Ronald Perlwitz
Die Nation der Dichter:
Novalis – Hölderlin – Adonis

Er ist wie der Wind, der sich nicht zurückzieht, und wie das Wasser, das nicht zur Quelle heimkehrt. Beginnend bei sich, schafft er seinesgleichen – er hat keine Vorfahren, und seine Wurzeln sind in seinen Schritten.

So der syrische Dichter Adonis im Ersten Psalm der größtenteils um 1960-61 verfassten Gesänge Mihyârs des Damaszeners. Mihyâr, das dürfen wir eingangs festhalten, ist ein Kunstprodukt, mehr noch ein Alter Ego, das mit seinem Schöpfer korreliert und ihm namentlich eines voraus hat: die fließende, ja fliehende Identität, die Fähigkeit, sich in der Sprache zu verflüchtigen und eine Leere zu erobern, die sich durch ihre unfassliche Qualität auszeichnet: »O Prinz der Leere, o Sprache, in die sich Winde und Fernen ergießen« (Adonis, Mihyâr, 10). Adonis selbst gesteht, die Gesänge seiner doch so klar geographisch verorteten Figur nicht etwa in Damaskus, dem vermeintlichen Ausgangspunkt damals besonders virulenter großsyrischer Machtvisionen, geschrieben zu haben, sondern »unter dem grauen aber dennoch leuchtenden Himmel von Paris«. Zum nationalen Mythos jedenfalls taugt seine mythopoetische Konstruktion nur bedingt. Mihyâr ist »Prophet und Zweifler« und stellt in dieser Funktion ein Bindeglied zwischen Leben und Tod dar. Nichts umzäunt ihn denn die Grenzenlosigkeit allen Lebens und dementsprechend ist sein ganzes Wesen ein »Vorübergehen«, von der Geburt zum Tode, von einem Tod zum anderen. Mihyâr ist eigentlich viel mehr als ein lyrisches Ich, er kommt als lyrische Potenz daher, als uneingeschränkte Möglichkeit der inneren Welt des Dichters. Größe, Maßlosigkeit zeichnen ihn aus und heben ihn über alles Bestehende. Metamorphosen sind sein Geschäft und seine Worte »Wanderworte«, in denen es sich gut einrichten lässt, die den Weg des Aufbruchs anzeigen, aber nie den einer Rückkehr. Adonis gibt mit Mihyâr in erster Linie eine Richtung vor, wirft eine »Himmelsleiter« aufs Papier und entrückt gleichzeitig den Himmel ins Ortlose. Aus dieser Bewegung heraus lässt sich dann auch dem beschränkten Leben der Spiegel vorhalten, lassen sich Argumente »gegen das Zeitalter« formulieren und sogar eine Magie »für unser prostituiertes Land« (Mihyâr, 63) entwickeln.

Womit wir beim Thema wären: dem Nationalbewusstsein eines Dichters, der seine Sänger-Figur zwar ins Universelle hinaufsteigert, dabei aber die nationale Prädikation keinesfalls vergisst, was zunächst und in Anbetracht des bisher Gesagten eher verwunderlich wirkt. Mihyârs raison d’être liegt im Geheimnis des Schöpferischen und in der revolutionären Poetik seines Autors begründet. Dennoch ist er ›Damaszener‹. Er mag noch so viel Paris in sich tragen, in seiner Figur werden auch konkrete Kapitel arabischer Geschichte, das Verhältnis Orient-Okzident sowie die Thematik des syrischen Nationalbewusstseins abgehandelt. Deswegen gilt es, nach den vermeintlichen ›Wurzeln‹ zu fragen, nach ihrer Berechtigung. Diese Frage soll uns beschäftigen, denn Mihyârs Wurzeln sind eben nicht wie im Psalm angekündigt nur in der Sprache. Im Gedicht Ein Wunsch sehnt er sich noch nach anderen, nach denen einer Zeder und damit nach einer Verankerung in heimatlicher Erde. Auch ein Prophet braucht anscheinend ein Land für seine Verkündigung: »Nähme von den Bäumen der Tiefe und Jahre / Eine Zeder mich an die Brust […] Hätte ich ihre Wurzeln und wäre mein Gesicht / Hinter ihrer traurigen Rinde verankert / Dann wäre ich die Wolken und der Strahl am Horizont / Diesem verlässlichen Land.« (Mihyâr, 35)

