Handbuch der Kulturwissenschaften,
hrsg. v. Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch,
Jörn Rüsen und Jürgen Straub,
3 Bde., Stuttgart-Weimar: Metzler, 2004, 538, 694 u. 551 S.

1. »Ein Handbuch«, schreibt der ungenannt bleibende Verfasser des einschlägigen Artikels der Wikipedia, »ist eine geordnete Zusammenstellung eines Ausschnitts des menschlichen Wissens und kann als Nachschlagewerk dienen. Dabei kann die Anordnung des Wissensstoffes alphabetisch, chronologisch oder nach thematischen Gesichtspunkten vorgenommen werden.« Legt man diese Definition zu Grunde, dann wird man von einem Handbuch der Kulturwissenschaften eine ›geordnete Zusammenstellung‹ des Wissens der einschlägigen Wissenschaften erwarten. Da die Herausgeber weder eine alphabetische noch eine chronologische Ordnung angestrebt haben, bleibt nach Lage der Dinge nur die thematische übrig. Zu verlangen wäre also eine ›geordnete Zusammenstellung‹ des Wissens der Kulturwissenschaften. Üblicherweise deutet der Plural an, dass es sich dabei um mehrere Wissenschaften handelt, der Leser sucht also mit einer gewissen Berechtigung Aufschluss darüber, um welche Wissenschaften es sich handelt und in welchem Verhältnis sie - bedingt durch den Gegenstand ›Kultur‹ und die sich durch ihn ergebenden interdisziplinären Bezüge – zueinander stehen.

2. Das Handbuch besteht aus drei Bänden, passt daher einigermaßen schlecht in die bereitwillig sich öffnende Hand. Die einzelnen Bände tragen Titel. Sie lauten: »Grundlagen und Schlüsselbegriffe« (Band 1), »Paradigmen und Disziplinen« (Band 2) sowie »Themen und Tendenzen« (Band 3). Sollte es mit der ›geordneten Zusammenstellung‹ seine Richtigkeit haben, so müsste das Wissen der Kulturwissenschaften sich unter diesen Stichworten erschließen lassen. Das erscheint schwierig, da es sich um Allerweltsworte handelt, die auf jede beliebige Zusammenstellung von Disziplinen passen. Die Schwierigkeit erhöht sich durch das dreifache ›und‹: Ist es ›rein additiv‹ gemeint (dann bestünde das Handbuch aus sechs Halbbänden), hat die jeweilige Zusammenstellung ›etwas zu bedeuten‹ (was der Leser gern erführe) oder steht sie für das Unvermögen der Herausgeber (das in der Sache begründet sein mag), die einzelnen Bände mit passenden Sachtiteln zu versehen? Ein Blick ins Innere der Bände zeigt, dass alles drei zutrifft: Band 1 gliedert nach Schlüsselbegriffen, die offenbar irgendwie ›grundlegend‹gemeint sind (»Erfahrung«, »Sprache«, »Handlung«, »Geltung«, »Identität«, »Geschichte«), Band 2 liefert explizit Grundlagen nach (»Kulturwissenschaften und Lebenspraxis«, »Grundlegende wissenschaftliche Problemstellungen«), wäre also insoweit als Erweiterungsband zum ersten zu betrachten, rafft sich dann zur Behandlung zumindest zweier ›Paradigmen‹ auf (»Handlungstheoretische Ansätze in den Kulturwissenschaften«, »Die Kulturwissenschaften und das Paradigma der Sprache«), um zuguterletzt »kulturwissenschaftliche Methoden und Ansätze in den Disziplinen« zu versprechen, womit auch die Katze aus dem Sack ist: Was aber die Kulturwissenschaften sind, das weiß ich nit. Band drei liefert nach, was irgendwie in ein solches Unternehmen hineingehört, aber - ›in der Ordnung gedacht‹- auch wieder nicht, solange es in lauter Einzelpunkte zerfällt: »Brennpunkte einer kulturwissenschaftlichen Interpretation der Kultur«, »Wirtschaft und Kapitalismus«, »Gesellschaft und kulturelle Vergesellschaftung«, »Politik und Recht« – schließlich ein »Ausblick« (Jörn Rüsen) auf »Sinnverlust und Transzendenz«, der als finale Handreichung das Handbuch als das erscheinen lässt, was es auch ist: ein Sammelsurium aus präfabrizierten Texten, die von den Autoren so oder leicht variiert den verschiedensten Publikationsformen anvertraut werden könnten und wohl wirklich werden.

