Reinhard Düßel
Dazwischen

Weder hier noch dort, weder dies noch das, dazwischen eben. Die Rede von einem Dazwischen ist, und war es immer, sicherlich eine Notlösung. Was aber versucht sie zu lösen? Mit einer Notlösung nehmen wir dann vorlieb, wenn eine Lösung unbedingt erforderlich, eine vollständige, vielleicht sogar abschließende Lösung in der verfügbaren Zeit aber nicht möglich ist. Offenbar drängt da also, wenn wir von einem Dazwischen reden, etwas zur Rede. Offenbar duldet da etwas keinen Aufschub. Wenn dem aber so ist, dann wird es nicht ausreichend sein, davon, was immer es ist, einfach nur irgendwie zu reden. Wäre dies ausreichend, so könnte es warten. Dies kann es offenbar nicht. Etwas, das nicht warten kann, ist etwas, mit dem wir je und je jetzt umzugehen haben. Es drängt zur Rede, aber nicht wie ein talking point beim Tee. Es wird also erforderlich sein, so davon zu reden, dass sich Optionen des Umgangs ergeben oder zumindest abzeichnen. Dies stößt, so müssen wir annehmen, auf Schwierigkeiten. Da kein Aufschub möglich ist, bleibt nur, was sich ohne Aufschub dennoch finden lässt: eine Notlösung. Noch einmal aber: Eine Notlösung wofür? Was drängt da zur Sprache? Was kann nicht warten?

Verlegenheiten

Anders als Gewächse, sind Tiere und dann auch Menschen lokomotive Wesen. Zu den Veränderungen, denen sie unterliegen und die sie bewerkstelligen, gehört die des Ortes. Tiere und Menschen haben, wie schon Aristoteles bemerkt, keine Wurzeln, sondern Gliedmaßen. Sie beschaffen sich, was sie brauchen, nicht aus dem immergleichen Boden. Mittels ihrer Gliedmaßen bewegen sie sich umher, suchen sie, was sie brauchen, um es dann, wiederum mittels ihrer Gliedmaßen, vom Boden aufzunehmen.

Menschen steigern die lokomotive Effizienz ihrer Gliedmaßen. Zunächst nehmen sie Tiere in ihren Dienst, die schneller und ausdauernder zu laufen vermögen als sie selber. Schließlich bauen sie Fortbewegungsmittel aller Art, deren Verfügbarkeit, Geschwindigkeit und Reichweite sie unablässig steigern. So eröffnen sie sich die Unendlichkeit des Erdballs, in der es geradeaus, weil eben rund herum, am Ende doch immer weitergeht.

Dennoch sind sie endliche und in einem vielfältigen Sinne lokale Wesen. Zwar sind sie, wenn sie auf ihren Reittieren oder in ihren Verkehrsmitteln sitzen, stehen oder liegen weder hier noch dort, sondern dazwischen unterwegs, bald hier und bald dort. Jeder aber wurde irgendwo geboren, wuchs irgendwo heran, wird sich irgendwo zum Sterben niederlegen. Eine Art Fundamentalverlegenheit des Umgangs mit beidem angesichts des jeweils anderen, mit der Endlichkeit und lokalen Gebundenheit einerseits und der lokomotiv eröffneten Unendlichkeit andererseits, ergibt sich zwangsläufig.

Die Einsicht, nichts bleibe wie es ist und früher oder später schwinde es dahin, wir selber, die Unsrigen und das Unsrige eingeschlossen, ist so trivial wie beunruhigend. In den meisten Kulturen, vielleicht in allen, gibt es freilich eine Institution, die dem widerspricht. Die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit von allem und jedem, der Kürze halber können wir zusammenfassend von Endlichkeit reden, gilt ihr zwar als Faktum, nicht aber als trivial. Endlichkeit ist ihr vielmehr Gegenstand und Möglichkeit einer Einsicht, die tiefer oder auch höher ist als jede andere. Nur unverstanden also gelten ihr Veränderlichkeit und Vergänglichkeit ausschließlich als eine Quelle der Beunruhigung. Wahrhaft eingesehen führen sie über jede Beunruhigung hinaus. Der im Deutschen geläufigste Name für höchstmögliche Einsicht lautet Weisheit. Die hier gemeinte Institution, sofern wir ihr einen Namen geben wollen, wäre also die des Weisen.

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Endlichkeit, sowohl die eigene als auch die von allem sonst, ist eines der Probleme, mit dem alle Menschen zurechtkommen müssen und immer schon mussten. Der Augenblick, in dem Endlichkeit das erste Mal gegenwärtig wird, um dann so oder so immer gegenwärtig zu bleiben, ist einer der entscheidenden Augenblicke im Leben eines jeden Menschen. Es ist ein Augenblick der Beunruhigung. Die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit unserer selbst und von allem sonst schiebt sich zwischen uns und die Welt. Wir selber, die wir zur Welt gehören, kommen dabei gleichsam auf beiden Seiten vor. Ebenso wie die Welt, sind wir uns selber fortan nur durch den Schleier der Beunruhigung hindurch gegenwärtig, in dem Farben verblassen und Konturen verschwimmen.

All dies scheint sich zwangsläufig aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit zu ergeben. Wir geraten hinein in dieses beunruhigte Verblassen und verschwimmen darin, ohne uns ausdrücklich dafür entschieden zu haben, ohne zu wissen, dass da etwas zu entscheiden ist oder war.

Ist denn etwas zu entscheiden? Ist Beunruhigung eine notwendige Konsequenz aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit oder nicht? Ist es die einzige Konsequenz? Wie sollte man wiederum diese Frage beantworten? Handelt es sich um eine kognitive Frage? Könnte es in irgendeinem Sinne kognitiv wahr oder falsch sein, Beunruhigung als notwendige Konsequenz aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit anzusehen oder eben nicht? Um welche Art von Notwendigkeit sollte es sich hier handeln?

Die Institution, von der die Rede war, lässt es auf den Versuch ankommen. Wenn nicht unmittelbar deutlich ist, in welchem Sinne von Notwendigkeit Beunruhigung die einzig mögliche Konsequenz aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit ist, dann besteht immerhin die Möglichkeit, dass es andere Konsequenzen gibt. Dieser Möglichkeit kann man nachgehen, indem man andere Konsequenzen sucht. Man kann sie suchen, indem man versucht, die Option einer anderen Konsequenz zu etablieren. Die Institution des Weisen und alle entsprechenden Institutionen sind solche Versuche. Beunruhigung, so kann man also sagen, ist und bleibt die einzig notwendige Konsequenz aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit, solange es nicht gelingt, eine andere Option zu etablieren oder zu ergreifen. Nur wenn es gelingt, lässt sich die genannte Konsequenz unterbrechen. Eine Kultur, der dies gänzlich und auf Dauer misslänge, wäre nicht zu beneiden. Sie könnte nur raten, den Kopf so lange wie möglich in den Sand zu stecken und danach dann von allen Hilfsmitteln des Vergessens Gebrauch zu machen.