Die Aussage indes ist konjuktivisch gefasst. Es handelt sich um die Projektion eines neuen Zusammenhalts von Dichter und Heimat, einer zukünftigen – weil eben noch nicht realisierten – Einheit von Dichter und Nation. Doch ehe wir uns weiter mit dieser Wunschvorstellung beschäftigen, erscheint es angebracht, den Schriftsteller Adonis ein wenig umfassender vorzustellen, denn schon sein Pseudonym ist Programm. Geboren wurde Alî Ahmad Sa’îd Esber in einem kleinen Dorf Nordsyriens. Zur persönlichen Legende des Dichters gehört das höchstwahrscheinlich fiktive Geburtsdatum – der 1ste Januar 1930 aufgrund der mit diesem Datum verbundenen Erneuerungssymbolik – sowie das wunderbare aber diesmal sehr reelle Märchen von der Entdeckung und Förderung des 13-jährigen Dichters durch den Syrischen Staatspräsidenten Choukri al-Kouatly. Endgültig komplettiert wurde die schicksalhafte Biographie dann 1947 durch die Wahl des nom de plume Adonis (Adûnis), der das Werk des jungen Dichters nicht nur auf einmal für die Verleger interessant machte, sondern auch unter die Auspizien eines Mythos stellte, der traditionelle arabische Verwurzelung mit abendländischem Bildungsgut kombinierte. Adonis also, der Geliebte Aphrodites, der Jüngling, der nach seinem Tod durch einen Eber zur Fruchtbarkeitsinkarnation mutierte, sollte einem Werk vorstehen, in dem der Dichter von Beginn an seinen Willen nach Metamorphose, seine Suche nach den zwischen Leben und Tod, Ende und Neuanfang rankenden Verbindungslinien artikuliert. Dabei darf der griechische Adoniskult nicht die Herkunft der Adonis-Gestalt verbergen, deren Tod – mitten im Sommer – bereits in der babylonischen und dann in der phönizischen Tradition für Ende und Neubeginn stand. Der Ende der 40er Jahre in einer von großsyrischen Träumen getragenen Partei (der Parti Populaire Syrien) engagierte Dichter hätte seinen Künstlernamen nicht besser wählen können, schließlich enthielt er sowohl den Gedanken nationaler Auferstehung, als auch eine klar umrissene vorderorientalische Genealogie, die die syrischen Ansprüche, den Libanon, Israel, Jordanien und Zypern mit sich zu vereinen, anscheinend rechtfertigte.

In den fünfziger Jahren findet dann mit dem Mihyâr bei Adonis ein Umdenken statt, das in gewisser Hinsicht ebenfalls in nuce in seinem Künstlernamen vorhanden war. Die nationale Dimension verschwindet und wird durch eine bereits in der ersten Werkphase erkennbare Rückbesinnung auf das eigene Dichter-Ich abgelöst. Bezeichnend ist hier, dass der Dichter die Geste des Neubeginns entschlossen in den Vordergrund rückt und dabei auf sich selbst projiziert: der nationale Neubeginn wird zu einer persönlichen Wiedergeburt umgedeutet, wobei letztere auch zur Durchsetzung einer nationalen Wiederauferstehung, die jedoch keinesfalls nur politische Züge hatte, beitragen sollte. Heraufbeschworen wird ein außerhalb aller Religion stehender neuer Gott: »Heute habe ich das Trugbild des Samstags / das Trugbild des Freitags verbrannt / […] Und ersetzte den blinden Gott des Steins / Und den Gott der sieben Tage / Durch einen toten Gott« (Mihyâr, 52). Der Gott des Alten Testaments, der Gott des Korans wird im Gedichtzyklus verabschiedet, übrig bleibt – per Umkehrschluss – nicht etwa nur die sterbliche Weltrealität, sondern der göttliche Dichter, der den vakanten Platz kraft seines Schöpfertums und seiner visionären Fähigkeiten einnimmt: »Im Mystizismus, so wie ich ihn lebe, spricht immer das Unendliche und zwar unendlich. Damit ist jeder schaffende Geist unendlich prophetisch« (Adonis, Identité Inachevée, 11).

