privacy‹

1.

Die Öffentlichkeit ist bedroht. Das ist keine Neuigkeit, und sie ist es auch nicht erst seit gestern. Sie ist bedroht durch private, wirtschaftliche Interessen, die vor allem die Öffentlichkeit der Medien als Ware begreifen und als solche mit ihr auch verfahren. Sie ist bedroht durch Tendenzen der Personalisierung und der Intimisierung, durch das Eindringen von Formen des Verhaltens und der Rhetorik, die den Übergang zur Sphäre des Privaten markieren. Diese Bedrohungen existieren, ungeachtet der jeweiligen historischen Konstellationen, zwangsläufig. Öffentlichkeit kann sich gar nicht anders herstellen, als dass sie sich abhebt von der Sphäre des Marktes auf der einen Seite und dem Bereich des Privatlebens auf der anderen. Erst in dieser Entgegensetzung vermag sie sich zu konstituieren. Öffentlichkeit, das ist ein gut gemeinter Versuch. Emotionen und personality aus, Aufklärung und Rationalität an. Die Interessen der Player aus Wirtschaft und Politik bei Seite, und schnurstracks aufs Gemeinwohl zu. Kann ein solcher Versuch glücken?

In den Diagnosen über den Verfall der Öffentlichkeit, wie sie in den soziologischen Analysen der letzten Jahrzehnte, in Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit und Richard Sennetts Verfall und Ende des öffentlichen Lebens vorgebracht wurden und wie sie noch in den jüngeren Debatten um das Medienspektakel Big Brother zum Ausdruck kommen, artikuliert sich nicht nur die Sorge über den weiteren Fortbestand der Öffentlichkeit. Die Idee der Öffentlichkeit, das zeigt sich in diesen Verfallszenarien, steht nicht nur für eine soziale Institution von begrenzter Lebensdauer, die das Produkt zufälliger historischer Zeitumstände ist, sondern zielt zugleich auf ein übergreifendes moralisches Prinzip – für das Prinzip der Moral schlechthin. Moralische Urteile, Urteile also, in denen sich ein Sollen artikuliert, das seine Kraft durch seinen inneren Sinn und nicht durch die Androhung von äußeren Sanktionen bezieht, dürfen nicht aus Eigeninteresse heraus getroffen werden. Persönliche Vorlieben und private Bindungen dürfen das Urteil nicht beeinflussen. Diese Punkte stehen auf der Checkliste, die Habermas und Sennett für die ›Öffentlichkeit‹ formulieren. Sie sind die Eckpfeiler aufgeklärten Moralverständnisses von Kant bis Rawls. Nach dieser Auffassung erfolgen moralische Urteile vom unparteiischen Standpunkt her. Deshalb sind sie verallgemeinerbar und universal oder, wie man auch sagen könnte, öffentlich gültig, denn sie verdanken ihre Autorität der Zustimmung einer – je nach Variante philosophischer Theorie – vorgestellten oder wirklichen Öffentlichkeit. Eine solcherart konstruierte Moral zeichnet sich dadurch aus, dass sie gerade dort noch wirksam ist, wo auf menschliche Regungen, wie etwa Mitleid, nicht mehr gerechnet werden kann. Moralische Achtung verdienen alle Menschen – nicht nur die, die wir mögen oder denen wir nahe stehen.

Die Idee einer solcherart moralisch aufgeladenen Öffentlichkeit bildet auch das Rückgrat eines liberalen Gesellschaftsbildes. Der Liberalismus geht davon aus, dass sinnvoll unterschieden werden kann zwischen (›privaten‹) Handlungen, die nur den Handelnden selbst betreffen, und (›öffentlichen‹) Handlungen, die auch andere betreffen. Privates soll der Autonomie des Einzelnen überlassen werden, Öffentliches soll durch die Öffentlichkeit selbst entschieden werden. Dieser Sachverhalt wird von liberalen Theoretikern oft als ein Dualismus von ›Perspektiven‹ beschrieben. »Man nimmt eine persönliche Perspektive«, schreibt etwa Ronald Dworkin in seinem Aufsatz Foundations of Liberal Equality, »wenn man Entscheidungen über das eigene Leben und Verhalten trifft – wenn man entscheidet, was für einen Beruf man ergreift, wen man heiratet, oder welche Hilfe man einem Kollegen schuldet. (...) Liberale verlangen von uns, dass wir eine andere, eine politische Perspektive, einnehmen, wenn wir zur Wahl gehen oder uns einer Lobby einschließen – in Situationen, wo wir hoffen, einen Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, die von der politischen Gemeinschaft kollektiv entschieden und umgesetzt werden.«