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Endlichkeit freilich ist Grund zur Beunruhigung. Was sich da verändert und vergeht, alle und alles eben, wir selber mittendrin, ist mit uns auf vielfältige Weise verwoben. Damit es wurde, was es ist, damit es sich erhält, solange es sich erhalten lässt, waren und sind – in der Regel jedenfalls – große Anstrengungen erforderlich. Eine Option, die anriete, das unablässige Dahinschwinden von allem und jedem gänzlich unberührt und unbewegt einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, wäre unglaubwürdig und auch nicht wünschenswert. Man könnte sogar sagen, sie wäre eine der Varianten von Grausamkeit.

Die Unterbrechung der genannten Konsequenz wird also lediglich eine Unterbrechung ihrer Ausschließlichkeit sein können. Es kann nicht Ziel sein, Beunruhigung durch etwas anderes zu ersetzen. Dieses wäre in jedem Falle verschieden, mithin frei von Beunruhigung, die entsprechende Option des Umgangs mit Endlichkeit also jedenfalls auf die eine oder andere Weise grausam. Statt sie zu ersetzen, wäre Beunruhigung vielmehr durch eine weitere Option zu ergänzen. Dies nicht im Sinne einer bloßen Hinzufügung zum alternierenden Gebrauch, so dass wir jeweils für eine Weile höchst beunruhigt wären und dann für eine Weile wiederum nicht. Beunruhigung wäre so zu ergänzen, dass sie sich verwandelt, und dies wiederum so, dass sie dabei ihre Schleiernatur verliert, die Welt und uns selber also nicht mehr zum Verblassen und Verschwimmen bringt. Dazu könnte es aber nur kommen, wenn sich aus dem Gewahrwerden von Endlichkeit zugleich mit der Beunruhigung eine Option des Umgangs ergäbe, die es uns erlaubt, im Endlichen und als Endliches den Halt zu finden, der uns und alles mit uns trotz aller Beunruhigung vor dem Verschwimmen und Verblassen bewahrt.

So eine ergänzende und unsere Beunruhigung verwandelnde Option könnte sich nur ergeben, und ergeben müsste sie sich, denn mit einer von irgendwo herbeigeholten wäre es nicht getan, wenn es innerhalb der Endlichkeit selber schon etwas gäbe, in dem sich Halt finden lässt. Es müsste also so etwas wie einen der Endlichkeit wesentlichen und eigentümlichen Halt geben, an den wir dann auf der Suche nach einer Option des Umgangs mir ihr anknüpfen könnten.

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Nach dem bisher Gesagten gibt es innerhalb der Endlichkeit nur, was wir in ihr zusammengefasst haben, Veränderlichkeit also und Vergänglichkeit. Endlichkeit ist Veränderlichkeit und Vergänglichkeit, sie ist weder allein das eine noch allein das andere. Vergänglichkeit allein hieße, dass etwas für eine bestimmte Zeit so bleibt wie es bleibt ist und dann mit einem Schlage verschwindet. Ein vergängliches, nicht aber veränderliches Wesen bliebe gleichsam bis zum Augenblick des Todes immer jung. Veränderlichkeit allein hieße, dass etwas immer anders wird, und dies immer so fort ins Unendliche. Es gibt Versuche, der Endlichkeit das Beunruhigende zu nehmen, indem man sie auf Veränderlichkeit reduziert. So etwa der chinesische Philosoph Zhuangzi. Der Tod seiner Frau ist ihm wiederum nur eine weitere Verwandlung und deshalb kein Grund zur Traurigkeit. Das Publikum bleibt skeptisch.

Die Rede war vom Unterschied zwischen Gewächsen einerseits und lokomotiven Wesen, zu denen auch wir selber gehören, andererseits. Gewächse bohren sich in den immergleichen Ort hinein. Lokomotive Wesen bewegen sich von Ort zu Ort. Vergänglich sind beide. Beide haben einen Anfang. Beide erreichen früher oder später ihr Ende. Sie fallen dann in sich zusammen, Gewächse an dem Ort, an dem sie immer waren, lokomotive Wesen an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden. Beide durchleben jeweils einen raumzeitlich genau umgrenzten Bereich. Bei lokomotiven Wesen gehört dazu das Nacheinander all der Orte, an denen sie sich aufgehalten haben. Dieses, und damit auch der gesamte raumzeitliche Bereich, der durchlebt wurde, ist jeweils einzigartig, definiert durch einen je bestimmten Anfang irgendwann und irgendwo, ein Nacheinander von je bestimmten Orten, und dann ein in sich Zusammenfallen wiederum irgendwann und irgendwo. Die jeweils durchlebten Bereiche durchdringen und überschneiden einander auf vielfache Weise, jeder aber ist einzigartig.

Wir bezeichnen den jeweils einzigartig bestimmten, raumzeitlich definierten Bereich, der von einem Menschen durchlebt wird, als dessen Verortung. Endlichkeit als die Einheit von Veränderlichkeit und Vergänglichkeit charakterisieren wir entsprechend als verortete Veränderlichkeit. Damit haben wir den Anknüpfungspunkt gefunden, nach dem wir Ausschau hielten. Es lassen sich nun zwei Formen oder Stufen des Gewahrwerdens von Endlichkeit vorstellen. Eine erste Form wäre ein Gewahrwerden, das kein Gewahrwerden von Verortung einschließt. Die Einheit von Veränderlichkeit und Vergänglichkeit wird nur diffus wahrgenommen, einerseits als dahinrasende Veränderlichkeit, die alles zum Verschwimmen bringt, andererseits als schockartig einbrechende Vergänglichkeit, die nur zerstört. Eine zweite Form wäre ein Gewahrwerden, in dem Veränderlichkeit und Vergänglichkeit sich so zusammenfügen, dass Veränderlichkeit nicht mehr fortrast, sondern sich verortet, und Vergänglichkeit nicht mehr zerstört, sondern zum Stehen bringt, bestimmt, konkretisiert. Weisheit, oder wie immer man die damit gemeinte Einsicht bezeichnen mag, wird wohl etwas mit dem Schritt von der ersten Form zur zweiten, mit dem Schritt also hin zu einem Gewahrwerden von Endlichkeit als verorteter Veränderlichkeit zu tun haben.