Mihyâr macht hier seinem Namen alle Ehre. Zwar ist er Damaszener und damit geographisch an das Zentrum des großsyrischen Nationalismus gebunden, doch zugleich verweist sein Name auf den historischen Dichter der Schiiten, Mihyâr ad-Dailami, der für seine Totenklagen bekannt war, von den Sunniten aber als Oppositioneller, ja sogar als Häretiker angesehen wurde. Auch wenn die Bezeichnung der sunnitischen Bewegung als islamische Orthodoxie und der minderheitlichen schiitischen Bewegung als Heterodoxie keinesfalls zulässig ist, da hierfür eine Orthodoxie verkündende religiöse Autorität vonnöten wäre, so steht doch außer Zweifel, dass Adonis’ Rückgriff auf Mihyâr zunächst als Zeichen für Subversion zu deuten ist, die sich gegen den orthodoxen Islam richtet. In seinen Essays, die in einem Sammelband mit dem Titel Das Gebet und das Schwert (La Prière et l’Épée) zusammengefasst wurden, wiederholt Adonis noch einmal präzise seine Islam-Kritik, die sich besonders an der Stellung des Korans entzündet, dessen absoluter Charakter weder angezweifelt noch nuanciert werden dürfe. Damit wäre dann auch die arabische Sprache selbst betroffen, die als Sprache der Offenbarung »zur höchsten aller Sprachen« erhoben wird und vor jedem Weiterentwicklungsversuch geschützt werden muss. So steht Mihyâr auch für den Dichter, der eine solchermaßen eingefrorene Sprache zu befreien sucht, den Kniefall der Poesie vor dem exoterischen Gesetz des Korans verurteilt und dem aus seinem absoluten Ursprung abgeleiteten Anspruch des Islams, die »vollendete und endgültige Religion« zu sein, entschlossen entgegentritt. Dass sich in diesem Kontext die Kritik des Dichters auch gegen den pansyrischen Nationalismus richtet, versteht sich fast von selbst. Und genauso wie Gott vom Dichter abgelöst wurde, wird auch die großsyrische Ideologie durch die Person des sich seiner transzendenten und transzendentalen Autonomie versichernden Dichters ersetzt, dessen nach innen gerichtete Sehkraft und prophetische Visionen eine neue dichterische Nation zu begründen imstande sind.

Doch wie lässt sich eine solche dichterische Nation fassen, wie ließe sie sich definieren? Im Mihyâr bleibt Adonis, vielleicht noch unter dem Einfluss der subversiven Symbolkraft seines Titelhelden besonders vage. Ist Mihyâr ein mythopoetisches Kunstgeschöpf, so ist auch seine lyrische Reise eine mythische: es ist der Mythos des nie-enden-wollenden Schöpfertums, der sich eigentlich nie ihrem Ende zuneigenden Reise, der sich immer wieder entziehenden Heimat und damit auch des Grenzenlosen, Un-Nationalen, des Universellen in seiner eigentlichen Ausprägung: »Ich steuere auf die Ferne zu, doch sie bleibt fern. So komme ich zwar nicht an, aber ich leuchte. Ich bin fern, und die Ferne ist meine Heimat« (Mihyâr, 45). Vermag es da zu erstaunen, dass Adonis in den Gesängen Mihyârs für den Mythos der endlos offenen, sich immer wieder erneuernden Poesie, jenen anderen Mythos der unendlichen Reise bemüht, den des Odysseus, der ihm gleich zweifach entgegenkommt? Zum einen schafft er es auf diese Weise, die nationale Zentrierung seiner Poesie zu überwinden und sich dem westlichen Kulturraum zu öffnen, zum anderen lässt sich gerade dieser Mythos – indem lediglich die abschließende Heimkehr weggelassen wird – perfekt umdeuten und damit vereinnahmen. So wird der Odysseus-Mythos im Mihyâr durch einen weiteren, diesmal arabischen Mythos ergänzt, den des Sindbad, wodurch der Dichter seine jenseits aller nationalen Prägung waltende Schöpferkraft eindrucksvoll unter Beweis stellen kann: »Du fragst, Alkinoos? / Möchtest das Antlitz des Toten enthüllen / Fragst, von welchen Gipfeln ich komme / Wie ich heiße – Odysseus heiße ich / Von einer Erde ohne Grenzen / Auf dem Rücken der Menschen komme ich / Ich verirrte mich hierhin und mit meinen Gedichten dorthin / Und da bin ich nun, im Schrecken, in der Dürre / Weiß nicht zu bleiben, nicht zurückzukehren« (Mihyâr, 41). Später wird sich Adonis auch hier genauer erklären: seine Heimat ist Kunst, ist Poesie und die lässt sich bekanntlich nur als fließend und wandelbar bestimmen. Dementsprechend verwischt die Poesie nicht nur die Grenzen zwischen den Nationen und zwischen den Menschen, sondern auch jene zwischen Orient und Okzident: »Meine Kunst ist eine Weiterführung meiner Existenz, ist jemand anders in mir. Sie gibt die Richtung vor, die mit dem Unsichtbaren verbindet. Auf dieser Ebene ist die Welt eins. Orient und Okzident lassen sich nicht trennen. Das ist mein Mystizismus. […] Das Sein ist eins« (»Mon écriture c’est une continuité de mon existence, c’est mon autre personne. C’est la direction qui relie à l’invisible. Et sur ce plan, le monde est un. L’Occident et l’Orient ce n’est pas séparable. C’est là le mysticisme où je suis. C’est là que je suis mystique. L’être est un.