Aus liberaler Sicht gibt es genau zwei Möglichkeiten, um den Geltungsanspruch oder die Autorität festzulegen, die mit einer Forderung oder Entscheidung einhergeht. ›Privat‹ und ›öffentlich‹ – das sind die Etiketten, die für die beiden Optionen stehen. Diese Sicht der Dinge ist mitunter ziemlich unbefriedigend. Anstatt sie mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, sollten wir uns fragen, ob nicht die ›Bedrohungen‹ des Systems Öffentlichkeit, die allenthalben ins Feld geführt werden, zuweilen auch zu begrüßen sind.

2.

Ich möchte mich auf einen speziellen Fall einer solchen Bedrohung konzentrieren. Diese Bedrohung erwächst der Öffentlichkeit aus eben den Ansprüchen auf Autonomie und Selbstbestimmtheit, die zu ermöglichen und zu schützen das liberale Gesellschaftsmodell, dem die Institution ›Öffentlichkeit‹ verpflichtet ist, erst ins Leben gerufen wurde. Zum Ausdruck kommen diese Ansprüche auf Autonomie und Selbstbestimmtheit in dem Verlangen nach Privacy. Privacy transzendiert den Bezugsrahmen des Systems Öffentlichkeit. Darin, das ist zumindest die These, die hier entwickelt werden soll, liegt ein wesentlicher Aspekt der Attraktivität dieser Form politischen Engagements.

Privacy ist mehr als Datenschutz und ›informationelle Selbstbestimmung‹. »Privacy is the power to selectively reveal oneself to the world«, heisst es in Eric Hughes Cypherpunk’s Manifesto im Internet. Privacy steht für Zugangsverweigerung und Zugangskontrolle – Kontrolle des ›Zugangs‹ zur Person: ›access‹. Internationale Bürgerrechtsvereinigungen wie Privacy International oder das Electronic Privacy Information Center setzen sich dafür ein, dass die Kontrolle über diesen Zugang in der Hand des Einzelnen verbleibt. Sie ziehen vor die Gerichte – gegen Videoüberwachung, gegen das ›Profiling‹ von Flugpassagieren, den Handel mit Konsumentendaten, das Protokollieren der Bewegungen von Internet-Surfern oder das Abhören von Telefonaten und das Filtern von Email-Kommunikation durch staatliche Sicherheitskräfte.

Dass die Interessen der Öffentlichkeit durch die Forderungen nach Privacy bedroht sein könnten, versteht sich vermutlich nicht von selbst. Dazu ist die Sache längst viel zu gut etabliert. Tatsächlich aber ist die Forderung nach dem Schutz von ›Privatheit‹ zunächst einmal nichts weiter als der Ausdruck eines ins Kollektiv gesteigerten Eigeninteresses. »Je besser ich kontrollieren kann, welche Informationen über mich verfügbar sind«, schreibt der Wirtschaftstheoretiker David Friedmann, »desto besser stehe ich da – auf Kosten anderer Leute. Und je besser diese kontrollieren können, welche Informationen über mich verfügbar sind, um so besser stehen sie da – auf meine Kosten. Daraus wird jedoch nicht ersichtlich, warum Rechte zum Schutz des Privaten insgesamt betrachtet von Vorteil sind.« Nur dann, wenn die Regeln des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre im öffentlichen, im gemeinsamen Interesse aller sind, nur dann, wenn der Schutz des Privaten auch der allgemeinen Wohlfahrt dient, scheint dieser vom moralischen Standpunkt akzeptabel zu sein.