Karawane

Beunruhigend ist es, wenn die Dinge sich anders ändern als ihnen, wie man so sagt, gemäß ist. Allerdings geht es uns dabei eher, und vielleicht auch billigerweise, um uns selber. Sollten die Sommer in Mitteleuropa mit zunehmender Häufigkeit zu heißen Trockenperioden werden, die von Mai bis September dauern, unterbrochen nur von Gewitterstürmen mit sturzbachartigen Regenfällen, so wird uns, den Mitteleuropäern, der mitteleuropäische Sommer erst dann wieder gemäß sein, wenn wir unsere gesamte Lebensweise, von der Ernährung über die Bauweise und Ausstattung unserer Häuser bis hin zu den Routinen des Alltags, entsprechend verändert haben. Auf dem Wege dahin werden uns in den Sommern zunehmend, und dann hoffentlich abnehmend, Meldungen über Hitzetote, Überschwemmungen, vernichtete Ernten und eine generelle Erlahmung der Arbeitsproduktivität beschäftigen. Kehrt wieder Normalität ein, so wird die Veränderung des mitteleuropäischen Sommers ein anderes Mitteleuropa geschaffen haben. Für diejenigen, die in der Schlussphase dieser Zeit des Übergangs geboren oder aufgewachsen sind, wird daran nichts Beunruhigendes sein. Der Übergang wird für sie der Anfang der Welt sein, die ihnen vertraut und gemäß ist. Nicht so im Falle derer, die in dem dann ehemaligen Mitteleuropa herangewachsen sind oder dort bereits einen Teil ihres Erwachsenenlebens verbracht haben. Ihr Mitteleuropa wird es nicht mehr geben.

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Der Sommer, oder was sonst es sei, alles eben, verändert sich unablässig. Weder der Sommer überhaupt ist aber da noch irgendetwas sonst überhaupt. Wie sollte das auch hergehen? Recht eigentlich da ist jetzt die Stunde zwischen sechs und sieben am Morgen, in der es so und so hell, so und so warm und nahezu windstill ist. Wo sollte da so etwas sein wie Sommer überhaupt? Da sind nur Konstellationen von Veränderungen und Konstellationen dieser Konstellationen, die sich wiederum verändern. Gelingt es, diese ohne viel Mühe als Konstellationen sich verändernder Sachen, Lebewesen und Akteure zu verstehen, so sprechen wir von einer vertrauten Welt.

Zur Vertrautheit gehört, dass nichts zu einem Überhaupt gerinnt. Die Stunde zwischen sechs und sieben hier und jetzt ist dieses allmähliche Heller- und Wärmerwerden, und ein kaum spürbarer Wind, der immer sogleich wieder schwindet. All das ist sie. Keinesfalls also geschieht das alles in ihr. Was da geschieht, heute ein wenig anders als gestern, halten wir zusammen, ohne das Nacheinander dabei zu einem Nebeneinander werden zu lassen. Den Anfang und das Ende bestimmen die Turmuhr und unsere Gewohnheit, um diese Zeit ein paar Mal ums Stadtviertel zu gehen. Als ein Zusammengehaltenes hat sie etwas Substantivisches. Das halten wir in der Schwebe. So wird es also, jeden Tag zwischen sechs und sieben, so und so heller und wärmer, weht der Wind erst so und dann so, flaut er so und so ab. Man kann es nicht beschreiben. Man kann es nur erzählen. Es geschieht eine vertraute, immer wieder andere Geschichte. So verhält es sich mit allem in einer vertrauten Welt. Sachen, Lebewesen, Akteure, die sich verändernden Konstellationen zwischen ihnen, die Konstellationen dieser Konstellationen, haben etwas Substantivisches, das wir von ihnen fern halten. Darin besteht Vertrautheit. Reden wir von ihnen, so erzählen wir von ihnen.

Die Morgenstunde, die wir zusammen mit der Turmuhr begrenzen, gehört zu uns und wir gehören zu ihr. Bevor wir hinausgehen, werfen wir einen Blick aus dem Fenster. Wir versuchen, ihr zu entsprechen, etwa in unseren Schuhen und in unserer Kleidung. Geschieht sie dann anders, als wir erwartet haben, so entsprechen wir ihr, indem wir, beispielsweise, den Pullover ausziehen. Auch die Weise, in der wir gehen, schneller oder langsamer, geduckter oder aufrecht, entspricht der Stunde, so wie sie jeweils geschieht. Zumindest ist es eine der möglichen Weisen, ihr zu entsprechen, die unsrige eben. Da wir zu ihr gehören, wie sie zu uns, entsprechen wir uns damit gleichsam selbst. In diesem engeren Sinne ist unsere Weise, ihr zu entsprechen, dann doch die einzig wirklich mögliche. Was immer es sein mag, das uns an einem regnerischen Morgen dazu bewegt, hastig und geduckt zu gehen, es gehört zu uns, damit auch zu dem Morgen, dem wir auf diese Weise entsprechen. Im Prinzip hindert uns nichts daran, mit einem Regenschirm in der Hand aufrecht dahinzuschlendern, wäre es aber nicht nur im Prinzip, sondern wirklich möglich, so täten wir es. Freilich wären wir dann nicht der, der wir an diesem Morgen sind. Auch der Morgen wäre nicht, was er ist. Im Prinzip könnte alles immer auch anders sein, in Wirklichkeit geschieht es aber, wie es gerade kann, und anders konnte es dann auch nicht geschehen. Sind wir damit nicht zufrieden, so müssen wir Sorge dafür tragen, dass sich der Spielraum des Könnens erweitert und der letzte Ausschlag jeweils in eine Richtung erfolgt, die wir für gut halten.

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Eine vertraute Welt ist ein mehr oder weniger verwickeltes Geflecht unvollendeter Geschichten, in denen wir, wie in der Morgenstunde, die eine von ihnen ist, selber vorkommen.