«) (Identité Inachevée, 31). Diesem beeindruckenden Bekenntnis des Dichters werden dann in der gesprächsweise vorgetragenen Poetik von Identité Inachevée noch einige Beispiele hinzugefügt, die uns aufhorchen lassen: Nicht nur er selbst als arabischer Dichter fühle sich den westlichen Mythen verwandt, sondern auch zahlreiche westliche Dichter hätten einen Orient gezeichnet, der einerseits dem wahren Orient, dem »leuchtenden, schöpferischen Orient« entspräche und der sie andererseits hierdurch über ihre Stellung als Künstler des Abendlandes weit hinaushebe. Die Namensliste, die dann folgt, führt neben Goethe, Rimbaud und Nerval zwei Namen an, deren Echo unverkennbar in den oben angeführten Zitaten und im bisher skizzierten Kunstverständnis des syrischen Dichters angeklungen sein dürfte: Hölderlin und Novalis. Beide deutschen Dichter, der Gesinnungsrevolutionär Hölderlin und der Frühromantiker Novalis werden zu Künstlern des ›Ineinanderübergehens‹ von Orient und Okzident erhoben. Das materialistische, imperialistische Europa jedenfalls findet Adonis bei ihnen nicht vertreten und lobt neben der Orient-Begeisterung den universalistischen Zug ihrer Kunst. Fest steht jedenfalls, dass der Verweis auf Hölderlin und Novalis keinesfalls nur so am Rande auftaucht. Beide scheinen bei der Genese der Poetik Adonis’ Pate gestanden zu haben, und gerade die im Mihyâr vollzogene Wende hin zu einem dichterischen National-Verständnis dürfte zu großen Teilen auf den Einfluss dieser beiden besonders in Frankreich – der Wahlheimat Adonis’ – populären Namen der deutschen Literatur zurückgehen.

Doch wo und wie schimmert das romantische Palimpsest durch Adonis’ Werk? Das Thema Nation – daran besteht kein Zweifel – ist von zentraler Bedeutung für die Romantik und dies nicht erst seit Fichte. Behandelt wird es bereits in einem ihrer umstrittensten Texte, in Novalis’ Aufsatz Die Christenheit oder Europa, Ende 1799 niedergeschrieben und seitdem oft als katholisches Glaubensbekenntnis und reaktionäres Plädoyer für die Umwertung des Mittelalters missverstanden. Tatsächlich führt der Aufsatz gerade bei der Entwicklung des Nationenbegriffs jedoch lediglich vorhandenes geschichtlichsphilosophisches Gedankengut des Dichters fort und lässt sich eindeutig mit der mystischen Dignität des ›magischen Idealismus‹ in Zusammenhang bringen. In Die Christenheit wird bekanntlich die abendländische Geschichte als Heilgeschichte angelegt, an deren Ende ein von der Neuen Kirche gesicherter umfassender Frieden steht. Dabei gründet Novalis seine Hoffnung auch auf eine neue Vorstellung von der Nation als menschlichem Sammel- und Konvergenzpunkt und damit als anthropomorpher Entität: »Haben die Nationen Alles vom Menschen – nur nicht sein Herz? – sein heiliges Organ? Werden sie nicht Freunde, wie diese, an den Särgen ihrer Lieben, vergessen sie nicht alles Feindliche, wenn das göttliche Mitleid zu ihnen spricht – und Ein Unglück, Ein Jammer, Ein Gefühl ihre Augen mit Thränen füllte?« Die Nation wird bei Novalis nicht nur individualisiert, sondern gar zum individuellen Subjekt, dessen origineller Geist wiederum auf die sie konstituierenden Subjekte zurückstrahlt und in gewisser Hinsicht erklärt. So auch in den Fragmenten Über Goethe aus dem Jahre 1798, in denen klar die transzendentalpoetische Dimension von Novalis' Denken hervortritt: »Jede Person, die aus Personen besteht, ist eine Person in der 2ten Potenz – oder ein Genius. In dieser Beziehung darf man wohl sagen, dass es keine Griechen, sondern nur einen Griechischen Genius gegeben hat. Ein gebildeter Grieche war nur sehr mittelbar, und nur zu einem sehr geringen Theil sein eignes Werck.« Genauer noch: die Nation ist nicht nur ein Körper, sie ist außerdem noch ein Teil des menschlichen Gesamtkörpers, der das Leben auf der Welt zusammenfügt: »Der Weltstaat ist der Körper, den die schöne Welt, die gesellige Welt beseelt. Er ist ihr nothwendiges Organ.« heißt es im dritten der berühmten Blüthenstaub-Fragmente (1798). Nur auf dieser Grundlage lässt sich Novalis’ Hoffnung nachvollziehen, die Christenheit möge, dank ihres »allesumarmenden Geistes« das Stadium des Gleichgewichts, der Freiheit und des Friedens zwischen den Nationen herbeiführen.

