Raymond Verdaguer
im Gespräch mit Renate Solbach
»Je ne suis que de passage«

Raymond Verdaguer lebt und arbeitet als freischaffender Künstler in New York. Für Iablis 2005 hat er eine Serie von 13 Linolschnitten gefertigt, die im Rahmen der 48th Annual Exhibition der Society of Illustrators im New Yorker American Museum of Illustration zu sehen sein wird (8.-25. Februar 2006).

Iablis: Diese Figur von Statik und Dynamik, die die Bilderserie durchzieht, scheint einen Schluss zuzulassen: Statik ist unerträglich, Dynamik ist die Hölle. Bezogen auf das Thema ›übersprungene Identität‹ liegt eine Deutung nahe: Der Aufbruch ins Neue überspringt gerade das, wohin aufzubrechen sich lohnte – das Humane. Könnten Sie sich zu einer solchen Aussage verstehen?

Verdaguer: Eine Figur, die prägend ist für mein Leben. Zudem bietet sie eine perfekte Definition des Lebens in New York. Einer Stadt, in der Warten gleichgesetzt wird mit Agonie (»He Mann, was ist los?«). Die Furcht, innezuhalten oder gestoppt zu werden, gleicht der vor dem Sterben. New York, das heißt rastloses Drücken & Pressen, hysterische Aggression unterstützt von großen Mengen Koffein. Das ist noch das harmloseste der Stimulantien. Für diese Krankheit gibt es nur ein Heilmittel: die Zurschaustellung des Ich.

Glück zeigt sich auf riesigen Werbeflächen oder in Hollywood-Filmen mit perfekt retuschierten Zähnen, um die Menschen in Kaufhäuser und Geschäfte zu locken zur täglichen Überdosis ›Einkauf‹. Es gibt eine Redensart »Du musst die Wirtschaft unterstützen!« Überall derselbe Vorgang: Ein Priester bittet um Geld zur Unterstützung der Kirche, Aufkleber fordern »Unterstützen sie die Armee!«, ein nicht-kommerzieller Radiosender, der regelmäßig die Praktiken der Finanzinstitute verurteilt, bittet um die Kreditkartennummer seiner Hörer, damit diese weiterhin die Wahrheit hören können, selbst den Hausbesitzer soll man unterstützen. Nicht zu vergessen, die CEOS all der Gesellschaften, die uns mit den täglichen Annehmlichkeiten versorgen, die mir z. B. ermöglichen mein neues Spielzeug zu benutzen, die Tastatur des Computers, ohne den ich nicht nur Ihre Fragen nicht beantworten könnte, sondern sie erst gar nicht erhalten hätte. Ist meine Antwort nun von irgendeinem Wert oder ist sie auch nur eine weitere Verschwendung von Papier, Tinte, Lösungsmitteln und menschlicher Energie?

Meine Stellungnahme? Auf die Frage eines Deutschen zu Guernica: »Haben Sie das gemacht?«, antwortete Picasso: »Nein, Sie.« Ein übles Spiel. Aber irgendwann stellt sich immer die Frage der Verantwortung. Das Bild funktioniert wie ein Bumerang. Ich glaube, dass die Umgebung, der wir zu viele Jahre ausgesetzt waren, zunehmend negativ und zerstörerisch geworden ist. Normalerweise rede ich nicht viel, aber da all das manchmal schwer erträglich ist, spreche ich mich in meinen Bildern aus. Natürlich weiß ich, dass die Wirkung nicht einmal der eines Tropfens im New Yorker Trinkwassersystem entspricht. Meine Entwürfe sind weit davon entfernt, das Leid der Welt - nicht nur der Menschen - zum Ausdruck zu bringen.