Sagen wir, etwas komme vor, so meinen wir, es sei weder besonders häufig noch besonders selten. Andernfalls sagen wir, es komme häufig oder selten vor. Wir gebrauchen den Ausdruck, wenn wir von einem Ort oder einer Region erzählen. Dieses oder jenes komme dort vor oder sei zu dieser oder jener Zeit dort vorgekommen. Wir gebrauchen den Ausdruck auch, wenn wir von einer bestimmten Zeit erzählen. Damals sei dieses und jenes vorgekommen, das eine hier, das andere dort, anderes wiederum anderswo. Dieses oder jenes meint dabei sich wiederholende Ereignisse, dann auch Sachen, Gewächse, Lebendiges, Akteure, wobei der Ereignischarakter des Gemeinten immer erhalten bleibt. Wir sagen etwa, dort und dort komme Granit vor, oder Marmor, oder es kämen Glockenblumen vor, oder Klapperschlangen, und meinen, man werde dort mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf stoßen. Was vorkommt ist dasjenige, auf das man mit einiger Wahrscheinlichkeit stößt. Der so oder anders immer mitgemeinte Ereignis- oder Geschehnischarakter meint einen mehrdimensionalen Aspekt der Verhaltenheit. Vorkommen meint Vorkommendes an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Es ist verhalten im Sinne räumlicher und zeitlicher Lokalisiertheit. Ohne Hinzufügung einer weiteren Qualifikation meint Vorkommendes weder etwas besonders Seltenes noch etwas besonders Häufiges. Zum Vorkommen gehört eine Verhaltenheit zwischen beidem. Vorkommen ist schließlich verhalten im Sinne eines Schwebezustands zwischen dem Verbalen und dem Substantivischen. Man kann ihn als Hervorkommen charakterisieren. Vorkommendes ist das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zwischen den Extremen des Häufigen und des Seltenen, Hervorkommende. Vorkommen ist Hervorkommen. Eine vertraute Welt ist ein Geflecht von Geschichten, in denen wir selber, andere und anderes hervorkommen.

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Wir sprachen von Veränderungen, auch von Konstellationen, sich verändernder Konstellationen. In diesen stehe alles, wir selber eingeschlossen. Genau genommen steht da aber nichts. Es ist unablässiges Entstehen, das ebenso unablässig mit dem Verschwinden des Entstehenden zusammenfällt. Solange es dabei bleibt, kommt es, wie man so sagt, zu nichts, kommt weder etwas vor noch hervor. Im nächsten Schritt sprachen wir vom Verstehen. Dieses kann gelingen oder auch nicht. Gelingt es, so kommt es zu einer vertrauten Welt, zu einem Vorkommen und Hervorkommen in einem Geflecht von Geschichten. Dazu kann es nur kommen, sofern Entstehen und Verschwinden aufhören, zusammenzufallen. Gelingendes Verstehen ist jedenfalls das gelingende Auseinanderhalten beider. Es bringt das Zusammenfallen des Entstehens mit dem Verschwinden zum Stehen, indem es zwischen beide ein Intervall einfügt. Verstehen hält an, ist ein Anhalten. Verstehen ist Halten.

Klagt jemand, er werde nicht verstanden, so hat dies eher selten mit einem Mangel an Sprachbeherrschung zu tun. Abhängig davon, wie es gesagt wird, bekundet es eine herannahende oder bereits vorhandene Krise des Bleibens. Es falle schwer, sei gar unmöglich geworden, zu bleiben. Die Formel Selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht ist eine häufige rhetorische Zutat und mehr als dies. Wer nicht bleiben kann, obgleich er will, dem fehlt, was nötig ist. So bleibt nichts, als fortzugehen, um es anderswo zu finden. Ein Bleiben gibt es keinesfalls, nur zwei Optionen des Fortgehens, die wörtliche und die figurative. Es ist möglich, das Nötige anderswo zu suchen, solange noch Zeit ist. Es ist auch möglich, an Ort und Stelle dahinzuschwinden, was mit der einen oder anderen Art des Fortlebens durchaus vereinbar sein mag. In so einem Leben kommt es dann zu nichts mehr. Es gibt weiterhin Regungen, Ideen, alle aber verschwinden schon in dem Augenblick, in dem sie entstehen.

Genauer gedacht, bekundet die Klage ein Schwinden des Intervalls zwischen Entstehen und Verschwinden. Dieses bedarf offenbar des Verstehens, wobei wir Verstehen von diesem Bedürfnis her zu denken haben und nicht im Ausgang von einer irgendwo aufgegriffenen Definition. Verstehen, so können wir sagen, fügt zwischen Entstehen und Entschwinden ein Intervall ein und hält es dort. Es lässt, anders gesagt, dieses Intervall aus dem Entstehen unablässig hervorgehen. Nur so kommt es zu etwas. Nur so kommt etwas hervor.

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Wir alle, und vermutlich das meiste sonst, beginnen als eine Art A-Sagen, das es aus eigener Kraft zum B-Sagen nicht bringt. Wir wollen und müssen gehalten werden, und dies im umfassendsten nur denkbaren Sinne. Wenn wir Glück haben, werden wir in ein anhaltendes Halten hineingeboren. Dieses kann mehr oder weniger breit sein. Ist es recht eng, so bleibt Vieles, aus dem etwas hätte werden können, ohne haltende Antwort. Je breiter es ist, desto breiter werden wir selber, oder könnten wir werden. Nachdem wir als Gehaltene ein Stückweit hervorgekommen sind, hört das Halten auf, einseitig zu sein. Wir werden fähig, andere und anderes zu halten, zuerst vor allem diejenigen, die uns halten. Dieser Weg von einem Gehaltenwerden, das sich zu einem haltenden Gehaltenwerden verdichtet und verdoppelt, dann weiter die Odyssee dieses haltenden Gehaltenwerdens selber, mit ihren Verbreiterungen, Verengungen, Abbrüchen, Wiederaufnahmen und Neuanfängen, endend schließlich in einem nicht mehr zu haltenden Dahinschwinden oder auch abrupten Zerplatzen des genannten Intervalls, ist der abstrakte Kern der Milliarden Geschichten, in denen wir, die es bis zum B-Sagen und darüber hinaus gebracht haben, hervorkommen bezw. hervorgekommen sind.

Eine vertraute Welt ist jeweils die eines einzelnen Menschen. Sie ist das Bündel miteinander verwickelter Geschichten, in die hinein das haltende Gehaltenwerden, das er ist, auf eine für ihn nachvollziehbare Weise reicht.

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Es sei nicht der Wille Gottes gewesen, so Leo Africanus im Prolog des Werks, in dem er sein Leben erzählt, dass sein Schicksal in ein einziges Buch geschrieben werde. Nach dem Rhythmus des Meeres habe es sich entfalten müssen, Welle auf Welle. An jeder Kreuzung habe es den Ballast einer Zukunft abgeworfen und ihn mit einer anderen versorgt. An jeder Küste habe es seinen Namen mit dem einer zurückgelassenen Heimat verknüpft.

