Dieter Mersch
Körper/Spiegel Bilder
Imagines des öffentlichen Selbst

Beneide sie nicht
Deine effizienten Nachfahren,
jene genoptimierten Superenkel,
denen aus allen Poren Vollkommenheit strahlt.
Ihr Schicksal wird die Langeweile sein,
die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten.
Durs Grünbein

Öffentlichkeit und Intimität

Der Begriff der Individualität berührt unterschiedliche gesellschaftliche Felder, an deren Kreuzungspunkt er sich konstituiert. Dazu gehören rechtliche, ökonomische, aber auch ästhetische und diskursive Bedingungen. Als einer der mächtigsten Taktgeber der Selbsterfindung des Menschen als Individuum im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts fungierte allerdings die Ästhetik. Sie operierte an der Grenze zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, insofern sie es mit jenem Einzigartigen zu tun hatte, das zugleich für sich einen Allgemeinheitsanspruch erhebt. Kunst ist das Werk eines Schöpfers, der im gleichen Maße Schöpfer seiner selbst wird, indem er ein Werk hervorbringt, dem er das Siegel seiner unverwechselbaren Originalität aufprägt und dadurch eine Gestalt verleiht. Der Begriff der Individualität erfährt darin sein besonderes Pathos. Essentiell weist er auf Singularität. Doch erweist sich das In-Dividuum dergestalt als ein Nicht-Teilbares, das sich gleichzeitig durch eine Reihe ursprünglicher Teilungen erzeugt. Einerseits gelingt diese Selbsterzeugung durch die Behauptung einer diskursiven Allgemeinheit, die es sich selbst zuschreibt, andererseits durch die Abgrenzung gegen anderes, von dem es sich abhebt – nicht nur von anderen Individuen, sondern von Anderem überhaupt, vom Gesellschaftlichen wie der Zivilisation oder Natur. Seine diskursive Universalität meint dabei seine Vernunftfähigkeit, wodurch jeder prinzipiell als der gleiche ausgewiesen ist und für sich gleiches Recht reklamiert: Sie formuliert zugleich das Format des Humanum, das die Semantik der Individualität seit der Aufklärung durchzieht und den Menschen als Vernunftwesen auszeichnet. Seine Abgrenzung gegen anderes wiederum begründet sich aus der Figur des Selbstbesitzes, die in einer Eigentumslogik verankert ist, die ihre Rechtfertigung aus einer Reihe von Differenzen bezieht, die sämtlich um die Begriffe der Autonomie, der Freiheit und der Selbstbestimmung kreisen. Zu ihren zentralen Unterscheidungen gehört die Distinktion zwischen Öffentlichkeit und Privatheit.

Ihr Antagonismus bestimmt das Verhältnis des Individuums zum sozialen Raum. Die Intimität der Person im Sinne eines Selbstbesitzes war gegen das Allgemeine, das Öffentliche und damit Soziale geschützt. Recht und Gesetz umgrenzten vor allem die letztere Sphäre, unterwarfen sie der Ordnung einer Macht, worin die Freiheiten weniger gebändigt und geregelt als allererst gebildet wurden. Dagegen hielt sich ein fiktionaler Raum, der scheinbar der Observation der Macht entzogen, jedoch insofern fiktional blieb, als er den Ort oder die Folie des Privaten abgab, das sich selbst allererst im Unterschied zum Öffentlichen und in Opposition zu dessen Institutionen und Gesetzen erfand. Nicht minder der Beobachtung durch die Macht ausgesetzt, blieb es deren andere Seite und Entsprechung: ein durch die Macht gleichermaßen bewachter wie entzogener Bereich. Seine Ausnahme wurde, gegen die Sphäre der Öffentlichkeit, durch rigorose, aber nirgends kodifizierte Barrieren gesichert und aufrechterhalten. Auf die Person bezogen hatten diese den Charakter von Tabus. Betrafen sie die Kluft zwischen Innen und Außen, waren sie zugleich mit der Schwelle des Hauses assoziiert, zu deren Schutzraum eine Reihe hart erkämpfter ›Geheimnisfreiheiten‹ wie das Brief- und Bettgeheimnis oder die ärztliche und geistliche Schweigepflicht zählten, deren Schauplätze gleichwohl aber mannigfache Abgründe bereithielten, in die zu dringen die Brechung eines Sakrilegs bedeuten konnte. Jemandem zu nahe zu treten, bezeichnete eine Formulierung, die nicht nur die Grenze zum gesellschaftlichen und politischen Sein markierte, sondern auch die Grenze der Subjekte zueinander, ihre Demarkation, wie sie sich in den Gefühlen des Takts, der Scham und der Unverletzlichkeit der Körper ausdrückte und denen, stärker noch als alle juristischen Unterscheidungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, der Begriff der Intimität entsprach.