Die Frage müsste lauten, was sind eigentlich unsere Rechte als sogenannte Erdbewohner (ganz allgemein, nicht nur das bestehende Recht in Ländern, Städten, Gemeinden)? Möglicherweise wäre die Antwort das Urteil über uns, unsere Eltern, unsere Groß- und Urgroßeltern. Durch einzigartige Ignoranz und die Ausrede, den Schutz unserer DNA zu gewährleisten, bereiten wir den Grundlagen des Lebens ein ungeheures Massengrab. Mein Schreien ist der Ruf nach Hoffnung. Obwohl meine Beobachtungen mir nahelegen, dass mit dem menschlichen Geist vielleicht etwas falsch ist. Mein Großvater, der niemandem etwas zuleide tat, sagte manchmal im Scherz: »Besser tötet man einen Menschen, als zu versuchen, ihn dazu zu bewegen, eine schlechte Angewohnheit zu ändern .«

Gibt es einen Aufbruch zu neuer Hoffnung oder nur eine neue Form der Versklavung des Menschen? Ein neuer Anfang könnte immer noch lohnend sein. Ein ›wirklicher‹ Beginn gegenseitiger Fürsorge, in Gang gesetzt durch ein klares Bewusstsein, das sich auch darüber klar ist, dass die Aufgabe in etwa der gleicht, sich willentlich zu verlieben. Haben wir die Kraft und sind wir bereit, die Verpflichtung einzugehen, diese Liebe in unruhigen Zeiten zu bewahren? Sind wir als Individuen reif genug? Natürlich, unter dem Einfluss von Frühlingsgefühlen sind wir voll neuer Ideen, aber wie sieht es im Winter aus? Vielleicht ist die ganze sogenannte Evolution, von der man uns nahelegt, sie als fortschreitende Entwicklungslinie zu sehen, nichts als ein Zirkel (ein Zirkus?), schädlich zu Zeiten, und wenn wir alles zerstört haben, kehren wir an den Ausgangspunkt zurück. Die Natur mit ihrem Jahreszeitenrhythmus scheint nach einem solchen Muster zu funktionieren. Eine Ausnahme sind die Bäume, die Jahr um Jahr wachsen, bis wir sie mit einer Kettensäge fällen. Hier handeln wir wie die Herren der Welt und breiten uns gemäß einer Vorstellung aus, die der Effizienz unserer Vernichtungs-Werkzeuge entspricht. Nicht selten wird solches Handeln unterstützt, entschuldigt oder in Gang gesetzt durch ein Korpus von Sätzen, die wir Recht nennen.

Iablis: Wenn eine trauernde Person in einer Zelle die Bildmitte einnimmt, während ringsum Mütter und Väter mit dem Nachwuchs beschäftigt sind und eine Person gerade in einem schwarzen Block verschwindet, dann denkt man unwillkürlich an Gesellschaften, in denen Warten notorisch ist: alternde Diktaturen, Volksrepubliken vor der Perestroika, Elendsregime ohne Hoffnung auf Besserung. Ist das das Assoziationsfeld, in dem sich Ihre Vorstellungen bewegen?

Verdaguer: Die ›Hoffnungslosigkeit‹, die sich ausdrückt, in einem Körper, der in einem schwarzen Block (aus Zement?) verschwindet, kann für vieles stehen. Früher war es vielleicht ein Fluss oder das Meer. In unseren Tagen ist es in Teilen dieser riesigen ›Kolonie‹, die zu Abfall gemacht worden ist, Luxus, zurückzugehen in die Erde, um die Knochen zur Ruhe zu betten.

Ich war in einigen dieser Gesellschaften, die Sie als »ohne Hoffnung auf Besserung« charakterisiert haben. Man sollte sich aber vor Fehlurteilen hüten, wer von außen kommt, sieht nur die Oberfläche. Die Ankunft ist vielleicht ein Schock, bedingt durch den Kontrast zum gewohnten einlullenden Komfort. Ist man bereit, sich zu öffnen, sich Zeit zu nehmen und lange genug zu bleiben, so kann es geschehen, dass man sich besser fühlt: der ›Mangel an Besserung‹ kann ein süßes Gefühl hervorrufen. Man stellt fest, dass die Muskeln sich entspannt haben, da die Notwendigkeit zur Eile entfällt; selbst der Mangel an Geld kann sich auf einmal als Segen erweisen. Einige Teile der Natur mussten noch keinen Tribut zahlen oder haben die Deformierungen überlebt, die ihr durch das, was ich die ›Struktur‹ nennen möchte, aufgebürdet wurden. Zum Teil vielleicht auch, weil die Individuen noch nicht vergiftet sind von der Leistungsbesessenheit und immer noch nach gegenseitiger Unterstützung streben. Es ist möglich, den besten Honig zu probieren oder Quellwasser, das nicht aus Flaschen stammt. Zurückgekehrt, wollte man uns einreden, wir wären besser dran, in einem NYC Gebäude zu leben, zum Nutzen eines habgierigen Hausbesitzers – an einem Ort, an dem kein kroatischer Bauer bereit wäre, seine Ziegen unterzubringen. Was ist der Preis solcher Versklavung? Wem dient das?