Geboren wird Leo Africanus kurz vor der Vollendung der Reconquista in Granada. Wenig später flieht die Familie nach Fez, damals Hauptstadt des Fürstentums Marokko. Er studiert in einer Madrasa, arbeitet in einem Hospital für Geisteskranke, unternimmt mit seinem Onkel im Dienste des Fürsten eine diplomatische Mission, die ihn nach Timbuktu führt, später andere, die ihn bis Konstantinopel führen. Eine Intrige zwingt ihn, Fez zu verlassen. In Kairo findet er seine große Liebe. Nach dem Zusammenbruch des Mameluckenreiches wird er während einer Seereise von Seeräubern gefangen, als Sklave nach Rom gebracht und dem Papst als Geschenk überbracht. Der erhebt ihn zu seinem Berater. Er konvertiert zum Christentum, verfasst eine Beschreibung des Inneren von Afrika und eine Geschichte seines Lebens.

Die Geschichten, in denen er jeweils vor- und hervorkommt, schreiben sich nicht fort. Seine Weisheit, so sagt er rückblickend, habe in Rom geblüht, seine Leidenschaft in Kairo, sein Zorn in Fez, und seine Unschuld blühe noch immer in Granada. Umgekehrt gelesen, ergibt sich jedes aus einem Auslöschen dessen, was aus dem Vorangegangenen hätte werden können. Der Rhythmus des Meeres bezeichnet eine Veränderung der Dinge, die sich nicht in Erwartungen fügt. Man nenne ihn jetzt Afrikaner, so heißt es am Anfang des Prologs, obgleich er nicht aus Afrika komme, auch nicht aus Europa oder Arabien, man nenne ihn auch Granadaer, Fassi, Zayyati, er aber komme aus keinem Land, keiner Stadt und von keinem Stamm. Er sei der Sohn der Straße, sein Land sei die Karawane, sein Leben die am wenigsten erwartete aller Reisen.

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Was Leo Africanus in epischer Großausstattung durchlebt, ist der Sache nach so selten nicht. Der Sache nach ist es eher das ganz Alltägliche. Die Einsicht, dass das Erlebte und zu Erwartende dem Rhythmus des Meeres weit mehr entspricht als einer Geschichte, die sich in ein einziges Buch fügt, kann man als eine der möglichen Formen ansehen, in denen das Gewahrwerden von Endlichkeit stattfindet. Die Rede von der Karawane wäre dann der Versuch, mit diesem Gewahrwerden umzugehen, es nicht zu der Beunruhigung und Zukunftsangst kommen zu lassen, die sich daraus nahezu zwangsläufig zu ergeben scheint.

Indem wir haltendes Gehaltenwerden sind, liegt es in unserer Hand, anderen und anderem das Hervorkommen zu ermöglichen oder wenigstens zu dessen Ermöglichung beizutragen. Was immer uns begegnet, um uns ist, worauf immer wir stoßen, es liegt auch an uns, was daraus wird, ob überhaupt etwas daraus wird. Die Situation, in der wir uns je und je befinden, prägen wir zu einem nicht geringen Teil selber. Dieses haben wir hervorkommen lassen, jenes dagegen, an dem uns jetzt liegen würde, kaum beachtet, sich selber oder anderen überlassen, so dass es für uns nun verloren ist. Die Weise, in der wir so unsere Welt prägen, wird sich vermutlich auch darauf auswirken, wie wir von dieser gehalten werden. Dennoch liegt das Gehaltenwerden nicht in unserer Hand. Wir können uns nicht selber halten. Auch darauf, wie es uns hält, was von dem also, das sich in uns regt und entsteht, gehalten wird, haben wir nur einen sehr begrenzten Einfluss. So sehr wir uns auch bemühen, die Welt zum Blühen zu bringen, das Gehaltenwerden, das wir sind, können wir nicht hervorbringen. Es stellt sich ein, so und so, und solange es sich eben einstellt.

So wie es sich einstellt, und solange es sich einstellt, kommen wir hervor. Autoren der Geschichten, in denen wir selber hervorkommen, können wir nicht sein. So richtig deutlich wird uns dies erst, wenn wir unserer Endlichkeit gewahr werden. Man kann auch sagen, es sei selber ein Aspekt dieses Gewahrwerdens.

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Leo Africanus bestreitet nicht, in Granada geboren zu sein. Nach dem Prolog erzählt er es selbst. In vier Büchern erzählt er von einem Gehaltenwerden, das sich an vier Orten einstellte. Er erzählt, wie es sich einstellte, wie er hervorkam, wie er anderen ein Hervorkommen ermöglichte, und wie das Gehaltenwerden dann jeweils abbrach. Noch bevor er all dies erzählt, sagt er aber, er komme aus keiner Stadt, mithin auch nicht aus Granada. Ein wenig weiter im Prolog heißt es, aus seinem Munde werde man Arabisch, Türkisch, Kastilisch, die Berbersprache, Hebräisch, Latein und Vulgärlatein hören. Alle Zungen und Gebete seien die seinen, er aber gehöre keiner Sprache und keinem Gebet. Er gehöre nur Gott und der Erde. Zu ihnen werde er eines baldigen Tages zurückkehren.

In Granada also wurde er in ein Gehaltenwerden hineingeboren, in Fez, Kairo und Rom stellte sich jeweils ein Gehaltenwerden ein. Nach jedem Abbrechen des Hervorkommens kam es, so lange es dann währte, zu einem weiteren Hervorkommen. All dies stellt er nun in ein vorgelagertes Kommen und Gehaltensein zurück. Damit nimmt er den Abbrüchen, von denen jeder ein schlechthinniges Ende hätte sein können, den Schrecken. Ist das Hervorkommen zurückgestellt in ein vorgelagertes Kommen, so ist das Abbrechen des Hervorkommens ein Zurückfallen in dieses. Mit diesem Zurückfallen wird aus dem vorgelagerten Kommen die Rückkehr in das Gehaltensein, von dem es ausging.

Sollte dem tatsächlich so sein, ruht das Hervorkommen, das davon abhängt, ob sich ein Gehaltenwerden einstellt oder nicht, das also in jedem Augenblick abbrechen kann, auf einem Gehaltensein auf, das sich nicht erst einstellen muss, weil es immer da ist, so besteht, wenn wir unserer Endlichkeit gewahr werden und damit der immer drohenden Möglichkeit solcher Abbrüche, kein Grund zur Beunruhigung. Ist dem aber so?

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Kann man so fragen? Was sollte tatsächlich hier heißen? An welche Tatsachen, oder deren Fehlen, könnte man appellieren? Wie sollte man anders fragen? Sollte man etwa überhaupt nicht fragen? Bestünde dann nicht die Gefahr, mit leeren Worten zu hantieren? Worin aber bestünde nun wiederum diese Gefahr? Was wäre, wenn die Worte leer wären, und was, wenn sie es nicht wären? Wären sie leer, so bliebe wohl der Schrecken, ganz so, als wären sie überhaupt nicht da. Man könnte sie noch so oft hören, lesen oder gar selber sprechen, aus dem Gewahrwerden unserer Endlichkeit ergäbe sich die Beunruhigung, deren Nichtigkeit doch die Botschaft dieser Worte ist. Haben wir damit das gesuchte Kriterium gefunden? Genügt ein einfacher Test, durchgeführt an uns selber und auch, um objektiv zu sein, an anderen? Wäre alles so, wie die Worte sagen, wenn es ihnen gelänge, bei einer hinreichend großen Zahl von Testpersonen die Unruhe zu beseitigen? Wären die Worte leer, wenn ihnen dies nicht gelänge?