Obwohl vielfältigen Einschränkungen und Zurichtungen ausgesetzt, wie sie Norbert Elias und Hans Peter Dürr rekonstruiert haben, beinhaltete das Intime in erster Linie das ebenso Vertraute wie Verhüllte oder Verborgene, das von Anfang an mit dem Körper verbunden war und mit Sexualität konnotiert wurde. Spätestens seit Freuds unzähligen wissenschaftlichen und philosophischen Diskursen ausgesetzt, wurde es, wie Michel Foucault gezeigt hat, Gegenstand eines Wissens, das es nachhaltig in die Öffentlichkeit zerrte, um es zum Objekt gleichermaßen exhibitionistischer wie voyeuristischer Zurschaustellungen zu machen. Seither hat sich die Grenzlinie zwischen dem Öffentlichen und Privaten immer weiter verwischt. Hatte der historische Prozess die Person und ihre Intimität in dem Maße, wie er sie erzeugte, mit Maßnahmen ihrer Kontrolle und Disziplinierung versehen und damit einzuhegen und zu versiegeln versucht, zogen sie die Regime der Wissenschaften erneut ans Licht und machten somit sichtbar, was sich der allgemeinen Sicht versperrte. Die totale Mobilisierung des medialen Auges hat ihr übriges hinzugefügt und die Ausleuchtungen gleichzeitig forciert und popularisiert. Kein Diskurs, der heute nicht die geheimsten Wünsche von Männern und Frauen ausforschen oder ihre Triebregungen am erhöhten Pulsschlag oder an Hautabsonderungen bemessen würde, der nicht die Entstellungen der Körper zählen und begradigen wollte, keine Zeitschrift, die nicht bereitwillig die Beichte Prominenter oder Jugendlicher veröffentlichte, und keine Sendung, die nicht die ausgefallensten Vorlieben oder Perversionen thematisierte wie befriedigte. Die Markierungen zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen haben sich auf diese Weise nicht nur verschoben, sondern überhaupt entgrenzt: Was einst seine Bedeutung aus der Trennschärfe, dem Gegensatz zum jeweils anderen bezog, scheint auf diese Weise jede Funktion eingebüßt zu haben.

Die Entgrenzung zeichnet sich dabei auf doppelte Weise ab: Einmal als Ausweitung des privaten Raums in den öffentlichen durch seine Verwendung als Schauplatz, auf der sich die einzelnen preisgeben, sei es in Form eines reizlosen Erotismus der Körpers, des inszenierten Bekenntnisses oder der mobilen Kommunikation an jedem beliebigen Ort oder Platz der Öffentlichkeit, zum anderen aber durch die umgekehrte Bewegung, die Verlegung des Öffentlichen in die Sphäre des vormals Privaten, wozu die tägliche Berichterstattung des Fernsehens in den Wohnzimmern ebenso gehört wie die Chatrooms des Internets, die einer virtuellen Agora gleichen, auf denen sich zu jeder Zeit jedermann begegnen kann – worin die Akteure freilich ganz anders ›im Spiel‹ sind als in der Öffentlichkeit, insofern sie ihre körperlosen Kontakte mit den Schatten der Anonymität und der Einsamkeit bezahlen. Wir haben es folglich mit einer gegenseitigen Durchdringung zu tun, die beide einstmals getrennten Regionen aufeinander bezieht und darin gegeneinander unkenntlich werden lässt. Das hat Folgen für die Subjekte selber. Denn die Rückseite der Entwicklung, ihr buchstäblicher Ab-Grund ist die Erosion ihrer Identität. Nicht länger findet sie ihre Kontur im Schnitt, in der Differenz, die das Innere vom Äußeren abschirmte, vielmehr gibt es nur mehr das Äußere, die Bühne, die Szenarien der Selbstdarstellung. Sie zwingen die einzelnen ins Bildliche. In diesen Imagines des öffentlichen Selbst, die nirgends ihren Halt im Handeln oder dem, als was sich die Subjekte verstehen, haben, ist zugleich der Widerspruch eingefangen, dass zwar die Kraft der Individualität, der einmal mit ihr verbundene Autonomie- und Selbstbehauptungsanspruch sich fortschreitend auflöst, dass gleichwohl aber soziologisch weiterhin von einer gesteigerten Individualisierung gesprochen werden kann. Diese trifft weder die Individualität noch das Individuum, sondern seine Streuung, seine Fragmentierung, die der Konstruktion der Bilder konform geht.