Einmal besuchte ich in NYC eine ältere Dame in ihrem phantastischen Apartment in der 5th Avenue. Überall hingen impressionistische Gemälde. Lauter Originale. Millionen Dollars an den Wänden. Die Dame hatte ein dominikanisches Dienstmädchen. Die beiden lebten in verschiedenen Räumen dieses riesigen Apartments. Das Zimmer des Dienstmädchen war natürlich nur mit Wandfarbe gestrichen, aber was sie unterschied, war viel grundlegenderer Natur. Sie teilten die Neuigkeiten derselben geschwätzigen Zeitung, beide hatten ihr eigenes Fernsehgerät und an diesem Tag sahen beide zur selben Zeit dieselbe Sendung an den entgegengesetzten Enden des Apartments: das ist das wahre Gefängnis, das ist wirkliches Unglück, hier besteht keine Hoffnung auf Besserung. Die Viertel Million Dollar, die die nette Dame für den gegenüberliegenden Central Park spendete, damit Mütter, die ihre Kinder beim Spielen im Sand beaufsichtigen, auf Bänken sitzen können, kann meinen Schmerz über diese beiden Frauen nicht lindern.

Iablis: Was folgt, sind Torturen ohne Ende: Drahtverhaue, Gehenkte, Gemarterte mit und ohne Privilegien, Exekutionen und kollektive Untergänge, Bulldozer-Schreckensbilder. Das passt nicht ganz in die Aufbruchphantasien, die in der gegenwärtigen Politik im Schwange sind. Steht hinter Ihren Bildern eine politische Analyse?

Verdaguer: Ich bin kein Denker. Ich habe nie großes Interesse für Politik entwickelt, jedenfalls nicht für die geschwätzige Tagespolitik. Was ich habe, ist ein ursprüngliches Interesse an Geschichte. Nicht an Daten oder langweiligen Fakten, die ermüden mich eher. Was mich inspiriert, ist der Versuch herauszufinden, wie wir geworden sind, was wir sind, wie bestimmte Ereignisse der neuen oder älteren Geschichte den Boden bereitet haben für das, an dem wir uns erfreuen oder was wir erleiden. Oder spielen all die vergangenen Ereignisse vielleicht keine Rolle? Machen sie keinen Unterschied für unser heutiges Leben? Bestimmte Personen, ich möchte sie Anwälte der Geschichte nennen, lieben es, in ihr zu wühlen und Ideen an den Tag zu fördern, die alles belegen können. Sie predigen ihre Ergebnisse und überwältigen die anderen damit. Noch einmal anders ausgedrückt: Mich interessieren die historischen Linien der Politik, die mir verständlich machen, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Meine Arbeiten verstehe ich als Aufzeichnungsgeräte, die allem Lebendigen dienen.

Ich selbst bin sozusagen ein ›Gelegenheitsprodukt‹ oder eine lebende Konsequenz der politischen Ereignisse, die all das Blutvergießen erzeugten, von dem zu lernen wir heute ablehnen. Ironischerweise war es der Aufstieg des Faschismus in Europa, der meine Eltern zwang, sich kennenzulernen. Meine Mutter war ein Flüchtling.

Sagen wir so: Ich missachte nicht die Schmerzen und das Leiden der Menschen, weiß aber, dass es hoffnungslos ist, zu glauben, ihnen auf der persönlichen Ebene helfen zu können. Daher empfinde ich es als meine Pflicht als Mensch, andere auf Probleme und Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen.