Sie ist weithin bekannt, die Rede von einem vorgängigen Gehaltensein, das sich nicht erst einstellen müsse, weil es immer schon da sei, von einer Rückkehr, die sich in unseren Zusammenbrüchen und Abbrüchen verberge, vom Irrtum, von unseren Blindheiten und Stumpfheiten, auf denen all unsere Beunruhigungen beruhten. Fast jeder hat sie in irgendeiner Schule gelernt. Nahezu alle Worte, mit denen wir gewohnt sind, von einem Höheren zu reden, einem Höheren in uns und einem Höheren überhaupt, gehören dazu. Dennoch wird man nicht sagen können, wir alle fühlten uns so, wie sich jemand fühlen müsse, der in einem unerschütterbaren Gehaltensein ruht und darum auch weiß. Freilich ist dies eine der Fragen, bei denen ein höchstes Maß an Aufrichtigkeit uns selber gegenüber gefordert ist. Es könnte sein, dass der eine oder der andere sich tatsächlich so fühlt, aus diesem Gefühl heraus auch lebt, die Frage aber, auch sich selbst gegenüber, dennoch verneint. Ausschließen lässt sich hier nichts. Die Welt aber sähe anders aus, wenn das Gefühl solchen Gehaltenseins mehr wäre als die immer mögliche Ausnahme. Dennoch gibt es sie, diese Worte. Man muss sie einmal als nicht leer erfahren haben. Was hat es da gegeben, das es nun nicht mehr gibt, oder zumindest nicht mehr im gleichen Maße? Aus welcher Erfahrung bezogen sie ihr Gewicht?

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Das Gehaltenwerden, das sich einstellt oder auch nicht, ist eine in hohem Maße lokale Angelegenheit. Gehalten werden wir von Menschen, die da sind, und auch wir können andere nur halten, soweit sie da sind. Stellt sich ein Gehaltenwerden ein, so kommen wir an dem Ort, an dem wir sind, zurecht. Wir wohnen dort, gehören zu ihm. Das Abbrechen des Gehaltenwerdens meint, dass wir an dem betreffenden Ort nicht mehr zurechtkommen, wie die Juden und Moslems in Granada nach der Reconquista, wie Leo Africanus nach der Intrige in Fez, oder wie die Anhänger der Mamelucken in Kairo nach der Eroberung der Stadt durch die Ottomanen. Stellt sich kein Gehaltenwerden ein, so findet einer keinen Ort an dem Ort, an dem er ist. Bricht es ab, so hat er dort keinen Ort mehr. Das Abbrechen des Gehaltenwerdens ist zwar nicht das gleiche wie das Verlassen oder Verlassenmüssen eines Ortes, in dem man wohnte, doch es lässt sich von der Erfahrung solchen Verlassens oder Verlassenmüssens her beschreiben.

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Verlässt man einen Ort, so gerät man in die Zone zwischen den Orten. Welche Erfahrungen man dort macht, hängt davon ab, wie diese Zone verfasst ist. Während der gesamten menschlichen Geschichte, bis in die jüngste Zeit noch, war sie die Zone der langen Wege. Gemeint ist nicht der zu überbrückende Abstand in Kilometern oder Meilen. Gemeint ist die Zeit, die man benötigte, um an einen anderen Ort zu gelangen. Jenseits der Nachbarschaft handelte es sich wenigstens um Tage oder Wochen, nicht selten um Monate, gelegentlich auch um Jahre. Die Zeit, die man in der Zone der langen Wege verbrachte, war zu lang, um den Erfahrungen, die man dort machte, lediglich den Rang von Zwischenspielen zuzumessen.

Sind die Wege lang, so bleibt der Ort, der verlassen wurde, im Rücken lange gegenwärtig. Die Qualität seiner Gegenwart ändert sich ständig. Zunächst kann man ihn noch hören, in seinen Ausläufern und Vorposten sehen. Auf belebten Straßen spiegelt er sich lange in den Gesichtern und den sich beschleunigenden Schritten derer, die sich ihm von der Gegenrichtung her annähern. Nahezu unmerklich werden die Entgegenkommenden dann weniger, ihre Schritte langsamer. Der Ort, an dem man war, ist im Rücken noch immer fühlbar da, obgleich auch beim Umdrehen längst nicht mehr sichtbar. Langsam verschwimmt dann die gefühlte Gegenwart mit der erinnerten, wird selber erinnertes Gefühl. Dann wird es still. Die Gegenwart des Ortes, an den man sich zu begeben hofft, hat noch nicht begonnen. Man befindet sich im innersten Bereich der Zone zwischen den Orten.

Es ist ein Dazwischen im Dazwischen. Man bewegt sich, die Szenerien wechseln, dennoch hat man den Eindruck, sich immer am gleichen Ort zu befinden. Leo Africanus beschreibt ihn als ein vertikales Dazwischen, das nämlich zwischen Erde und Gott. Man könnte ihn sicherlich ganz anders beschreiben und hat es auch getan. Wird der Ort, den man erreichen will, in ersten Vorzeichen spürbar, so hat man das innerste Dazwischen bereits verlassen. Erreicht man ihn schließlich und stellt sich das erhoffte Gehaltenwerden ein, so treten die Erfahrungen, die man beim Hervorkommen dort macht, ganz in den Vordergrund. Die Erfahrungen, die im innersten Dazwischen gemacht wurden, verblassen. Verloren gehen sie wohl kaum. Solange mit dem haltenden Gehaltenwerden alles den gewünschten Gang geht, liegen sie brach. Bricht das Gehaltenwerden aber ab, so werden sie zu einer Art Rückfallposition.