Bild und Selbst

Bis ins späte 19. Jahrhundert war der Ort des Individuums die Person, und seine Bestimmung an Prinzipien der Souveränität, der Freiheit und Selbstbestimmung gebunden, deren Geschichte ein fortgesetztes Werden beinhaltete, das durch Erinnerung zusammengehalten wurde. Identität bezeichnete deren Funktion. Sie war das Produkt einer kohärenten Narration, wodurch sich die Subjekte ebenso stilisierten wie nachträglich konstruierten. Jedoch zunehmend von Brüchen und Vergeblichkeiten heimgesucht, wovon die Zeichnungen, Risse und Beschädigungen moderner Subjektivität zeugen, bilden ihre Male Symptome einer Krise, wie sie durch die Diagnose vom »Verschwinden des Subjekts« markiert ist, die Foucault ans Ende seiner Reise durch die Geschichte der Episteme platzierte, die zugleich die Schwelle zum 20. Jahrhundert berührt. Verdankte sich dabei das Selbstverständnis des klassischen Individuums einer reflektierten Selbstsetzung, entspringt der Prozess der ›Individualisierung‹, der bereits eine Schwundstufe beschreibt, einer Visualität, worin der Ausdruck vom ›Selbst-Bild‹ seine inszenatorische Realisierung findet. Das moderne Subjekt ist vor allem eine ›Bildgestalt‹. Ihm ist das Spiel seiner Sichtbarkeit wesentlich. Sichtbarkeit betrifft hier nicht den Blick, sondern die Wahrnehmung im weitesten Sinne des Da-Seins, der auffälligen Anwesenheit, des Spektakels. Das dabei das Sehen, die ›Schau‹ eine prominente Rolle spielt, liegt auf der Hand. Dazu gehört auch der Zusammenhang von Darstellung, Medialität und Performanz, der die Subjekte von vornherein als Teil einer Medienkultur ausweist. Liegt in der theatralen Evidenz ihres ›Schauspiels‹ die Überzeugungskraft des soziologischen Rollenkonzepts, wie es Erwin Goffman entwarf, entlehnt sich allerdings seine Metapher immer noch einer Vorstellung vom Theater, die den Selbstentwurf ans Narrativ bindet: Das öffentliche Selbst erfindet sich als seine eigene Dramatisierung, als Text und Regie in einem. Die Beschreibung wiederholt damit den Vorrang des Textes, der in seiner strukturalen Ordnung das Postulat der Kohärenz wahrt und damit verfehlt, was die Titel der Inszenierung und der Visibilität aufzuweisen suchen: die Herrschaft der Effekte. Nicht die Rolle wäre dann entscheidend, sondern die Erzeugung von Wirkungen, wie sie durch Bilder evoziert werden. Ihnen korrespondiert ein okkasionelles Repertoire wechselnder ›Auftritte‹, wie sie Situationen angemessen scheinen. Das bedeutet auch: Nicht die Selbst-Behauptung entscheidet, sondern die Szene und ihre Anschauungen.

Wenn vom Theater und einer theatralen Praktik der Persönlichkeit die Rede ist, wäre deshalb weit eher auf den ursprünglichen Sinn des Theatralen als Aufführung oder Zurschaustellung zu achten. Der Vorrang der Bildlichkeit in der Konstitution der Subjekte ist in dieser Hinsicht zu verstehen: Bilder sind in erster Linie aufs Zeigen bedacht. Ihnen eignet ein präsentischer Status, wie Susanne K. Langer herausgestellt hat. Zugleich figurieren sie im Szenischen als Medien eines ›Settings‹, eines Arrangements von Assoziationen. Sie erzeugen und multiplizieren Analogien. Dabei genügt das Zeigen einer anderen Logik als der Diskurs, die Erzählung oder die Selbstbeschreibung: Es stiftet andere Zusammenhänge und Bezüge, bezieht seine Mächtigkeit aus seiner direkten, zunächst nur die Wahrnehmung ansprechenden Wirksamkeit. Insbesondere duldet es keine Verneinung, keine Reflexion, die von sich zurückträte und sich als anderes thematisierte oder von anderem abgrenzte. Vielmehr kommt dem Zeigen ein genuin affirmativer Charakter zu: Bilder stellen sich aus, führen vor, ohne sich zurückzunehmen. Was ins Bild gesetzt ist, ist da, hält sich uneingeschränkt im Modus von Präsenz und Präsens, drängt sich auf. Folglich verharrt die Identität als Bild in der Evidenz einer Gegenwärtigkeit und verwehrt damit die zu Personalität und Individualität gehörende Leistung des Selbst-Bewusstseins und der Autonomie, die konstitutionell auf Zäsuren, auf Selbstdistanzen fußt. Deren Voraussetzung bildet die Negation, wohingegen das Bildliche in keine Abständigkeit oder Unterscheidung ruft, sondern an der Performativität von Verkörperungen partizipiert, die auf die Gegenwart von Selbstdarstellungen zielen. Für ihr Gelingen sind ›Augen-Blicke‹ maßgeblich. Entsprechend geht es auch nirgends um Ausbildung kritischer Re-Flexionen, um Geschichtlichkeit oder Gedächtnis sowie um die in Erinnerungen verbürgte Kontinuität des Selbst, sondern um die Kraft situativer ›Marker‹, die wie Signifikanten funktionieren, welche Positionen besetzen, nicht Bedeutungen fixieren oder ›etwas‹ repräsentieren. Das Bild als Substitut für Identität fordert vielmehr zur fortwährenden Produktion von Momenten ohne Referenz. Diese wurzeln - wörtlich – im Spektakulären: im Sehen und seiner spezifischen ›Augensucht‹.