Fast zeitgleich zu Novalis lässt sich ein ähnlicher, wenn auch nicht so deutlich religiös und entschlossen mystisch-romantisch tingierter Gedankengang bei Hölderlin, dem zweiten Dichter aus Adonis' Pantheon feststellen. Bei ihm wiederum lässt sich, so Ulrich Gaier, im Hyperion und in den vaterländischen Gesängen, eine Sphäre des nationalen Ichs feststellen, in dem das Vaterland fähig ist »den vereinigenden Geist als Zusammenstimmung aller Individuen der Nation untereinander und mit allem, zu dem sie in Verbindung stehen, einwohnend zu machen« (Hölderlin, 180). Wie bei Novalis jedoch wird der Kurs der nationalen Vereinigung von der Sehnsucht nach Gott vorgegeben. Gottes Herrlichkeit steht gewissermaßen am Ende des Menschheitsvorhabens, das in der Vereinigung der Individuen, das Eine, jedem Gemeinsame offenbart. Durch die von Diotima, der »Priesterin der Liebe« in Hyperions Jugend (1795) gelobte Geselligkeit wird das Vaterland dann auch konsequent zum Reich Gottes erhoben: »ich trage ein Bild der Geselligkeit in der Seele; guter Gott! Wie viel schöner ist’s nach diesem Bilde, zusammen zu sein, als einsam! Wenn man nur solcher Dinge sich freute, denk ich oft, nur solcher, die jedem Menschenherzen lieb und teuer sind, wenn das Heilige, das in allen ist, sich mitteilte durch Rede und Bild und Gesang, wenn in einer Wahrheit sich alle Gemüter vereinigten, in einer Schönheit sich alle wieder erkennten, ach! wenn man so Hand in Hand hinaneilte in die Arme des Unendlichen-« (Hyperion, 544f). Beachten wir hier alle Facetten von Hölderlins – auch von Schillers Ästhetischen Briefen stark beeinflusster – Lehre: das Konzept der Nation wird durch seine Individualisierung – genauso wie bei Novalis – keinesfalls negiert, sondern nur auf der Hintergrundfolie eines zukünftig möglichen Einklangs aller Gemeinschaften neu entworfen. Das erste Substantiv des Hyperion, der ›Vaterlandsboden‹, ist Programm: von ihm aus soll die ästhetische Erneuerung der Menschheit ausgehen, die vom Sänger gepriesene Liebe, der von ihm entworfene Geist, die von ihm ausgehende Begeisterung sollen ins Volk dringen, es erziehen und eine neue Harmonie zwischen den Nationen begründen. Halten wir also fest: die exemplarische Einheitlichkeit der Nation soll auch auf das Verhältnis der Nationen untereinander ausstrahlen. Damit wäre auch die Perspektive der Individualisierung der Nation umrissen: Novalis und Hölderlin ist gemeinsam, dass sie die Wechselbeziehungen der Nationen desto ausgeprägter, freier und friedlicher sehen, je stärker der gemeinschaftliche, organische Gedanke schon in ihnen selbst ausgeprägt ist. Und es ließe sich noch hinzufügen, dass bei beiden dem Dichter – durch seinen »divinatorischen Sinn« bei Novalis, durch seine Fähigkeit zur »Auflösung von Dissonanzen« bei Hölderlin – auch die Verantwortung zukommt »Erzieher unsers Volks« (Hyperion, 553) zu sein und mit Hilfe der Poesie die reale Geschichte zu beeinflussen.