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Solch ein Abbrechen, wie gesagt wurde, ist wie das Verlassenmüssen eines Ortes. Dies ist nicht mit dem Aufbruch an einen anderen Ort zu verwechseln. Beim Verlassenmüssen gibt es zunächst nur einen Ort im Rücken, aber keinen, und sei er noch so fern, dem man entgegengeht. Wäre die Zone zwischen den Orten nur ein von ihren jeweiligen Grenzen Aufgespanntes, so stünde sie dem Verlassenmüssen nicht offen. Die Erfahrung des innersten Dazwischen aber bekundet, dass diese Zone gleichsam in sich ruht, im innersten Dazwischen eben. Wer einen Ort verlässt, um einem andern entgegen zu gehen, durchquert es. Wer einen Ort verlassen muss, geht ihm entgegen. Es kann dann sein, dass dort ein anderer Ort aufscheint, an dem sich ein Gehaltenwerden einzustellen verspricht. Es kann aber auch sein, dass dies ausbleibt. In der Sprache des Leo Africanus entspräche dies der letzten Rückkehr.

Business Class

Die Verfasstheit der Zone zwischen den Orten hängt ab von der Infrastruktur und den vorhandenen Verkehrsmitteln. In den letzten eineinhalb Jahrhunderten, insbesondere aber in den letzten Jahrzehnten, haben beide sich grundlegend gewandelt. Dies trifft nicht für alle Teile der Welt zu. Auch stehen nicht jedem alle vorhandenen Verkehrs- und Kommunikationsmittel zur Verfügung. Wer etwa in der Nähe eines Hangars der Concorde wohnte oder darin sogar täglich Staub saugte, flog nicht unbedingt zum Einkaufen nach New York. Die langen Wege gibt es also noch. Wenn einer sich aber zu Fuß oder auf einem Esel auf einer staubigen Straße dahinmüht, während klimatisierte Geländewagen vorbeiziehen und hoch oben vielleicht ein Düsenflugzeug, so hat der lange Weg etwas Defizitäres. Wer als Trekker spöttisch den Geländewagen nachschaut und dann einen Pfad einschlägt, auf dem sie nicht fahren könnten, inszeniert die Länge seines Wegs. Die langen Wege gibt es nur noch als defizitäre, inszenierte oder anderweitig besonders qualifizierte Gestalt der Zone zwischen den Orten. Die Gestalt, auf die alle besonderen Qualifikationen sich als Abweichungen beziehen, charakterisiert die Länge der Wege in Stunden. Zehn Stunden gelten schon als langer Weg, fünfzehn Stunden nähern sich der Grenze des Erträglichen.

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Reden wir von den Vielfliegern. Ihre Zahl nimmt zu. Viele fliegen zum Vergnügen, viele aber, weil berufliche, private und anderweitige Arrangements es verlangen. Auch letztere empfanden einmal Vergnügen am Reisen, ansonsten hätten sie sich nie in die betreffenden Arrangements begeben, und gelegentlich, wenn auch sehr selten, empfinden sie es noch immer. Meistens fliegen sie wie jemand, der gelernt hat, mit Zeiten des Wartens zurechtzukommen, die sich immer wiederholen und nicht vermeiden lassen. Vergnügen kann man daran nicht empfinden, Abneigung verbraucht unnötig Kraft. Am besten ist es, die Frage tätig zu suspendieren. In dieser Gestimmtheit jenseits von Vergnügen und Abneigung könnte so ein Vielflieger der zweiten Art sich durch Leo Africanus inspirieren lassen und sagen, seine Heimat, sein Land, sein nahezu ständiger Aufenthaltsort sei das Flugzeug.

Auch wenn zehn Stunden für sie ein langer Weg sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass Vielflieger, aufs Ganze etwa eines oder einiger Jahre gesehen, ebenso viel Zeit auf Reisen verbringen wie die Reisenden der Zeit der langen Wege. Ehedem aber verbrachte man nach Verlassen eines Ortes jeweils ein lange Zeit in der Zone zwischen den Orten. Verglichen damit hat die Zeit des Aufenthalts in dieser Zwischenzone heute lediglich die Länge eines mehr oder weniger verzögerten Augenblicks. Wer viel auf Reisen war, lebte ehedem einen großen Teil seines Lebens zwischen den Orten. Wer heute viel auf Reisen ist, lebt an vielen Orten, unterbrochen immer wieder durch Augenblicke des Ortswechsels.

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Zum haltenden Gehaltensein gehört das materielle Auskommen. In letzter Instanz ist es ein Aspekt des Gehaltenseins. Es stellt sich ein oder auch nicht. Zwar liegt einiges in unseren Händen. Nicht immer aber ergibt sich aus Ackern und Säen das Ernten. Auch wenn es sich ergibt, ist man damit noch längst nicht bei der gesicherten Mahlzeit.

Was und wieviel in unseren Händen liegt, unterscheidet sich von Ort zu Ort. Bekannt war das immer, zumindest als Vermutung. Die großen Erkundungs- und Wanderungsbewegungen, auch Märchenträume wie der vom Schlaraffenland, in dem alles in unseren Händen liegt, wenn wir diese nur geringfügig ausstrecken, künden davon. Heute lässt es sich statistisch genau nachlesen. Ein visionär-schimärisches Quasi-Äquivalent der Statistiken ist in Bildern überall gegenwärtig.

Wer sein Auskommen nicht findet dort wo er ist oder gerne ein besseres hätte, dem rät man zum Ortswechsel. Aus der veränderten Verfasstheit der Zone zwischen den Orten ergibt sich dieser Rat nahezu von selbst. Die ihn aussprechen und arrangieren, was nötig ist, ihn zu befolgen, verkörpern den Rat gleichsam ortsspezifisch. Er hat viele Gesichter. Eines davon ist die geballte Information internationaler Arbeitsämter oder entsprechender Einrichtungen, zusammen mit den dazugehörigen Verfahren der Anerkennung von Qualifikationen, der Bewerbung, der Vorbereitung und auch der grenzüberschreitenden sozialen Absicherung. Ein anderes sind die Angebote und Praktiken organisierter Schlepper.

Die Proportion von Mühe und Resultat, was also und wieviel in unseren Händen liegt, unterscheidet sich nicht nur von Ort zu Ort, sie unterliegt auch ständigem Wandel. Dieser kann, wie die Geschichte der Konjunkturen zeigt, drastisch sein. Wer klug ist, bereitet sich darauf vor und bezieht die Nutzung der kurzen Wege von vornherein in die Karriere- und Lebensplanung mit ein. Dazu gehören das Erlernen von Fremdsprachen, der Aufbau und die Pflege internationaler Kontakte, das routinemäßige Erkunden bestehender oder sich entwickelnder Optionen anderswo. Wo die Unsicherheit besonders groß ist oder zu sein scheint, bemüht man sich um eine doppelte oder auch mehrfache Staatsbürgerschaft. So wird es jederzeit möglich, der Konjunktur zu folgen, zumindest aber, sich ins Trockene zu retten.