Das ist besonders in Ansehung der Figur des Narziß psychoanalytisch untersucht worden. Weniger entscheidet dabei das Etikett des Narzissmus, als vielmehr die durchs Bildliche determinierte Selbstwahrnehmung, die das Selbst zum Mimen macht. Identität gewinnt damit eine – im Wortsinne – ebenso ›dramatische‹ wie mimetische Struktur: Das Gesicht ist nicht Antlitz, sondern szenisches Imago: Maske. Die Maske wiederum bezeichnet gleichermaßen ein ›Aussehen‹ (eidos) wie ein Versteck: Sie präsentiert sich dem fremde Blick, um ihm auszuweichen. Wie darum das stets öffentliche ›Gesicht‹ als ›Gesehenes‹ das ›Antlitz‹, das eigentlich ›Entgegenblickende‹, verhüllt und ent-stellt, bedeutet die Bildwerdung des Subjekts kein Sichzeigen im Sinne des Aussetzens, sondern ein Ausstellen und Vorführen im Sinne szenischer Gewalt. Sie untersteht grundsätzlich, wie alles Theater, in dessen Wortbedeutung gleichfalls der Sinn von Sichtbarkeit eingeht, der Dialektik von Zurschaustellung und Angeschautwerden. Denn der Sichtbarkeit, die dem Bildlichen eigentümlich ist, korrespondiert der Widerschein einer Spur, die in die Sicht zwingt und aus dem Sehen ein Begehren macht. Die Szene wird daher weniger von den Akteuren determiniert, als vielmehr von ihren Zuschauern konditioniert.

Diese Umkehrung, die noch im Ausdruck ›Ansicht‹ anklingt, verwandelt schließlich das Bild in eine Unterwerfungs- und Abrichtungsagentur, die seine Betrachtung zuletzt dem Blick des anderen subordiniert. Wie dieser die Wirkung ›vor-gibt‹, weil deren Glücken seinem Kriterium unterliegt, bleibt die Bildproduktion, wie perfekt auch immer, von der Fessel permanenter Selbstkontrolle begleitet. Denn keineswegs gehorcht sie den Regien des Selbst, das sich ihrer souverän zu bedienen weiß, vielmehr folgt sie, hervorgebracht durch das Auge des Betrachters, seinem Diktat und richtet sich damit insgeheim nach demjenigen, den sie zu affizieren trachtet. So nistet in der Bildidentität der Zwiespalt zwischen Selbstausstellung des Ich, das ›sich‹ als Subjekt kreiert, indem es sich zeigt, und dem unvermeidlichen Umstand, dass sie sich im selben Moment zum Objekt eines fremden Blicks macht, der ihm eine Selbstbeobachtung auferlegt, die die Affektion zu meistern sucht. Sie sistiert das Selbst im Bildlichen in dem Maße, wie es dadurch zum Subjekt und Objekt der eigenen Selbstkontrolle gerät.