Viele derjenigen, die, der Sache nach, Privacy befürworten, schließen sich diesem Standpunkt an. Deshalb versuchen sie zu zeigen, inwiefern der Schutz des Privaten auch öffentlich von Nutzen ist. Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, hat in ihren Reden, in denen sie auf die Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001 reagierte, verschiedentlich versucht, jener Forderung gerecht zu werden. »Der Respekt der Freiheitsrechte«, so konstatiert Limbach ganz allgemein, »schützt nicht nur uns alle vor den Vor- und Fehlurteilen der Sicherheitsbehörden. Dieser Respekt pflegt vor allem den Humos, auf dem der demokratische Prozess gedeiht.« Und weiter: »Wer damit rechnet, dass zum Beispiel die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten.« Das Argument ist bekannt: es findet sich in ähnlicher Form im Text des Volkszählungsurteils von 1983 und muss auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen jener Zeit verstanden werden. Heute haben vielleicht Überlegungen größere Überzeugungskraft, die von weniger konkreten Bedrohungsszenarien ausgehen. Indem der Staat sich »präsentiert als einer, der unbegrenzten Zugriff auf seine Bürger und Bürgerinnen haben kann und will«, so fasst es die Philosophin Beate Rössler, handelt er seinem eigenen strategischen Interesse zuwider: »Gerade der demokratische Rechtsstaat kann nur mit und von Personen leben, die ihrer eigenen individuellen Privatheit und Autonomie einen sehr hohen Stellenwert zubilligen.«

Die Sache ist klar: eine Demokratie braucht Meinungsfreiheit. Davon abgesehen, verlöre das Modell einer liberalen Gesellschaft jeglichen Sinn, entschlösse man sich, die Werte von Privatheit und Autonomie nicht weiter aufrecht zu erhalten – ist doch der liberale Gesellschaftsentwurf geradezu funktional auf das Private bezogen. Gerade weil Privates der Autonomie des Einzelnen überlassen werden soll, ist die Achse der begrifflichen Unterscheidung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ für den Liberalismus so zentral.

Die liberale Gesellschaft, der demokratische Rechtsstaat – sie sind angewiesen auf einen gewissen Schutz und eine gewisse Achtung privater Entscheidungsmacht.

3.

Privacy dient dem öffentlichen Wohl – bis zu einem gewissen Grade. Folgt man der angebotenen Rechtfertigungsstrategie, dann stellt sich die Abwägung zwischen stärkeren und schwächeren Regeln zum Schutz des Privaten als eine Entscheidung zwischen verschiedenen Hypothesen darüber dar, mit welcher Politik der insgesamt größtmögliche öffentliche Nutzen, der größtmögliche Vorteil für das Gesellschaftssystem erzielt werden kann. Aber ist dies eine sinnvolle Explikation des Geltungsanspruches von politischen Stellungnahmen: von Forderungen, Befürchtungen und Vorbehalten? Verstehen wir uns wirklich in erster Linie als Optimierer des Allgemeinwohls?

Die Rahmenbedingungen der Liberalismus lassen uns kaum eine andere Wahl. Entweder es gilt die Einschätzung des relativen Stellenwertes von ›Privatheit‹ als eine jener Angelegenheiten, die als ›privat‹ zu bezeichnen sind, und die folglich jeder für sich selbst regeln kann und muss, ohne dass seine Entscheidungen vor dem Tribunal einer größeren Öffentlichkeit Bestand haben müssen. Oder sie gehört zu den Dingen, die ›öffentlich‹ sind und die auch durch die Öffentlichkeit selbst entschieden werden müssen. Bei der Frage, welcher Stellenwert der Privatheit im Vergleich zu anderen Gütern beizumessen ist, kann es sich ganz offenbar nicht um eine jener ›rein privaten‹ Angelegenheiten handeln – ganz allein deshalb, weil niemand ganz für sich allein entscheiden kann, wie stark er seine Privatsphäre schützen will. Ohne die entsprechenden technischen und rechtlichen Mittel, die ihm zur Seite stehen, sind die Möglichkeiten des Einzelnen, den ›Zugang‹ zu seiner Person zu kontrollieren, recht beschränkt. Wenn nun jedoch die Frage nach dem Schutz von Privacy als öffentliche Angelegenheit aufgefasst wird, müssen Antworten auf diese Frage gewissen – wissenschaftlichen oder demokratischen – Standards öffentlicher Beweisführung und Entscheidungsfindung gerecht werden.