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Die zunehmende Verfügbarkeit dieser Option hat eine Kehrseite. In den meisten Kulturen gilt es als Tugend, das zu tun, was die jeweilige Lage erfordert, ohne dabei von vornherein primär auf den persönlichen Nutzen zu achten. Einen Disput darüber, was das Geforderte denn jeweils sei, gesteht man dabei durchaus zu. Keinem Disput unterliegt es aber, dass es das für die Lage, und dies heißt, für alle Beteiligten, Beste zu sein habe. Auch wenn strittig bleibt, was dies im gegebenen Fall sei, besteht über die genannte Tugend doch Einigkeit. Sie ist Grundlage des Streits und nicht dessen Gegenstand.

Die Sprache, die wir in diesen Überlegungen verwenden, versteht die Bemühung um das in einer gegebenen Lage Beste als Halten, als die Anstrengung, dem uns jeweils Begegnenden das Hervorkommen zu ermöglichen oder zu dessen Ermöglichung beizutragen. Das Halten liegt, anders als das Gehaltenwerden, in unserer Hand. Lassen wir es daran fehlen, so schneiden wir Möglichkeiten des Hervorkommens ab, so wie auch Möglichkeiten unseres Hervorkommens abgeschnitten werden, wenn sich für sie kein Gehaltenwerden einstellt. Dieses aber, das Gehaltenwerden, können wir auch durch ein noch so hingebungsvolles Halten nicht hervorbringen. Es muss sich einstellen. Die genannte Tugend besteht darin, das Halten nicht an einem erwarteten Nutzen für das sich Einstellen des Gehaltenwerdens zu messen.

Wer gelernt und Vorbereitungen dafür getroffen hat, die kurzen Wege zu nutzen, dem ist der Blick auf die Proportion zwischen der investierten Mühe und den persönlich fühlbaren Resultaten Routine. Zudem ist es ein unablässig vergleichender Blick, dem immer gegenwärtig ist, zu welchen Resultaten ein ähnliches Maß an Mühe anderswo führen würde. Die genannte Tugend wird da nicht leicht fallen. Stellt das Gehaltenwerden sich nur mäßig ein, wird es fragiler und enger, so besteht immer die Versuchung, die Lage vorübergehend oder gänzlich aufzugeben und den Ort zu wechseln. Durch kumulative Effekte kann dies zu rapiden Verarmungen ganzer Regionen führen. Auch wenn dies nicht eintritt, ist eine generelle Atmosphäre der Verflachung, der Beschränkung des Haltens und auch des Gehaltenwerdens auf rasch und kurzfristig sich entfaltende Möglichkeiten wahrscheinlich. Wer an vielen Orten lebt, kommt an allen immer nur ein Stückweit hervor. Wenn viele an vielen Orten leben, wird das Stückweit, für das sich jeweils ein Gehaltenwerden einstellt, immer kürzer.

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Die Worte, so war gesagt worden, die von einem vorgängigen Gehaltensein reden, werden heute weitgehend als leer erfahren. Beim Umgang mit der Beunruhigung, die sich aus dem Gewahrwerden unserer Endlichkeit ergibt, helfen sie wenig. Der Vorbehalt, man könne da allerdings nicht generalisieren, wurde betont und im Blick behalten. Eine Welt aber, in der diese Worte, die nahezu jeder in der Schule gelernt hat und noch lernt, Gewicht und Wirkung hätten, sähe anders aus. Davon gingen wir aus. Da es diese Worte nun aber gibt, müssen sie einmal als nicht leer erfahren worden sein, und sei es wenigstens von denen, die sie formuliert und gedacht haben. Die Frage war dann, was es wohl gewesen sein mag, das ihnen Gewicht und Wirkung gab.

Die Überlegung, die wir über die Zeit der langen Wege anstellten, gab einen Hinweis. Als die Wege lang waren, war eine Erfahrung geläufig und verfügbar, die wir als Erfahrung des innersten Dazwischen charakterisierten. Das Verlassen eines Ortes war immer eine Rückkehr in dieses. Die Möglichkeit dieser Rückkehr war immer gegenwärtig. Die Worte eines vorgängigen Gehaltenseins erwuchsen aus der Gegenwart dieser Möglichkeit.

So jedenfalls könnte es gewesen sein. Nicht wenige derer, von denen die Worte formuliert wurden, man nennt sie gelegentlich Denker, haben sich immerhin ausgiebig auf langen Wegen aufgehalten. Auch der Ort des Denkens wird oft so beschrieben wie das innerste, das andere Dazwischen. Das Sichtbare, Hörbare, Fühlbare liegt zurück oder fern, ist als sich wandelnde Szenerie zugleich mit einem Stillstehen doch da. Die Wirkung dieser Worte, als es so eine Wirkung gab und falls es sie gab, ließe sich entsprechend aus einer von ihnen erzeugten Aktualisierung der Erfahrung des innersten Dazwischen verstehen. Wer sie hörte, las oder sprach, bewegte sich zurück in die Erfahrungen, die er bei der Durchquerung des innersten Dazwischen gemacht hatte. Diese Bewegung zurück brach das Entstehen von Beunruhigung im Augenblick des Gewahrwerdens von Endlichkeit ab.

Haben die Worte, die wir für den Umgang mit dem Gewahrwerden unserer Endlichkeit gelernt haben, nur für den Gewicht und Wirkung, der eine Erfahrung gemacht hat, die sich auf Grund der gewandelten Verfasstheit der Zone zwischen den Orten nicht mehr machen lässt, sind wir diesem Gewahrwerden gegenüber dann wortlos, sprachlos, hilflos? Ein Teil der Geschichte des letzten Jahrhunderts lässt sich aus dem Bemühen verstehen, der Rede von einem vorgängigen Gehaltensein auf eine Weise Gewicht zu verleihen, die ohne die genannte Erfahrung auskommt. Im letzten Drittel des Jahrhunderts demonstrierte man dann im Detail, dass diese Rede in der Tat nicht anders könne als zu sein, wie sie für jeden tatsächlich ist, der versucht, mit ihrer Hilfe gegen die Beunruhigung beim Gewahrwerden der Endlichkeit anzugehen, eben gewichtslos.

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Wie aber steht es dann um die Weisheit? Müssen wir uns vielleicht mit der Beunruhigung abfinden, die sie uns zu nehmen versprach? War die Erfahrung des innersten Dazwischen, damit auch die Weisheit, die aus ihr erwuchs, eine nunmehr enthüllte Illusion? Eine Erfahrung war es doch. Also keine Illusion? Eine Illusion und keine. Dazwischen eben.

Literatur:

AMIN MALALOUF: Leo the African, übersetzt von Peter Sluglett, London (Abacus Books), 1994. Französisches Original erschienen 1986. Dem Autor lag nur die englische Fassung vor.