Gegenwärtig befinden wir uns in einem Zustand dauernden und überwältigenden Drucks auf den Einzelnen, einen politischen Standpunkt einzunehmen. Damit meine ich, dass es nicht erlaubt ist, neutral zu sein, ja das man geradezu gezwungen wird, politisch zu sein, gleichgültig wie die Bedürfnisse oder Abneigungen aussehen. Ein Beispiel, um zu verdeutlichen, was ich meine: Autos, Kleidung und eine Menge anderer Produkte, deren Verkauf durch intensive Werbung gesteigert wird, imitieren den Militärstil. Man verkauft uns Nachbildungen von Panzerwagen, natürlich (noch) ohne Munition. Versucht man mit ihnen im Sand zu fahren, so kommt man nicht sehr weit. Das alles dient dazu, einen Schein von Haltbarkeit zu erzeugen, von Kraft, Funktionalität. Vergessen Sie Schönheit und Anmut! Beim Stemmen schweren Eisens bilden die Muskeln sich von allein. Es lebe die Größe!

Scheint nun alles darauf ausgerichtet zu sein, uns zu politisieren, so ist die wahre Intention eher gegenteilig, die Menschen sollen die Regeln befolgen. Der Einzelne zählt nicht wirklich. Ich erinnere mich an meine Zeit in der Boarding School, in der es niemanden interessierte, dass das Essen grauenvoll schmeckte und du mitten in der Nacht von einer Ratte geweckt wurdest, die dich in die Nase biss.

Glauben die Menschen wirklich, in Zukunft werde alles immer besser, oder rührt dieser Glaube von einer Gehirnwäsche her? Besser für wen und für was? Das Leben seiner Frau und seiner Kinder zu schützen, ist eine ehrenvolle Sache, es sei denn, es geht auf Kosten anderer Frauen und Kinder, dann sieht dieselbe Sache anders aus. Die Menschen hier sind in einem Denken befangen, das ihnen sagt, andere stünden unter ihnen. Schlimmer noch: einige haben keine Ahnung, dass solche moralischen Vorstellungen auf dieser Erde überhaupt existieren. Manchmal habe ich den Eindruck, als gebe es in der menschlichen Geschichte ein bösartiges Muster, das unterschiedliche Formen annehmen kann, sich aber immer wiederholt. Wir müssen ein anderes, besseres Muster finden, wenn wir wirklichen menschlichen Fortschritt wollen.

Iablis: Sie arbeiten für bekannte Zeitungen und Zeitschriften, etwa New York Times, International Herald Tribune, Harper's Magazine, Claves de Razon, Elle a Paris, um nur einige zu nennen. Gerade haben Sie eine Auszeichnung erhalten für das Cover zu Paul Austers The Book of Illusions, das 2004 erschienen ist. Der Titelentwurf wurde von der Jury für die 47th Annual Exhibition der Society of Illustrators im Museum of American Illustration in New York ausgesucht. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Zeichner, Illustrator, evtl. Karikaturist in der amerikanischen Öffentlichkeit dieser Tage?

Verdaguer: Am Ende eines Arbeitstages möchte ich mich gerne im Gespräch mitteilen, doch um Maxwell Coetzee zu zitieren, die »difficulty to communicate« macht es furchtbar schwierig mit Worten zu analysieren oder wenigstens zu diskutieren. Habe ich nicht die stumme Sprache des Linolschnitts gewählt, damit jeder die Freiheit hat, seine eigenen Schlüsse zu ziehen?