Die Forderung nach dem Schutz der Privatheit müsste demnach verstanden werden als ein Akt des Partei-Ergreifens für ein bestimmtes Hypothesengeflecht, das eine Verbindung herstellt zwischen einem Regulierungsmodell auf der einen Seite und einer Konzeption des öffentlichen Wohls oder des guten Lebens auf der anderen. Dazwischen befindet sich ein Gemenge aus Kausalbeziehungen und Werturteilen. Ein Beispiel: Einer der aktuellen Streitpunkte ist die Frage, inwiefern Daten aus Gentests – und andere Gesundheitsdaten – ›privat‹ gehalten und gesetzlich vor dem Zugriff durch Versicherer und Arbeitgeber geschützt werden sollen. Von der Seite der Datenschützer, aber auch in den Erklärungen der Regierungsparteien, heißt es, dass einer zu befürchtenden Diskriminierung von genetisch oder gesundheitlich schlechter Gestellten mit den Mitteln einer strikten Privacy-Politik entgegen gewirkt werden soll. Gesundheitsökonomen und Versicherungsmathematiker bezweifeln das. Die Verteilung von Gesundheitsresourcen, glauben sie, könnte – zum Nutzen aller – wesentlich verbessert werden, wenn man sich dazu entschlösse, den ›gläsernen Patienten‹ Wirklichkeit werden zu lassen und die Informationsbarrieren zwischen Patient, Arzt, kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkasse beseitigte.

Wovon hängt es ab, auf welche der beiden Seiten man sich stellt? Zunächst einmal unterscheiden sich die beiden Standpunkte durch die Annahme unterschiedlicher kausaler Hypothesen. Die eine Seite behauptet, dass das Öffentlich-Werden von Patientendaten zu Diskriminierungseffekten führen wird, und schlägt vor, diesem Effekt mit Regulationen des Datenschutzes entgegenzusteuern. Die Gegenseite glaubt, dass genau dies nicht möglich sein wird. Ihrer Meinung wird sich die Wirkung marktwirtschaftlicher Kausalitäten so entfalten, dass ein Modell weniger strikterer Regulierung für alle – auch für die schlechter Gestellten – vorteilhafter ist als ein Modell strikter Regulierung. Darüber hinaus gibt es konkurrierende Standpunkte, was den relativen Wert der Privatheit betrifft: Ist Gesundheit wichtiger als Privatheit oder weniger wichtig? Welche Rolle spielt Privatheit für das gute Leben oder die ›Lebensqualität‹?

Es gibt einen ganze Reihe von Theorien, die sich mit dieser Frage befassen. Verhaltensforscher etwa greifen zu der Analogie, dass so wie die Tiere einen Territorialinstinkt haben, auch den Menschen der Wunsch nach einer gewissen ›Minimaldistanz‹ kennzeichnet. Aus soziologischer Sicht wird dieser Ansatz durch die Mit-Berücksichtigung der Lebensumstände der modernen Welt ergänzt. Schon 1890 stellten die amerikanischen Rechtsgelehrten Samuel Warren und Louis Brandeis fest, dass »die Intensität und Komplexität des Lebens, die mit der voranschreitenden Zivilisation« einhergehe, nach einer »Rückzugsmöglichkeit von der Welt« verlange. Und aus philosophischer Sicht bleibt zu klären, inwiefern der Anspruch auf Privacy bereits im Freiheitsgedanken des Liberalismus implizit enthalten ist. Aber, noch einmal: Sind es wirklich Theorien dieser Art, auf deren Seite sich jemand stellt, der für ein ›Recht auf Privatheit‹ eintritt?