Körperbilder und genetische Schemata

Erzwungen ist auf diese Weise eine Inversion der Visibilität, eine Umkehrung der Zurschaustellung, die ebenso sehr auf den anderen zielt, wie sie von seiner Betrachtung gefangen genommen wird. Nicht das Selbst ist der Herr, sondern das Bild, mit dem es sich bekleidet und dem es verzweifelt zu entsprechen sucht. Sie macht ihn zum Knecht seiner eigenen Verbildlichung. Wo mithin das Authentische brüchig und die Selbstbestimmung obsolet geworden sind und das Bild mit dem Versprechen einer Rettung verlorener Ganzheit auftritt, bleibt es um so eindringlicher von demjenigen abhängig, dem es seine Macht leiht. Folglich entspringt seine Orientierung dem Phantasma eines Anderen, der zu garantieren scheint, was es als öffentliches Selbst nirgends zu halten vermag. Doch entstammt er als Anderer selbst dem Bild, das er präformiert. Stürzte die Frage nach der Identität einst in die Paradoxie der Selbstreflexion, die sich schon gewusst haben muss, um sich wissen zu können – eine Paradoxie, die die Logik der Selbstbeschreibung seit je beunruhigte -, so gerinnt sie im Bildlichen zu einer endlosen Kette aus lauter wechselnden Imagines, die auf nichts als ihre Oberfläche verweisen und ihren Ursprung verweigern. Die Wechselseitigkeit oder Dialektik, die dem Sehen und der Sichtbarkeit innewohnen und ein ständiges Oszillieren zwischen eigenem und fremdem Blick erzeugt und in der Oszillation zwischen Selbstdarstellung und Selbstkontrolle ihre Entsprechung findet, ist deshalb vor allem eine der Bilder selber. Nicht nur handelt es sich um idealisierte Formate, wie sie der Held verkörperte und wie sie sich in der Verehrung der Stars und Idole fortsetzte, sondern auch um virtuelle Konstrukte, die selbst schon einer Medienkultur entstammen, die ihre Produkte ausschließlich im Fiktionalen siedeln lässt. Ihnen hängen Attribute an, die das öffentliche Selbst im gleichen Maße aus seinem imaginären Schein erlösen sollen, wie sie es um so nachhaltiger ins Imaginäre zurückstoßen.

Man kann insofern von einer doppelten Verschiebung ausgehen, worin sich das Schicksal der bildgewordenen Subjekte besiegelt: Erstens ihre Selbstpräsentation im Ikonischen, der Verzauberung ihrer Fragmentarität in den Regimen des Imaginären, sowie zweitens das Bild selbst als Simulakrum, als ›Trugbild‹, das seine Herkunft aus medialen Erfindungen bezieht. Es begegnet überall und schreibt der Selbstverbildlichung ihre Norm vor: Ebenmäßige, von keinem Leiden gezeichnete Gesichter im Film, Hochglanz designte Mannequins als Kunstpuppen, digitalisierte Figuren auf Plakatwänden, chirurgisch konstruierte Körper, die an Plastiken aus Comic Strips gemahnen. Sie gerinnen zu Projektoren, worin sich Körperbilder, Schönheitsbilder, mediale Fiktionen, Mythisierungen und ihre Rekombination in Kunst und Film überschneiden. Überhaupt lassen sich die Medien als gewaltige Produktionsmaschinen der Übertragung und Vervielfältigung artifizieller Bilder identifizieren. Ihre Gegenwart ist universell, ihre Anwesenheit repressiv. Doch bleibt ihr Schein Verheißung, die nicht eingelöst werden kann, weil sie ein Phantasmatisches bergen, worin sich die Wunschökonomien eines ebenso deformierten wie rudimentären Selbst spiegeln, das an ihnen seine Kränkungen ebenso bestätigt wie auszugleichen sucht. Sie schlagen als Ideale abermals zurück und verhängen über die Subjekte eine gewaltsame Struktur, weil sie sich einerseits ihrem unzureichenden, stets paßungenauen Körperschema als Maß imprägnieren, andererseits erst dadurch die Kränkung hervorbringen, weil in Relation zu ihnen jeder Körper als imperfekt erscheinen muss. Implizieren somit die Bilder eine nicht zu verwirklichende Idealität, geraten ihre Verlockungen umgekehrt zum Götzendienst, tendenziell zu Theologie.