Der Wunsch nach Anerkennung ist ein sehr menschlicher. Nicht selten aber ist er eine Quelle der Verführung. Manche Menschen besitzen das Talent, herauszufinden, was andere schätzen oder sich wünschen, unabhängig davon, ob es für den Rest der Gemeinschaft von Vorteil ist oder nicht. Sie sind die Macher und sie vergiften das, was man gemeinhin den Markt nennt. Auf sie folgen die ›Träger der kleinen Entscheidungen‹, das sind die, die sich auf ihren Chef berufen. Sie haben eine Abschirmfunktion, sie verwerfen oder erwählen dich. Diese Art der Erwählung oder Ablehnung ist Teil des großen Spiels, sie ist das Schmieröl, das die dekadente, monströse Maschine Gesellschaft am Laufen hält. Viten werden geschaffen, die wie Diplome oder Auszeichnungen funktionieren, um einen ignoranten Angestellten vielleicht davon zu überzeugen, dass du es verdienst, ihrem Club beizutreten, eine ID, ein Ausweis. Für mich sind das Zertifikate des Todes. Zum Beweis, dass einer lebendig ist, bitte ich ihn: »Erzählen Sie mir etwas über Bäume!« Was interessiert es mich zum Beispiel, wenn jemand in Holland in der Nähe der Gouda-Fabrik geboren ist? Einmal überreichte mir jemand eine Visitenkarte, auf der die Berufsangabe ›Kanadischer Künstler‹ zu lesen war. Das ließ mich auf dieselbe Weise frösteln wie der Fall des selbsternannten New Yorker Künstlers, der sich wie ein Wallstreet-Geschäftsmann gekleidet hatte, um seinen Preis in Empfang zu nehmen oder wie ein anderer, der seine Hosen mit seinen Zeichnungen versah. Das ist die Sorte Menschen, die es versteht, ihre mediokren Gedanken zur Plat du jour zu machen. Sie besitzen das Monopol, sie kontrollieren den Trend. Das bedeutet vollautomatisch, dass all deine Vorschläge unterdrückt werden, es sei denn, du kopierst diese Leute. Dafür bekommst du dann ihre volle Unterstützung, da sie genau wissen, dass du den Brosamen des Marktes hinterherläufst, die für sie die Anstrengung nicht lohnen. Du machst nur Werbung für ihren ›innovativen Stil‹ und begehst gleichzeitig Selbstmord an deiner Seele.

Galeriebesitzer oder Kunstagenten sind frustriert, wenn sie merken, dass ein Künstler, der es zu einigem Ruhm gebracht hat, auch nur zehn Finger an den Händen hat, um zu arbeiten und daher nicht alle aus der Popularität resultierenden Ansprüche erfüllen kann. Sie nehmen dann zu einem anderen Künstler Kontakt auf, der den Stil des Stars imitieren oder etwas produzieren kann, was sich nicht allzu weit davon entfernt. Sehr bald beschäftigen sie ein Team. Und Teams sind, nicht anders als im Fußball, dazu da, um mit anderen Teams in Wettstreit zu treten. »The trend is in motion.« Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Was die Presse betrifft, so zielt ihr Interesse in den meisten Fällen auf Bilder, die als Appetizer für Texte fungieren können, vollkommen gleichgültig, wie inhaltslos oder langweilig diese auch sein mögen. Bilder dürfen nicht zu gescheit sein. Steht auf der folgenden Seite zum Beispiel eine Anzeige, die die Segnungen eines pharmazeutischen Produktes anpreist, so darf das Bild die Anzeige nicht überstrahlen. Man kann sicher behaupten, dass 80 Prozent der Texte geschwätzig, wertlos und mit beliebigem Inhalt angefüllt sind. Bilder, die sich nicht auf dieser Stufe der Mediokrität befinden, sind nicht erwünscht. Schließlich sollen weder der Autor noch der Herausgeber dumm dastehen.

Das letzte Wort hat der Auftraggeber. Ihr Umgang mit deinen Bildern besteht in ›cut‹ und ›paste‹. So gibt es manchmal echte Überraschungen, wenn dein Bild veröffentlicht wurde. Wie kann man unter solchen Bedingungen davon sprechen, Bilder herzustellen, die Einfluss auf das ›lesende Publikum‹ haben?

Dieses lesende Publikum wird von Zeitungen und Magazinen ohne Ende mit einem Genre gefüttert, das dem Cartoon verwandt ist. Ich habe die Motive verstehen gelernt und denke, sie sind nicht darin zu suchen, dass einige Herausgeber aufgrund ihres Gewerbes keinen Sinn für Ästhetik besitzen, sondern darin, dass dieses Genre schlicht und einfach ist. Wenn alles ins Scherzhafte gezogen wird, braucht keiner etwas zu verantworten. Ein Schriftsteller hat Anspruch auf eine Meinung, ein ›Bildermacher‹ nicht. Es gibt noch ein anderes, dem joke verwandtes, ebenso giftiges Genre, das einen intellektuellen Anspruch erhebt, in Wirklichkeit aber nur eine fade Blaupause von Magritte, Marcel Duchamp, Dalí, usw. darstellt. Man kann ihm ebensowenig entkommen wie die französischen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts dem Zwang, für das Theater in Versen zu schreiben. Der Vorteil dieses Genres ist, dass man ein Konzept zu haben beansprucht. Sie segeln jedoch im Ungefähren und zeitigen damit Resultate, die - wie Cartoons - nicht falsch sein können.

