Judith Butler: Gefährdetes Leben. Politische Essays
Übersetzt von Karin Wördemann
Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005, 179 S.

Es gehörte schon immer zum intellektuellen Selbstverständnis von Judith Butler, Fragen des Politischen und der politischen Handlungsfähigkeit in ihr theoretisches Denken einfließen zu lassen. Sie hat mit ihren Texten dort eingegriffen, wo feministische Politik, homosexuelle, ›queere‹ und lesbische Identitäten diskriminiert werden, sie hat angesichts verletzender und demütigender Rede nach Möglichkeiten politischer Neuartikulation gesucht und sie hat gezeigt, wie sich Widerstand gegen die Verleugnung öffentlicher Trauer um die AIDS-Toten in Afrika und den USA formieren konnte.

Mit ihrer neuen Essaysammlung Gefährdetes Leben nimmt die Philosophin nun das verschärfte politische Klima der Vereinigten Staaten zum Anlass für eine kritische Intervention. In fünf Aufsätzen versucht sie aufzuzeigen, dass die Erfahrungen von Verlust und Verwundbarkeit auch weniger gewaltförmige Reaktionen auf den Schock vom 11. September 2001 zugelassen hätten. Jedes Mal, wenn wir unserer Verletzlichkeit gewahr werden, so Butler, besteht die Chance auf Einsicht in unsere genuine Abhängigkeit von anderen. Anhand des Aufkommens von Zensur und Anti-Intellektualismus, am Beispiel der ungleichmäßigen ›Betrauerungswürdigkeit‹, die Gewaltopfern zugestanden wird, am entrechteten Status der Gefangenen von Guantánamo Bay und an neuen Formen des Antisemitismus-Vorwurfs diskutiert die Autorin, wie sich aus dieser Einsicht auch Verantwortung uns selbst und den anderen gegenüber entwickeln und Gewalt zurückgewiesen werden könnte.

Das von der US-Administration ausgegebene Motto »entweder ihr seid für uns oder ihr seid für die Terroristen«, bedroht nicht nur eine ausgewogene Medienberichterstattung sondern auch einen Grundwert der Vereinigten Staaten: die Redefreiheit. Es herrscht eine Meinungshoheit, so Butler, die Dissens unterdrückt und Erklärungsversuche als Entlastungsstrategien definiert. Der Aufschrei von konservativen Republikanern und Liberalen, dass es für die Taten vom 11. September keine Entschuldigung gebe, hat nach Butler dazu geführt, dass die Suche nach Erklärungen und Ursachen von Gewalt weitgehend tabuisiert wird. Stattdessen habe die nationalchauvinistische Rede von »excuseniks« und »refuseniks« bewirkt, dass es für diejenigen, die die öffentliche Vergeltungs- und Kriegslogik nicht teilen, nicht nur schwer geworden sei, sich überhaupt in den Massenmedien zu äußern, sondern, dass ebenso mit Hysterisierung, und dem Verlust des Arbeitsplatz gerechnet werden müsse.

Im Zusammenhang mit der Frage, wie in der Öffentlichkeit eine größere Stimmenvielfalt geschaffen werden könnte, entwickelt Butler eine psychoanalytisch informierte Perspektive auf den amerikanischen Unilateralismus und dessen Defensivstrukturen. Die Weigerung der USA, sich aus der Position der dritten Person zu schildern oder Darstellungen anzuerkennen, die in der zweiten Person formuliert werden, rühre von der Erfahrung physischer Verletzlichkeit und des Verlustes her. Die narzisstische Wunde, das Trauma des 11. September werde damit kompensiert, die Ereignisse immer vom Standpunkt der ersten Person aus zu deuten. Jede Form der Veränderung der ›Erzählperspektive‹ werde als Teil der Verwundung, als Infragestellung der Souveränität der USA erlebt und durch die Behauptung der eigenen weltpolitischen ›Führungsrolle‹und der ›Notwendigkeit‹der Selbstverteidigung abgewehrt. Daher, so Butler, gebe es keine vergleichsweise drastischen Bilder von Opfern der Kriegsgreuel in Afghanistan oder dem Irak, daher auch würden Erklärungen, die zeitlich hinter den 11. September zurückgehen, affektiv als Entlastungsversuche wahrgenommen.