Das ist vor allem dem Körperkult zu entnehmen, der die Makellosigkeit der Gesichtsmasken buchstäblich in den Leib inskribiert und auf diese Weise weiter veräußerlicht. Träger der Bilder wird so der stilisierte, der technisierte Körper. Life-Sciences, Technowissenschaften und Computerprogramme arbeiten Hand in Hand an seiner Erstellung. Ihm eignet eine ebenso utopische wie suggestive Kraft, die eine im Bildlichen verankerte Normativität terminiert. Ihr Spiegel ist die inszenierte Attraktivität der Körper in der Mode, ihre entsprechende Aufrüstung in den Trainingslagern der Fitnessindustrie und des Breitensports, ihre Pflege im Wellness, das die Reinheit der Traumgestalten bis ins Ambiente fortsetzt, oder ihre wunschgemäße Modellierung in der Schönheitschirurgie, deren Schnitt durchs Fleisch den Schnitt der Technik offenbar macht. Ihre technische Manipulierbarkeit scheint grenzenlos. Entsprechend erscheint der Körper als Schlachtfeld und Projektionsfläche zugleich. Er wird zugeschnitten, geschunden und verletzt, um letztlich - wie eine Skulptur – wieder neu aufgerichtet zu werden. Nannte Martin Heidegger die Sprache das »Haus des Seins«, wird heute der Körper zum ›Haus des Selbst‹, zum Gefäß, das nahezu beliebige Bildentwürfe in sich aufzunehmen vermag. Und hielt einst die Natur den Leib und seine Gestaltbarkeit in Schranken, indem seine Hinfälligkeit allen Technologien des Körpers trotzte, avanciert er gegenwärtig zum technologischen Hybrid, der von Konstruktionsszenarien besetzt nach technischen Maßgaben frei modelliert werden kann. Deren Folie sind virtuelle Imagines, die dem Leiblichen seine Form, sein Experimentalschema vorgeben. Erweist sich somit, was mit dem Körper zu tun hat, als nirgends selbstverständlich, wie Philipp Sarasin gesagt hat, gibt sich der Leib umgekehrt als ein Kunstobjekt zu erkennen, das sich nicht nur mit zahlreichen narzisstischen Fetischismen und Idiosynkrasien ausgestattet darbietet, sondern das von Anfang an auch einer strengen Beobachtung und Bewertung unterliegt, die jede Abweichung, jede Varianz rigoros verfolgt und ausschließt und auf diese Weise den bildgewordenen Idealmaßen anzugleichen sucht.

Insonderheit lassen sich gegenwärtig drei dominante Technologien des Leibes unterscheiden, die freilich zusammengehören und den Körper gleichermaßen zum Werk wie zum Werkzeug machen: die Technologien des Sports und der Mode, die Technologien der Medizin und der Life-Sciences, ein Begriff, der nicht umsonst die Assoziation an Life-Style weckt, sowie die Technologien der Biogenetik. Allen dreien sind Ästhetisierungsverfahren immanent, die sich am Bild orientieren. Dazu gehören die Traumstätten der Fitnessparks und des Extremsports, die den Körper durch exzessives Training ebenso einer erotischen Disziplin unterwerfen, wie sie aus seiner Kasteiung, die den christlichen Übungen der Askese nicht nachstehen, den Triumph der Neuschöpfung beziehen. Ihnen entspricht eine Herrichtung und Ausstattung, die mit minutiöser Planung und Zeitaufwendung die ›kosmetische‹ Bildwerdung in Szene setzen, um ganz dem Blick des Begehrens zu genügen. Beides weist auf den selben Punkt: die Dominanz des ästhetischen Prozesses, die die einstige Selbststilisierung des Individuums als Demiurg, als alter deus in der Kunstwerdung des Körpers restituieren und damit restlos auf den äußeren Schein verlegen.

Entsprechend zielen die imaginären Bildordnungen auf die Erfindung seiner selbst als Aussehen (eidos), als Form. Ihr Korrelat ist eine medizinische Technik, die die Leiblichkeit unablässig bearbeitet, um sie ebenso sehr zu verbessern und zu verschönern wie ihr langsames Sterben aufzuhalten: Die Modellierung von Gesundheit beruht nicht so sehr auf der Herstellung einer inneren Balance oder Angemessenheit, sondern klebt an den Ideologien ewiger Kraft und Jugend, die ihre Suggestibilität vor allem im Bildlichen wahren. Waren diese einstmals mit politischer Barbarei verschwistert, werden sie derzeit allein auf der Ebene des Konsums verhandelt. Durch Einschluss in einen kompletten Kreis von Diagnostik und Präventivmaßnahmen löschen ihre Maßnahmen am Körper die Spuren der Zeit und der Sterblichkeit, indem sie gleichzeitig am Leiblichen die Erfahrungen des Schmerzes, der Fragilität und Verletzbarkeit und damit die spezifischen Residuen seiner Existenz tilgen. Alter, Krankheit und Tod, die dem Leiblichen inskribierten Formen der Endlichkeit, geraten auf diese Weise in ihre Verdrängung. Sie wirken obszön. Folglich gehen die Körperpraktiken der Prophylaxe und der Diätetik wie ihrer therapeutischen Techniken mit einer latenten Entkörperung einher. Sie gerieren sich zuletzt als Technologien der Unsterblichkeit, die umgekehrt ihre Herkunft aus der Angst, dem Skandalon des Todes beziehen, der nicht sein darf, den sie beständig zu überwachen, abzuspalten und unkenntlich zu machen versuchen, auch wenn sein Vorschein überall aus der zur Leichenstarre gefrorenen Bildlichkeit entgegenblickt.