Die Bedeutung meiner Bilder springt einem direkt ins Gesicht. Ihr Ernst ist unerträglich, verstörend. Die Menschen sollen aber nicht daran erinnert werden, wo es schmerzt oder sich schuldig fühlen. Du hast kein Recht, die Wirkung der Werbung zu stören, besonders, wenn ihre Botschaft sich auf den Kampf des Menschen bezieht... ( im Französischen gibt es ein wundervoll steriles Wort dafür: ›les annonceurs‹, das sind die, die einem etwas erzählen).

Man kann die Sache aber noch weiter anschärfen: die Zeitfrage. Da ›sie‹ alles sofort oder spätestens morgen brauchen, muss es schnell gehen. Das hat die wunderbar bequeme Konsequenz, dass die Zeit zum Nachdenken und damit die Qualität der Gedanken sich reduziert. Deine Arbeit wird reduziert auf die Funktion, einen ansonsten gähnend leeren Platz zu füllen. Zudem muss das Risiko des Nacharbeitens minimiert werden. Denn, das ist kein Geheimnis, letztlich geht es darum, die Geldgeber nicht zu verärgern. Ein Bild zu veröffentlichen, gleicht dem Versuch, durch einen winzigen Spalt, den man entdeckt hat, in einen Felsen hineinzukommen. Ich bin mit meinen Vorschlägen zu Treffen gegangen wie ein Anwalt, der alles Notwendige zur Verteidigung seines Falles auf dem Papier niedergelegt hatte. Das vernichtet eine Menge Kreativität. Hier bei uns sind die Leser wie Gäste in einem Restaurant: Sie haben keinen Schimmer, was in der Küche vor sich geht und wie man die Suppe zubereitet.

Iablis: Sie sind Europäer, genauer: Franzose mit einer katalanischen Familiengeschichte. Man könnte die Serie auch als eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert lesen: am Anfang stehen die saturierten und ihrer selbst überdrüssigen Gesellschaften vor dem Ersten Weltkrieg, deren offenes Geheimnis die – auch koloniale – Repression ist, am Ende steht die geschundene Natur, die ein geschundener Mensch entsorgt. Sehen Sie es so?

Verdaguer: Ich bin alles, nur nicht analytisch. Sie ordnen mich als Europäer ein, genauer als Franzosen und noch genauer als Katalanen. Tatsache ist, ich bin auch Kanadier und habe die längste Zeit meines Lebens in Nordamerika gelebt.

Die Serie, die ich geschnitten habe, kann sehr wohl als Darstellung des Kampfes der Menschen angesehen werden, trotzdem möchte ich da vorsichtig sein. Sagen wir, es handelt sich um eine Einführung. Dreizehn kleine Bilder können jedenfalls nicht den Anspruch erheben, das Thema erschöpfend zu behandeln. Jedem einzelnen Bild lassen sich natürlich unterschiedliche Bedeutungen unterlegen. Zum Beispiel diese Konstruktionen, von denen Körper herunterfallen: das können die Tempelpyramiden der Incas sein, wo Priester ihre Menschenopfer vollziehen, oder aber Menschen, die in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster des World Trade Centers springen. Diese Frau mit dem toten Kind, die ein Gefäß mit kontaminiertem Wasser trägt, läuft aus der Szene weg. Spielt das nun ganz früher in Babylonien oder handelt es sich um eine Indianerin oder eine Afrikanerin? Zwanzigstes Jahrhundert? Wo findet sich der Bericht? In einem alten Geschichtsbuch, heute in der New York Times, morgen in Libération oder in sechs Monaten in El País?