Diese komplizierten Verwicklungen von Gewalt, Trauer, Politik führen zu einem weiteren Bündel von Fragen: Wie wird Trauer zu einer Ressource der Politik und welche Gewalt bringt die »Hierarchie der Trauer« ihrerseits hervor? Die vermenschlichenden und oftmals stereotyp heroisierenden Darstellungen von toten oder verletzten Angehörigen gehen Hand in Hand mit der öffentlich inszenierten Entmenschlichung der anderen. Zunächst sei es einleuchtend, Todesanzeigen und Nachrufe regelrecht als performative Akte der Nationenbildung zu betrachten, bei denen beispielsweise illegal Beschäftigte, Unverheiratete und erfolglose Menschen ausgegrenzt werden. Auf einer grundlegenden Ebene sei es allerdings keineswegs klar, unter welchen Bedingungen es überhaupt als ein »unerträglicher Verstoß«, ja als eine ›Beleidigung‹ empfunden werden könne, um den Verlust von Menschen zu trauern, die nicht zur eigenen Vorstellung des Menschlichen passen. Als ob sie schon immer tot, nie wirklich existent gewesen wären, wird das Leben der ›Anderen‹ nicht anerkannt. Der eigenen, an ihnen verübten Gewalt scheint nicht oder nur sehr selektiv gedacht werden zu können. Das Verbot, die Folterpraktiken an Kriegsgefangenen wie auch die Folgen amerikanischer Militäraktionen zu zeigen, oder allenfalls beiläufig als eigene Gewaltsamkeit, könne aber nicht ausschließlich auf der Darstellungsebene erklärt werden, so Butler. Die intellektuelle Herausforderung, auch die hinter diesen Darstellungen stehenden »kulturellen Grammatiken«unserem Verständnis zugänglich zu machen, wäre eine Möglichkeit, gewissermaßen in einen Kampf um die Anerkennung von Verwundbarkeit einzutreten, um nicht anerkannte, entmenschlichte Subjekte aus ihrer Schattenexistenz herauszuholen. Umgekehrt müsse jedoch die allgemeine Norm der Anerkennung als Rahmen dienen, um die Verletzbarkeit unseres Lebens als Vorbedingung für ›das Menschliche‹allererst einsetzen zu können, so Butler.

Wie beschränkt unser Verständnis des Menschlichen gemeinhin ist, und dass ›wir‹ es nicht geschafft haben, unsere Vorstellung von Menschenrechten derart zu erweitern, dass sich unsere Humanität auch ernsthaft von anderen Werten ›angehen‹lässt, könne darüber hinaus auch an dem beunruhigenden Thema unbegrenzte Haft skizziert werden: »Ob wir in Momenten der Empörung und des Unverständnisses weiterhin einer universellen Konzeption der Menschenrechte Geltung verschaffen −  genau dann, wenn wir glauben, dass andere sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft gestellt haben −, stellt unsere eigene Humanität auf die Probe.« (S. 109)  Das Gegenteil sei aber momentan der Fall. Die neuen Richtlinien für Militärtribunale, die das US-Verteidigungsministerium zusammen mit dem Justizministerium am 21. März 2002 herausgegeben hat, haben sowohl in Hinblick auf die eigene Verfassung als auch auf die Protokolle internationalen Rechts eine Ausschließung »nicht-lebenswerter Leben« erzeugt, deren rechtlicher und politischer Status auf unbestimmte Zeit aufgehoben ist. Die inhaftierten Gefangenen von Guantánamo Bay unterliegen nicht dem Schutz des Völkerrechts, haben keinen Anspruch auf reguläre Gerichte und ordentliche Gerichtsverfahren, sondern sind der ›souveränen Entscheidung‹von Verwaltungsbeamten überlassen, die an keine Rechtsaufsicht gebunden sind. In dem Augenblick, wo den ›Häftlingen‹ in Guantánamo und AbuGraib die Möglichkeit genommen ist, über ihre vorrechtliche, inhumane und entmenschlichte Situation hinauszugelangen, kommt eine außergesetzliche Ausübung staatlicher Macht zum Zuge, die zwar nicht illegal ist, sich aber durch einen permanenten ›Notstand‹ im Namen nationaler Sicherheit zu rechtfertigen versucht. Rechtsstaatlichkeit wird zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber der Souverän strebt danach, in seinem Militärjustizapparat eine Konkurrenzform und ein Supplement politischer Legitimität zu etablieren, die keine Strukturen der Rechenschaftspflicht aufweist und auf eine zeitlich nicht befristete Verlängerung des Kampfs gegen den Terror hinausläuft.

Wenn von der US-Administration wiederholt behauptet worden ist, die Vereinigten Staaten agierten in ihrem Umgang mit Kriegsgefangenen ›im Geist‹ des Genfer Abkommens und ihre Internierungsmethoden würden diesem »entsprechen«, dann zeigt das Butler zufolge nicht nur, dass sie sich nicht an die eigenen verfassungsmäßigen Vorschriften, die die rechtmäßige Inhaftierung von Kriegsgefangenen regeln, gebunden fühlen. Die Regierung hat damit auch das Völkerrecht als unverbindliche Kraft hingestellt, die von ihr bestenfalls instrumentalisiert wird. Es ist zwar richtig, dass die Genfer Konvention bestimmte Kriegsgefangene nicht durch ihre Statuten schützt. Sie privilegiert Gefangene aus Kriegen zwischen anerkannten Staaten und versagt staatenlosen Gefangenen und Angehörigen nicht-anerkannter politischer Gemeinwesen Rechtsansprüche. Diese Differenz wird nach Butler jedoch in der politischen Rhetorik der Gegenwart gerne dazu benutzt, um Gewalt auch wertend auszuzeichnen.