4.

Privacy-Aktivisten setzen sich dafür ein, dass das Thema ›Privatheit‹ auf die öffentliche Agenda gesetzt wird. Gleichzeitig fordern sie, dass der Verfügungsbereich des ›Privaten‹ dem Einzelnen an einigen Punkten größere Kontrollmöglichkeiten gewährt, als es in der aktuellen Situation der Fall ist. All dies sind Züge, die entlang der begrifflichen Unterscheidung zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ verlaufen und somit Teil des ganz gewöhnlichen diskursiven Spiels einer liberalen Öffentlichkeit sind. Das ist jedoch nicht alles. Indem der ›Zugriffsverweigerer‹, der auf der Souveränität über ›seine‹ Daten beharrt, den Anspruch erhebt, die Kontrolle über die Informationen zu seiner Person sei ›seine Privatsache‹, bewegt er sich zwar im Feld des ›Privaten‹, befleißigt sich aber zugleich einer politische Aktion – ganz ähnlich, wie in der Gender- und Identitätspolitik private Entscheidungen wie etwa das Rollenverhalten in der Familie oder die sexuelle Orientierung zum Politikum gemacht werden. ›Private‹ Entscheidungen, Entscheidungen, die ihrem Selbstverständnis nach keiner Legitimationsbasis in der Anerkennung durch eine breitere Öffentlichkeit bedürfen, werden somit aufgeladen mit ›öffentlicher‹ Bedeutung. Der Zugriffsverweigerer tritt aus dem Rahmen, den die Entscheidung zwischen ›privaten‹ und ›öffentlichen‹ Entscheidungen für ihn bereit hält, heraus.

Nicht unbedingt weil er, mehr als andere Menschen, eine Neigung hat, Informationen über seine Person geheim zu halten, beruft sich der Zugriffsverweigerer auf Privacy und Autonomie – sondern er tut dies, umgekehrt, um sich für die abstrakte Sache der Selbstbestimmung stark zu machen. Man muss sich diesen Punkt sehr deutlich vor Augen führen. Die Rede von ›Selbstbestimmung‹ und ›Autonomie‹ ist alles andere als bloß ein Versuch, sich die konkreten Ängste von Menschen, die darüber besorgt sind, dass sie und ihre Daten überwacht werden, im Kontext eines philosophischen oder verfassungsrechtlichen Jargons zu rekapitulieren und zu legitimieren. Es verhält sich genau umgekehrt. Nur dann, wenn die Bezugnahme auf die abstrakte Idee der Selbstbestimmung in die individuellen Beweggründe einfließt, bekommen diese Gewicht und Bedeutung. Allein die pragmatische Aussicht auf persönliche Nachteile und Unbequemlichkeiten, die demjenigen entstehen, der seine persönlichen Daten an der Kaufhauskasse via Pay-Back Kundenkarte gegen Rabatte eintauscht oder der sich von Akteuren der Inneren Sicherheit kontrolliert weiß, vermag deshalb auch nur sehr wenige Menschen zu einer Haltung der Verweigerung oder des Protestes bewegen.

Es hängt also viel davon ab, Privacy zu einem Politikum zu machen – und das heißt, den jeweils konkreten Akt der Video-Kontrolle, des Daten-Screenings und dergleichen, als Instanz einer allgemeinen Bedrohung von Selbstbestimmtheit wahrzunehmen. Wer sich für Privacy stark macht, erhebt nicht nur einen Geltungsanspruch auf ein Hypothesengeflecht. Er übernimmt nicht nur die Beweislast für die Behauptung, dass dieses oder jenes konkrete Geschehen tatsächlich sinnvoll als eine Bedrohung privater Autonomie interpretiert werden kann (denn der Beliebigkeit, mit der solche Behauptungen vertreten werden können, sind doch Grenzen gesteckt). Vielmehr trägt er den Begründungszusammenhang, der das Private zurückbindet an die Grundsätze der liberalen Demokratie, in die Wahrnehmung der Situation hinein und ›sieht‹ in einem Datentransfer oder einer Beobachtungskonstellation einen Akt der Autonomieverletzung – so wie manche Zeichnungen einen dazu anleiten, eine Karikatur in einer bestimmten Person zu sehen.