3. Drei Ordnungen an Stelle von einer, die überdies unter dem prüfenden Blick zerfallen: ein solcher Befund wirft notwendig die Frage auf, was sich die Herausgeber dabei gedacht haben mögen. Da sie bereitwillig Auskunft geben, sei zunächst aus dem Vorwort zitiert: »Die Konzeption des Bandes« – gemeint ist Band 1 – »ist von der Überzeugung geleitet, dass die Kulturwissenschaften sich nicht selbst genügen.« (Vorwort, VII) Ein solcher Satz ist es wert, bedacht zu werden: Man kommt über der Frage ins Grübeln, ob wohl das muntere Treiben in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen ihnen selbst (also dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit) oder ihren Vertretern nicht genügt, die bereits auf Abhilfe oder auch nur auf Anderes sinnen – nach dem Motto ars breve vita longa. Dass letzteres gemeint sei, könnte der Folgesatz bestätigen: »Vielmehr sollen sie die dem kulturellen Leben selber inhärenten Ansprüche, Herausforderungen, Probleme und Aporien zur Sprache bringen.« Was dann kommt, schießt allerdings den Vogel ab: »In diesem Sinne präsentieren die Beiträge nicht etwa einen letzten Erkenntnisstand, sondern sollen die kulturwissenschaftliche Arbeit neu inspirieren.« (ebd.) Wie das? Wurden die Beiträge, die dem ›letzten Erkenntnisstand‹ Rechnung trugen, rechtzeitig zurückgezogen? Oder gibt es in den Kulturwissenschaften nichts zu erkennen?

4. Das ist natürlich ironisch gemeint, wohingegen die Herausgeber alles gut meinen. Es ist auch nicht so, dass sie keine Ordnung wollen – was man verstehen könnte und wofür sich vielleicht sogar Gründe anführen ließen. Ordnung, Systematik, Voraussetzungen, Implikationen – das sind Begriffe, mit deren Hilfe sie einen Zusammenhalt imaginieren, der in der Praxis wohl mehr von ministeriellen Denkhilfen und dem geregelten Fluss der Forschungsgelder bestimmt wird als von irgendeinem ›Paradigma‹. Insofern hängen die Absage an die »Selbstgenügsamkeit« der Wissenschaften und die mehrfach unterstrichene Orientierung an »einflussreichen« Forschungsansätzen (Vorwort VIII u.a.) sowohl enger als auch ›genauer‹ zusammen, als die wolkige Erfahrungs- und »Lebenswelt«-Rhetorik zu formulieren zulässt. Was immer im angelsächsischen Raum unter dem ›cultural turn‹ verstanden wird – auf fatale Weise wird daraus hierzulande der Dreh interessierter Kreise, andere Kreise, die nicht weniger interessiert sein mögen, aber die begriffliche Arbeit weniger scheuen, alt aussehen zu lassen und im Kampf um Drittmittel und Curricula den kürzeren Weg zum Erfolg zu suchen. Dies und nichts anderes steckt hinter der Diskrepanz zwischen der – richtigen – Feststellung: »Auch gibt es derzeit keinen Konsens in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie in der Pluralität teils traditioneller, teils neuer Fachwissenschaften betrieben werden sollen« (Vorwort VII), und dem erwähnten Abrücken vom »letzten Erkenntnisstand«, den eine Disziplin, die keine sein will, eingebettet in Disziplinen, die sich nicht mir-nichts-dir-nichts für ein Versprechen auf die Zukunft aufgeben wollen, versüßt mit »ermutigenden Ergebnisse(n)« (ebd.), scheut wie der Teufel das Weihwasser.

5. In dieser Hinsicht leistet vieles, was unter dem Rubrum ›Kulturwissenschaften‹ an neueren Forschungen vorgelegt wird, gegenüber den erfolgreichen, aber nur begrenzt importierbaren Cultural Studies wenig mehr als die christliche Rückbesinnung der liberalen Gesellschaft im Zeichen eines aggressiven Islam: Verähnlichung durch regressive Mimesis. Es lässt sich schwer verdrängen, dass der cultural turn hierzulande mehr als zweihundert Jahre zurückliegt und bis auf weiteres mit Namen wie Herder, Hegel, Humboldt verbunden bleibt – nicht, weil es auf Namen ankäme, sondern weil Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Ethnologie und angrenzende Fächer sich mit mächtigen Auslegungstraditionen konfrontiert sehen, von denen nicht zuletzt der althergebrachte Terminus ›Kulturwissenschaften‹ ein beredtes Zeugnis ablegt. Viele, wenn nicht die meisten Autoren des Handbuchs sehen das so. Aber wenn es wahr ist, dass Sinnzusammenhänge in der Gesellschaft, das symbolische Gewese der Kultur, künstlich, ›gemacht‹ sind und nicht etwa natural und ›gegeben‹, dann gilt dies in verschärftem Maße für die symbolischen Institutionen der Wissenschaften und unter ihnen der Kulturwissenschaften: Es gibt keine Disziplinen, es gibt keine Systematiken, es gibt weder gemeinsame Grundlagen noch ›gesicherte Zusammenhänge‹, es sei denn, man stellt sie her – und stellt sie vor. Alles übrige sind kulturwissenschaftliche Studien, teils aufschlussreich, teils skurril, warum denn nicht? Ein Handbuch, das einen offen als defizitär beschriebenen Ist-Zustand als Option auf eine Zukunft verkauft, der keiner der Beteiligten – Herausgeber und Autoren - auch nur ein Jota vorgreifen möchte, ist fürwahr ein seltsam Ding. Rez. schlägt vor, es als modernes Theatrum Memoriae zu verstehen – die »nahezu einhundert Autoren«, von denen die Herausgeber sprechen, haben zwar wenig gemeinsam mit den mythologischen Urhebern früherer Künste, aber erfolgreich ›eingeschrieben‹in das Lektürepensum ihrer Studenten und Kollegen haben sie sich schon. Applaus!

Ulrich Siebgeber