Diejenige Gewalt, die von nicht staatszentrierten politischen Gebilden ausgeht, wird als illegitim und ›terroristisch‹  definiert, während gleichzeitig gewalttätige Reaktionen etablierter Staaten sanktioniert werden: »Wenn diese Gewalt Terrorismus ist anstatt Gewalt, wird sie als ein Handeln ohne politische Zielsetzung aufgefasst, oder sie kann politisch nicht gedeutet werden. Sie stammt, wie man sagt, von Fanatikern, von Extremisten, die keinen Standpunkt vertreten (...) und keinen Anteil an der menschlichen Gemeinschaft haben.« (S. 108) Nicht nur die in Guantánamo gefangen gehaltenen Menschen werden als »Tötungsmaschinen«, »Untermenschen«, als Menschen, die letztlich keine Menschen sind, hingestellt. Ganze Bevölkerungsgruppen wie die der arabischstämmigen Amerikaner werden ›zwecks‹Terrorbekämpfung einem rassistischen ›Profiling‹unterzogen, überwacht und mit einem Generalverdacht belegt. − Vor kurzem  (21.7.2005, Anm. D. H.) hat das amerikanische Repräsentantenhaus die Anti-Terror-Gesetzgebung, den seit dem 25.10.2001 erlassenen Patriot Act, verlängert und ermöglicht es damit weiterhin, potenziell ausuferndes Misstrauen und das ›Als-gefährlich-Erachten‹ um sich greifen zu lassen.

Butler bezieht ihre Kritik an der Mehrdeutigkeit der Vokabel ›Terrorismus‹ vorwiegend auf die USA. Sie weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass sich diese politische Rhetorik auch im russischen Kampf gegen tschetschenische Rebellen und im Umgang Israels mit Palästina und der Intifada wiederfinden lasse. Im Namen eines Kampfes gegen ›illegitime Gewalt‹ tendiere die repressive politische Stimmung in den Vereinigten Staaten dazu, Kritik an den »außerlegalen Tötungen« beispielsweise des israelischen Militärs und der »kolonialistischen Politik« des israelischen Regierungssystems zu ersticken. Butler beschreibt, wie der Vorwurf eines zwar nicht beabsichtigten, aber »effektiven Antisemitismus« vor allem jüdischen Kritikern eine unannehmbare Identifikation mit antisemitischen Einstellungen zumutet, wenn kein Unterschied zwischen Juden und dem Staat Israel gemacht werden darf. Die Unterstellung, Juden müssten mit dem Umgang Israels gegenüber den Palästinensern und einem aggressiv agierenden Zionismus einverstanden sein, bewirke eine Zensur israelkritischer Rede.

Derart sei gewissermaßen ein homogener Raum entstanden, der nicht nur die Pluralität jüdischer Meinungen unterdrückt. Auch ganz allgemein sei Dissens gegenüber den Handlungen des israelischen Staatsapparats, seiner militärischen Macht, seinen ungleichartigen Formen der Staatsbürgerschaft, seinen unkontrollierten Folterpraktiken, seiner Brutalität an den Grenzen und seinem ausgemachten Nationalismus derzeit nur auf die Gefahr hin möglich, gebrandmarkt und eingeschüchtert zu werden.
Sicher wäre es gewagt, Butlers Ausführungen zum Antisemitismus-Vorwurf in den USA und zum innenpolitischen Klima der Vereinigten Staaten einfach auf deutsche oder europäische Verhältnisse zu übertragen und die Parallelen, die man nur allzu oft zu erkennen glaubt −  was nicht weniger bedenklich stimmt −, zu überspannen. Was an Butlers Buch aber nebst ihren konzisen Analysen besticht, ist, dass sie sich dem Zeitgeschehen problembezogen und engagiert nähert. Dass ihre politische Aufmerksamkeit dabei von einem genuin ethischen Impetus getragen wird, den sie immer wieder der kritischen und philosophischen Reflexion unterzieht, ist an jeder ihrer Zeilen ersichtlich.

Wer sich darüber hinaus von Judith Butler auch als Philosophin überzeugen will, dem sei das fünfte Kapitel nahegelegt. Dort entwirft sie in Anlehnung an Emmanuel Lévinas Umrisse einer Ethik der Verletzbarkeit, die beim gefährdeten Leben des ›Anderen‹, auch des politischen Gegners, ansetzt. −  Bleibt zu hoffen, dass das Buch nicht nur ein zahlreiches, sondern auch gleichermaßen engagiertes Publikum findet. Gerade nach den Anschlägen von Madrid und London kann es demokratische Kräfte nur darin bestärken, die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten kritisch in den Blick zu nehmen. Und das vielleicht auch dann noch, wenn einmal ein Klima der Angst dazu geführt haben sollte, dass kritische Ansichten nur noch um den Preis der Denunziation geäußert werden können.

Dirk Hommrich