In dieser Rolle wiederum sieht auch Adonis den Dichter. Sein Selbstverständnis als Prophet erwächst eben daraus, dass er als reflektierender Künstler imstande ist, sich durch sein entschlossen nach innen gewandtes transzendentales Ich auch jedem Nicht-Ich zu öffnen. Schließlich muss die im eigenen Inneren aufgefundene Unendlichkeit auch die Andersartigkeit in sich aufnehmen können: »Denn er ist die Sprache, die unter Masten wogt / Denn er ist der Ritter fremder Worte.« (Mihyâr, 14) Der Dichter wird hier mit seinem Ausdrucksmittel gleichgesetzt, was zur Begründung seiner alles umfassenden Fähigkeit taugt. Da Dichtung nie abgeschlossen, sondern fließend und ortlos ist, ist auch ihre Personifikation grenzenlos. »Der Dichter macht die Erfahrung seiner Identität in der Erfahrung seiner Andersheit« (Adonis, La Prière et l’Épée, 230). Erneut fühlt sich der Leser an Novalis und seine Theorie des transzendentalen Poeten als absolutes Individuum erinnert. Letzteres betreibt ja bekanntlich beim frühromantischen Dichter die »Vernichtung der scheinbaren Individualitaeten.« Übrig bleibt ein allgemeines Sein, das jedes persönliche weit übersteigt: »In der transcendentalen Poëtik gibt es nur Ein gemeines rohes Individuum.« (Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. 51, 248). Was bei Adonis dann so klingt: »Absolute Andersheit ist Identität«, oder, um es auf eine – Rimbaud und Sartre integrierende – Formel zu bringen: »im Anderen entdeckt das Ich sein eigenes Sein. Das Ich ist paradoxerweise ein Nicht-Ich.« (La Prière et l’Épée, 231). Im unendlich erweiterten Dichter-Ich macht Adonis die Erfahrung des unendlich Anderen, der unvorstellbaren Vielfalt aller Welt. War vorhin von seiner Sehnsucht nach einem neuen Gott die Rede, so scheint sein Licht dem Künstler aus diesen unermesslichen Tiefen hervor. Gott, so Novalis, war der absolute Dichter, der sich immer wieder von neuem im einzelnen Künstler ausspricht, der schöpfergleich ein Simulacrum der erschaffenen Welt zu erzeugen imstande ist. Hierdurch offenbare sich in der Kunst das Sein Gottes und erlaube, wenn auch keine Eroberung, so doch eine Anschauung des Absoluten. Ähnlich verhält es sich nun bei Adonis, der nach der Verabschiedung der Götter althergebrachter Religionen seinen eigenen Gott zu feiern versteht: »In der Hoffnungslosigkeit, im wüsten Land / Im Schrecken und im Untergang / Entsteigt vielleicht meinen Tiefen ein Gott.« (Mihyâr, 25). Ebenso wie seine romantischen Vorläufer, schreckt auch Adonis nicht vor dem nächsten Schritt zurück, führt Poesie und Politik zusammen. Denn nachdem die Rechtmäßigkeit des dichterischen Sprechens über Identität und Universalität fundiert wurde, geht auch Adonis dazu über, daraus einen revolutionären Appell an die Völker abzuleiten. So heißt es in La Prière et l’Épée, dass sich keine Identität nur »auf die Verneinung des Anderen« stützen dürfe, was ja auch – in Anbetracht des vorher entwickelten Gedankengangs über das grenzenlose Dichter-Ich – nur absurd klänge. Die Definition des Dichters in romantischer Tradition wird sodann auf die Nation erweitert, die ihrerseits als Persönlichkeit angesehen wird: »Identität kommt nicht aus dem Inneren, sie entsteht vielmehr durch die lebendige und andauernde Interaktion zwischen Innen und Außen; […] ihr Wesen ist viel mehr das Sich-Öffnen, als das Sich-Verschliessen; sie ist Interaktion nicht Rückzug.« So wird auch die politische Verantwortung des Dichters gerechtfertigt, denn schließlich obliegt es ihm, sein Volk anzuregen, sich seiner Identität keinesfalls nur subjektiv, sondern intersubjektiv zu versichern.

Wie stark der Mihyâr unter romantischem Einfluss steht, ja wie kunstvoll abendländisches Bildungsgut in die Gedichte des Damaszeners verwoben und sogar integriert ist, beweist auch das Motto, das der arabischen Originalausgabe vorangestellt war: »Warum, o schöne Sonne, genügst du mir nicht? / Und plötzlich kommt er, der Erwecker, kommt zu uns nieder / Der Fremdling / die Stimme, die die Menschen erschafft.« Laut Adonis handelt es sich um ein Hölderlin-Zitat, tatsächlich aber ist das deutsche Dichterwort beim Umzug in den Orient hier und dort angereichert und verziert worden. Denn die Verse aus dem Fragment Der Gotthard lauten bei Hölderlin: »Warum, o schöne Sonne, genügst du mir / Du Blüte meiner Blüten! am Maitag nicht? / Was weiß ich höhers denn?« Wir stellen zunächst fest, dass in diesen Versen wie so oft Hölderlins Dialektik am Werk ist. Das ›Gewöhnliche‹ und ›Gemeine‹, kommt es auch im leuchtenden Glanze eines Maitages daher, genügt dem idealistischen Dichter keinesfalls und doch braucht er es, um anhand seiner der Existenz eines Höheren auf die Spur zu kommen. Berühmtester Vertreter dieses Glaubens ist sein Held, ist Hyperion, der auszieht, um das Leben zu verändern, da er von dem Bedürfnis beseelt ist, »das uns dringt, der Natur eine Verwandtschaft mit dem Unsterblichen in uns beizulegen, und in der Materie einen Geist zu glauben« (Hyperion, Metrische Fassung, 510). Hyperions politische, humanitäre Vision ist eine idealisierte, die sich auf das Unendliche, das Ideale, aber nicht das Reale versteht. Sein Scheitern lässt sich hieraus ebenso erklären wie sein abschließendes Eremitendasein, durch das er dann doch der Versöhnung von Realem und Idealem näher kommt. So steht am Ende von Hyperions Parcours eine Transzendenz des Leidens, in der dem Helden Versöhnung erwächst. In der Kunst, in der ästhetischen Erfahrung kommt es zur »Auflösung der Dissonanzen«. Das »Nächstens mehr« setzt den Motor der Vergeistigung definitiv in Gang: die angestrebte Vergegenwärtigung der Ideale musste scheitern, doch zurück bleibt die Sehnsucht mit ihrer Projektionsfläche des Dichtens. Der Lyriker vermag, was dem Revolutionär abgeht, er kann einem sich immer wieder entziehenden Idealzustand nacheifern, ohne das sich hierbei zwangsläufig einstellende Scheitern zu desavouieren. Hier, in diesem Zusammenspiel von Absenz und Präsenz, entfaltet sich Hölderlins Lyrik.