Dass man sich auf allgemeine Prinzipien beruft, um private Entscheidungen zu einem Politikum zu machen, geschieht, wie gesagt, genauso wie in der Privacy-Bewegung in der Gender- und Identitätspolitik. Private Entscheidungen wie das Rollenverhalten in der Familie oder die sexuelle Orientierung , werden auch hier zu einer Angelegenheit, die in den Augen der Betreffenden im Lichte einer politischen Öffentlichkeit stehen – selbst dann, wenn diese Entscheidungen vollkommen im Privaten verbleiben. Forderungen dieser Art, die sich auf Autonomie beziehen, haben meist die Struktur einer Forderung nach ›Autonomie-für‹. Es geht um Selbstbestimmung und Autonomie für die Bewohner einer bestimmten Provinz, für Menschen mit einer bestimmten sexuellen Orientierung, für Gläubige, die nach außergewöhnlichen religiösen Pflichten leben, oder für Leute, die exzentrischen Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Privacy unterscheidet sich von all diesen Bestrebungen. Denn es ist einfach nicht plausibel, davon auszugehen, dass verschlüsselte Kommunikation oder Kundenanonymität für die Betreffenden den gleichen Stellenwert besitzen wie die Autonomie des eigenen Volkes, die Freiheit, nach den Regeln einer selbsterwählten Religion zu leben oder die Möglichkeit, einen bi-, homo- oder transsexuellen Lebensentwurf ungehindert praktizieren zu können. Bei Privacy geht es nicht um die Verwirklichung dieses oder jenes Lebensentwurfes, sondern in erster Linie um das formale Prinzip der Autonomie.

Die Berufung auf Selbstbestimmung ist die Trumpfkarte innerhalb des liberalen Systems – ein Truism. Es lässt sich nämlich schlechterdings, unter den Voraussetzungen einer liberalen Gesellschaft, nicht darüber streiten, ob Selbstbestimmung eine ›private‹ oder eine ›öffentliche‹ Angelegenheit ist. Wohl sind die Grenzen dessen, was der Einzelne selbstbestimmt entscheiden soll und darf, Gegenstand öffentlicher Debatten und Entscheidungen. Selbstbestimmung selbst kann aber nicht anders als ›privat‹ verwirklicht werden.

Was die Forderung nach Selbstbestimmung, die durch den Anspruch auf Privacy artikuliert wird, zudem zu einer so attraktiven Form politischen Engagements macht, ist die Wirksamkeit, mit der sie eingeklagt werden kann. Wer sich für den Umweltschutz, für die Menschenrechte, die Dritte Welt, gegen Kinderarbeit einsetzt, kann niemals den Erfolg seiner Bemühungen abschätzen. Wer fair gehandelten Kaffee oder einen Teppich mit dem ›Rugmark-Logo‹ kauft, muss sich mit der Gewissheit zufrieden geben, nicht sehr viel mehr zu tun, als das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. Wer eine Eingabe beim Datenschutzbeauftragten tätigt oder seine Emails aufwändig verschlüsselt, erzielt damit einen ungleich größeren Erfolg: Ihm ist es gelungen, die Selbstbestimmtheit jener einen Person zu schützen, die er überhaupt nur wirklich effektiv, und ohne der Selbstbestimmung anderer vorzugreifen, schützen kann: sich selbst.