Ästhetik und Dehumanisierung

Diese ›Bildfrömmigkeit‹ gilt um so mehr für die anstehenden biotechnologischen Neuerfindungen des Menschen, wozu eine ganze Armada aus Reproduktions- und Transplantationsmedizinen, In-vitro-Befruchtungen, Keimbahntherapien und Retortengeburten bis zu den Drohungen des Klonens bereitstehen. Ihre Techniken werfen ihre Zeichen wie Menetekel in eine noch kaum absehbare Zukunft. Das Unheimlichste ist darin vielleicht die in ihnen wiederkehrende Feier einer längst schon diskreditiert geglaubten Eugenik und der damit verbundenen Idee der Menschenzucht. Doch besitzt sie ihre vorzüglichste Quelle heute abermals im Bildlichen. Denn signifikant dafür ist vor allem das Klonen. Die Reduplikation des Exemplars, seine Ersetzung durch Verdopplung, orientiert sich am Bild, bezieht aus ihm ihr Bedürfnis. Nicht nur zu fragen wäre daher nach der moralischen Legitimität des Klonens, wogegen eine Reihe von Gründen spricht, vor allem die Instrumentalisierung sowohl des Klons als auch des Klonierten, die dem Gebot der Menschenwürde widerspricht – zu fragen wäre vielmehr auch nach seinem spezifischen Begehr, der Schaffung von Ebenbildern. Als Technik nämlich entspringt die Klonierung selbst schon dem Verlangen nach der Kopie, der Vermehrung von Bildern, der Verdopplung und Speicherung des Perfekten, schließlich der Auslöschung des Originals. Dem korrespondieren die gleichermaßen an Idealbilder geknüpften ›Gentherapien‹. Aus diesem Grunde handelt es sich weniger um die Instituierung einer »liberalen« Eugenik, wie Jürgen Habermas formuliert hat – der Ausdruck reflektiert einzig den Standpunkt des Rechts -, sondern um eine ästhetische. Sie löst die alte, evolutionstheoretisch und rassistisch begründete Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts ab, obgleich sie auf erschreckende Weise mannigfache Züge mit ihr teilt. Erschien damals die Natur als Utopie, verbunden mit monströsen Vorstellungen von einer Überlegenheit der nordischen Rasse, regiert jetzt das Bildliche, die Imagines körperlicher perfectio und ihrer virtuellen Produktion und besetzt auf diese Weise die vakant gewordene Stelle des Utopischen mit allen Konsequenzen einer ›Ästhetisierung des Bios‹.

Das Bild und seine Wirkkraft tritt damit in den Rang eines biotechnologischen Imperativs. Zu nicht unerheblichem Grade diktiert es das genetische Design. Es steht unter der Ägide körperlicher wie geistiger Optimierungen. Ihr Kriterium ist, im Unterschied zur historischen Eugenik, dem Technischen wie Ökonomischen entlehnt, ihre Orientierung am Ästhetischen. (Dass unterhalb technischer Idealisierung die unerbittliche Dramatik der Ökonomisierung spielt, worin Krankheit und Gesundheit zu einem mächtigen Markt geworden sind, darauf hat vor allem Rifkin hingewiesen. – Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Gentechnik, München 1998, S. 42ff., 72ff., sowie ders., Wir werden Kriege um Gene führen, Gespräch in: Schirrmacher (Hg.), Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001, S. 285-292.) Nicht länger geht es folglich um staatlich geregelte Hygieneprogramme, deren Subjekt die Rasse und deren Objekt das Exemplar bildete, sondern um die technizistische Manipulation am Organismus selber, deren Produkt die Fiktionalisierung des Individuums nach Maßgabe eines tief in die kollektive Geschichte eingelassenen Bildgedächtnisses darstellt. Trägt der Code, der Schriftzug der DNA mit ihrer präzisen Textur der Basenreihen die Logik der Vererbung aus – auch wenn alles dafür spricht, dass dieses biogenetische Dogma zu kurz greift -, bildet umgekehrt die Imagination, die Bilderzeugung die Grundlage des technischen Eingriffs und seiner Gestaltung. Nicht der Zweck, der instrumentelle Nutzen allein forciert, wie man meinen könnte, die Entwicklung und Errechnung digitaler Skripturen, die den genetischen Code ebenso aufbrechen wie weiterschreiben und die Welt in Form bislang unbekannter Hybriden, Chimären und Modelltiere bevölkern, sondern die hartnäckigen Phantasmen einer Überwindung von Natur und Tod, um die vermeintlichen Mängel des Menschen, seine Defizite in der Intelligenz oder seine körperlichen Unzulänglichkeiten nach dem Gesichtspunkt ikonischer Idealität auszumerzen.