Damit lässt sich auch Adonis’ kunstvolle Verschiebung des Hölderlin-Zitats besser nachvollziehen. Man merkt: Hölderlins Verse sprechen von Sehnsucht und von der Gefahr, diese durch Vergegenwärtigung zu kompromittieren. Bei Adonis ist die Dynamik ähnlich und doch spielt hier in das Zitat die aus der arabischen Mystik entlehnte Überzeugung mit hinein, dass der Dichter als Erschaffender sich Gott doch annähert, obwohl dieser »als reiner Sinn, nicht erreicht werden kann«. – »Der Mensch als Ebenbild Gottes ist auch ein Bild des Sinns, eine seiner Offenbarungen […]. Also ist der Mensch zugleich sich selbst und ein Anderer: Er ist er selbst insofern er ein bestimmtes Bild ist, aber er ist auch ein Anderer, da er nicht durch sich selbst existiert, sondern seinen Ursprung im Sinn hat, der alles Leben begründet« (La Prière et l’Épée, 230). Für den Mystiker, mit dem Adonis sich gleichsetzt, ist der Mensch also – wie bereits gesehen – nicht nur er selbst, sondern auch Vertreter des göttlichen Sinns, insofern er als Dichter vor dem göttlichen Wort des Korans keinesfalls verstummt oder zum reinen Interpreten wird, sondern sich durch die Epiphanie des Sinns zu eigener Kreation anregen lässt. Wenn also »die Stimme, die die Menschen erschafft« plötzlich doch zu den Menschen nieder kommt, so ist dies die ureigenste Leistung des Dichters, die Adonis zugleich noch transzendenter und noch politischer ansetzt als Hölderlin, denn schließlich ist der Gottes Genesis nachbildende Dichter für die Anderen in der Mythopoesie des Mihyâr nicht nur ein umherirrender Sindbad oder ein Odysseus »ohne Rückkehr«, sondern auch »Der neue Noah«, der auf der Suche nach »einem neuen Gott« die Menschheit erretten soll. Wieder bemüht Adonis romantisches Bildungsgut, wenn er in der bereits zitierten Essaysammlung davon spricht, das Ich sei »ein Mikrokosmos, das den Makrokosmos« (248) enthielte. Stand bei Hölderlins Hyperion das Thema der Sehnsucht noch stärker im Vordergrund als das der realen politischen Verwirklichung, so ändert sich dies beim Hölderlin-Leser Adonis nur insofern als dieser keinesfalls an seiner Bedeutung für die Nation zweifelt, sondern diese aus der Definition des Dichters selbst ableitet.