Die persönliche Verbindung zu dem politischen Ziel, dem man sich verschrieben hat, rückt so auf eine Weise in den Vordergrund, wie dies nach der Doktrin der Moral des öffentlichen oder unparteiischen Standpunktes niemals der Fall sein dürfte. Denn dieser Standpunkt ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass für denjenigen, der ihn einnimmt, persönliche Vorteile ebenso wenig zählen wie zufällige persönliche Eigenschaften. Wer – mit Rawls’ Metapher – hinter einem ›Schleier des Nichtwissens‹ steht, ist zwar aufgefordert, seine Vorschläge zur Gestaltung einer idealen Gesellschaft zu äußern, aber er weiß nicht, welchen Platz er selbst in dieser Gesellschaft einnehmen wird. Sein Urteil steht in keiner irgendwie gearteten persönlichen Beziehung zu ihm selbst.

Man könnte sicherlich sagen – und Liberale müssten dies tun – dass ein Engagement für Selbstbestimmtheit und Autonomie, welches sich nicht zugleich als ein Unternehmen zur Förderung des öffentlichen Wohls versteht, bloß ein Ausdruck partikularer Interessen ist. Wer sich einem solchen Engagement verpflichtet, der leistet der Aufforderung des Liberalen schlicht keine Folge – der Aufforderung, eine andere Perspektive als die private Perspektive einzunehmen, in Situationen, wo man hofft, einen Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, die von der politischen Gemeinschaft kollektiv entschieden und umgesetzt werden. Sollten wir ein solches Engagement deshalb kritisieren?

Ein wenig hat das Eintreten für Privacy, das sich in expliziten Forderungen ebenso artikuliert wie in vagen Befürchtungen vor der ›Überwachungsgesellschaft‹, etwas von der Position des Klassenkampfes. Ähnlich wie dieser sich bewusst parteiisch gab und den Moralismus des ›Gemeinwohls‹ als Ideologie abtat, steht auch Privacy für das partikulare Interesse. Es ist aber nicht der Standpunkt einer Klasse, sondern der des Konsumenten, Bürgers oder Menschen, dessen Interessen hier gegen die Industrie, den Staat und die Technologie in Stellung gebracht werden. Gleichzeitig ist Privacy der Versuch einer Grenzüberschreitung – selbst wenn diese auf so begrenztem und so eng umrissenen Terrain stattfindet wie sonst nur das ästhetische Spiel mit revolutionärer Rhetorik im Kino, in der Literatur und im Theater, das man in den letzten Jahren erleben konnte, angefangen von den unzähligen neueren Filmen und Büchern, die sich mit der RAF und ihren Protagonisten beschäftigten, über Slavoj Zizeks Versuch einer Lenin-Reanimation (Die Revolution steht bevor, 2002) bis zu Veranstaltungen wie Die Kraft der Negation an der Berliner Volksbühne.

Die Grenze, um deren Übertretung es sich handelt, ist der fixe Rahmen der liberalen Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten – zwischen den Dingen von politischer, öffentlicher Bedeutung auf der einen und den Angelegenheiten von Produktauswahl, persönlichen Beziehungen und Lifestyle auf der anderen Seite. Auch wenn eine liberale Öffentlichkeit Ansprüche auf Privatheit anerkennt, ist diese Anerkennung für Privacy nicht die einzige Quelle normativer Legitimität. Privacy ist mehr als eine Wette darauf, dass ein favorisiertes Hypothesengeflecht in der Realität Entsprechung findet und die Rechnung zwischen Privatheit und öffentlichem Wohl aufgeht. Privacy verschafft einer Forderung öffentliche Geltung, die ihren Legitimationsgrund in der Selbstbestimmtheit, der Autonomie des Einzelnen hat.

In dem Ideal einer ›reinen‹ Öffentlichkeit, in der private Interessen und persönliche Neigungen keine andere Rolle spielen können als die einer Bedrohung, haben solche Forderungen keinen Platz. Emotionen und personality aus, Aufklärung und Rationalität an.Die Interessen der Player aus Wirtschaft und Politik bei Seite, und schnurstracks aufs Gemeinwohl zu – das klappt nicht einmal im Modellversuch reibungslos.