Zwar wird der Segen des ›biotechnologischen Zeitalters‹ in hymnischen Metaphern beschworen, der medizinische Nutzen der Gentechnik, ihre Chancen für Heilung und Gesundheit vehement herausgestrichen, ihre Bedeutung daran ebenso emphatisch bemessen wie gerechtfertigt, doch geht in das technizistische Homunkulusprojekt des ›machbaren Menschen‹ gleichermaßen eine Bildmacht ein, die sich aus ebenso unbewussten wie mythischen Assoziationen speist. Sie besorgt dabei gleichzeitig eine De-Naturalisierung der Natur wie eine De-Humanisierung des Menschen. Beide entsprechen einander und lösen das klassische, an Identität und Selbstbestimmung orientierte Humanum zugunsten einer ›post-‹ oder ›transhumanistischen‹ Überschreitung des Menschen ab. Deren Basis bildet eine ›Ästhetik des Bios‹, die die Erscheinung des Menschen in dem Maße mit Magie ausstattet, wie sie aus einem unreflektiert bleibenden Bildspeicher schöpft. Das Bild fungiert dabei als Typus; es bricht mit der Singularität des Individuums, seiner Kontingenz, verleiht ihm vielmehr eine Gestalt noch bevor es Gestalt geworden ist, gibt ihm ein ikonisches Gepräge, das den Zu-Fall seiner Geburt und seines ›Antlitzes‹ von Anfang an mit seinen Konturen überschrieben hat. Der Begriff der Individualität verliert dann jeglichen Sinn. Seine Semantik wird vielmehr durch eine Typologie der Bilder ersetzt. Sie wird in dem Maße, wie sie ihre stets schon kulturalistisch sanktionierte Ikonizität in den Boden einstiger Natürlichkeit versenkt, selber zur Natur, die ihr ihre Muster und Stereotype vorschreibt.

Keinesfalls darf deshalb die Ästhetisierung des Bios mit der konkurrierenden ›Ästhetik der Existenz‹, der ›Sorge um sich‹, verwechselt werden – diese schließt mit der Idee der ›Lebenskunst‹ die Ethik ein, während die ›Ästhetik des Bios‹ ausschließlich auf der Ebene der Wirksamkeit der Bilder und der Performanz ihres ›objektiven Scheins‹ verbleibt. Die Effekte ihrer Evidenz, ihr immanent affirmativer Charakter, wie er in bezug auf die Logik der Bildlichkeit herausgestellt worden ist, lassen die Frage des Wertes, auch des Selbstwertes und der Würde des Individuums nicht mehr zu, weil ihnen kein Bild zugeordnet werden kann und ihre Begründung außerhalb ästhetischer Kategorien erfolgt. Die ›Ästhetisierung des Bios‹ operiert darum unabhängig von jeder Moral und Verantwortung. Entsprechend kennt sie auch keinen Entwurf eines Sozialen. Ihre Naturalisierung der Bildlichkeit schließt vielmehr jeden Widerspruch und jeden Diskurs aus. Sie entlarvt darin ihr Tyrannisches. Zwar kontinuiert sich mit ihr die alte Vorstellung vom Menschen als eines Selbstschöpfers und Künstlers, wie sie seit der Renaissance überliefert worden ist, doch bezog diese ihre Plausibilität aus der Bildung der Persönlichkeit, d.h. der Selbstgestaltung seines Charakters und der Entfaltung und Steigerung seiner intrinsischen Eigenschaften, wohingegen die bildgewordene ›Ästhetik des Bios‹ ausschließlich an äußere Merkmale appelliert, sich einer Bildtradition bedient, ohne sich ihrer bewusst zu sein.
Folglich verbleibt ihre Ikonologie ganz im Banne des Mythos. Deshalb werden die nach ihr gestalteten Subjekte ihre Autonomie nicht mehr aus ihrem Selbst-Bewusstsein, ihrer Selbst-Erkenntnis oder Selbst-Reflexion, auch nicht aus sozialen Distinktionen, ihrer Unterscheidung von anderem beziehen, wozu Gesellschaftlichkeit, Sprache und Schriftmedien gehören, sondern allein aus solchem mythischen Repertoire, dessen Bilder ihnen wie Prägungen ins Fleisch graviert sind. Sie errichten zwischen ihnen neue Barrieren, neue Trennungslinien und Hierarchien, die wohl totalitärer und gewaltsamer ausfallen werden, als die einstigen es je waren.