Bliebe noch eine Frage: die nach der Nation, die dem Dichter Adonis vorschwebt. Und es wundert eigentlich nicht, wenn er sich auch diesmal seinem Vorbild Hölderlin annähert. So hat gerade die neuere Hölderlin-Forschung (Henning Bothe, Zum Verhältnis von Dichtung, politischer Tat und Nationalbewusstsein bei Hölderlin) sehr zu recht darauf hingewiesen, dass der Germanien-Dichter keinesfalls zum Wortführer nationalistischer und gegenaufklärerischer Tendenzen taugt. Im Gegenteil, was Hölderlin, übrigens auch im Hyperion und natürlich im berühmten Brief an Johann Gottfried Ebel (1797), vorschwebt ist ein »tyrtäisches Germanien«, das wie der Sänger Tyrtäus aus Sparta, seine Truppen durch Kunstausübung zum Sieg führt. Hölderlins Nationalismus lässt sich demnach nur universalhistorisch fassen, wobei den Nationen abwechselnd die Verantwortung zukommt, die Weltgeschichte ihrem Ideal zuzuführen. »Der Adler, der vom Indus kommt« und im Hymnus Germanien die großen Nationalkulturen abfliegt, dürfte hier Beweis genug sein. Für Hölderlin ist nun Deutschland an der Reihe, die Menschheitsgeschichte fortzuführen. Und für Adonis? Die Antwort erübrigt sich… Hatte er nicht bereits Hölderlin und Novalis zu Dichtern des Orients erhoben, weil sie sich dem Materialismus des Westens widersetzten? Keine Frage, der ab Mihyâr neu geartete Nationalismus des Dichters geht dahin, den Orient zur Chiffre der Welterneuerung zu machen. Hier nimmt die Suche nach einem neuen Gott ihren Anfang, hier hebt sie an, die lyrische Sprache, die das Ich mit dem Anderen, also mit seinem universellen Grund verbindet. Doch das Globalisierungsgeraune hält den Adler heute davon ab, in einem bestimmten Land zwischenzulanden. So begreift Adonis bereits in den 60er Jahren, dass eine zu eng gefasste Nation der Dichter ihren Dienst bald getan haben wird. Ein Irrglaube wäre es, im Zeitalter der schrumpfenden Welt einer einzigen Nation die Weihen der Menschheitserneuerung zu erteilen. Eine mythopoetische Topographie ist angesagt. Eine, die nicht mehr nur nationale Eigenschaften integriert, sondern Systeme konfrontiert und damit auch den Orient, die islamische Mystik des Sufismus internationalisiert. Adonis’ Dichtung greift oft ins Pathetische, und doch ist seine Geste keine übertriebene. Sein Plädoyer gegen die westliche Welt ist ein wohl durchdachtes Konstrukt, in dem der Dichter als Individuum aber auch als Prophet der westlichen Hegemonie entgegentritt. Der Anfang der 70er Jahre geschriebene Gedichtzyklus Ein Grab für New York, der nach dem 11. September 2001 ob seiner visionären Gewalt zum wohl denkwürdigsten Werk des Dichters aufgestiegen ist, vermittelt diesen universalisierten poetischen Nationalismus, der sich selbst zum Mythos wird: »Der Wind weht ein zweites Mal aus dem Osten, er entwurzelt die Wolkenkratzer ebenso wie die Zelte. Und zwei Flügel sind da, die niederschreiben: Ein zweites Alphabet zeigt sich im Relief des Westens, und die Sonne ist die Tochter eines Baumes im Garten Jerusalem.« (Ein Grab für New York, 119)

Doch was kann der Osten überhaupt noch bewirken? Sollte er, den amerikanischen Allmachtsphantasien folgend, nach Herrschaft streben? Wie eine Antwort auf diese Fragen wirkt eine andere grundlegende mythische Gestalt des syrischen Dichters, nämlich Abd ar-Rahmân der Erste, Gründer der Umayyaden-Dynastie in Andalusien. Im 1962 erschienenen Gedicht Die Tage des Falken wird die für das arabische Nationalbewusstsein zentrale Gestalt insofern evoziert, als sie zum lyrischen Ich stilisiert wird. Und doch, bei genauerem Hinsehen ist auch diese Stimme keine historische, keine rückwärtsgewandte. Nicht Nostalgie andalusischer Blütezeit und arabische Eroberungsphantasien sollen hier heraufbeschworen, sondern eine zukünftige, weil innere Welt entworfen werden. »Verstünde ich wie ein Dichter, die Jahreszeiten zu ändern« (Adonis, Der Falke, 127) ruft der vermeintliche Abd ar-Rahmân im Gedicht und wächst damit über seine historische Individualität hinaus. Er wird zum projektierten Dichter, zum Mythos eines neuen Andalusien, das diesmal nicht mit Waffen, sondern mit Worten erobert würde und in dem verschiedene Kulturen friedlich zusammenleben könnten, eben weil sie aufeinander angewiesen wären. Besser noch, Adonis’ Angebot ist poetikkonform formuliert, richtet sich also nicht an die konkrete politische Realität, sondern an die universelle innere Menschheit und gewinnt damit jene fließende, zukünftige Realität, die auch jeder Poesie und besonders der romantischen eigen ist: »Der Falke baut auf dem Gipfel, in der Tiefen Grund / Das Andalusien der Tiefen / Ein Andalusien, das von Damaskus aufsteigt / Und dem Westen die Ernte des Ostens bringt.« (Der Falke, 128-9). Am Wesen des Ostens – wie früher am Wesen Germaniens – also könnte die Humanität gesunden… Die universalgeschichtliche Sehnsucht hat mit Adonis einen neuen Ort gefunden und wie entschieden poetisch, mystisch und unnationalistisch dieser Traum formuliert ist, beweist eben, wie sehr diese Sehnsucht auch romantischen Modellen geschuldet ist. Das Herz der inneren Nation des Novalis scheint noch zu schlagen und auch Hyperion ist – zumindest im Osten – noch lange nicht verstummt.