Ich bin ›gebeizt‹ in dem Saft, der sich Französische Kultur nennt und deren Ausprägungen seit langem von Paris aus ›orchestriert‹ werden. Das, was sich rund um die Stadt und außerhalb befindet, sind immer noch die Provinzen, was man auch mit ›Kolonien‹ übersetzen könnte, sie haben sie nur ein wenig ausgebreitet, bis Afrika, aber das ist ein Detail.

Von meiner Abstammung her gehöre ich der vielgestaltigen und immer noch geschlossenen Mittelmeerwelt an, rund um diesen gigantischen Swimmingpool, der jetzt verseucht ist. Einer Welt, die soviel positiven und negativen Austausch befördert hat.

Dem weißen Mann in den Amerikas wird nachgesagt, er habe keine Geschichte oder sei frei von der Bürde der Geschichte, oder habe durch seinen Mangel an Geschichte einige nicht so glanzvolle Taten vollbracht. Man hat die indianische Zivilisation vollkommen zerstört, so dass niemand sich auf etwas berufen konnte, das vor der Ankunft des weißen Mannes existiert hatte. Es ist gefährlich, die Menschen über das, was geschehen ist, aufzuklären. Es ist möglich, dass es ihre Einbildungskraft anregt. Möglich auch, dass es sie schwerer zu kontrollieren macht.

Die Stadt, in der Sie wohnen, Köln, andere deutsche Städte, Rotterdam sind alle völlig zerbombt worden. Man hat eine neue Kulisse aufgebaut. So lebten die Menschen plötzlich wie Flüchtlinge in einem völlig fremden, rekonstruierten Land (Disneyland?). Sie glauben, zuhause zu sein oder Ihr Heim nie verlassen zu haben, dabei wurde Ihre Welt neu ›designt‹. Vielleicht sind Sie nicht weit gereist im körperlichen Sinne, aber mental wurden Tausende von Jahren, die Teil der Haut, des Fleisches sind, hinweggefegt, plattgemacht, die Erinnerung wurde ausgelöscht. Technisch ausgedrückt könnte man sagen, sie haben Ihnen die Festplatte mit allen Daten gestohlen und durch eine andere ersetzt, auf der neue Programme mit neuem Sound laufen. Wie deutsch glauben Sie zu sein? Das frage ich nicht, um nationalistische Wünsche wiederzubeleben, sondern um zu betonen, dass es eine wertvolle Verbindung gibt, die zerstört wurde, so dass ausschließlich die neuen Verbindungen zu sehen sind, neue Werte, die einige ›Denker‹ aufgestellt haben, damit sie wie von einem Schwamm aufgesogen werden.

Haben Sie sich das alles jemals klargemacht, wenn Sie auf Ihren Fluss schauen? Einmal, zur Osterzeit, berichtete eine Zeitung in Katalanien von schweren Schäden durch eine Überschwemmung. Ein Foto zeigte den über die Ufer getretenen Fluss mit zwei nahe beieinanderliegenden Brücken. Die alte Steinbrücke war noch intakt, die neue Zementbrücke lag in Trümmern.

Iablis: Post-Existenzen und Proto-Nationen – geht das für Sie zusammen? Anders gefragt: Geben Sie dem zusammenwachsenden Europa eine Chance, über das Schreckensszenario Ihrer Bilder hinaus zu gelangen?

Verdaguer: Manchmal ist es besser, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen. »Je mehr man im Frieden schwitzt, umso weniger blutet man im Krieg«, sagt ein chinesisches Sprichwort. Das beinhaltet auch die Warnung, dieselben Fehler nicht zu wiederholen. Europa, das sind, historisch gesehen, ›Warlords‹, die sich gegenseitig umbrachten. Die Überlebenden, die ihre Liebe zu den Ländern und Gütern der anderen nicht umgebracht hatte, heirateten untereinander. Als ihnen ihre Spielwiese zu klein wurde, fanden sie andere Fußball- oder Golffelder und blieben der Tradition des Blutvergießens treu. Ihren Spielwiesen gaben sie Namen wie Panama, Kanada, Amerika, Afrika. So unfair es wäre, einem Trinker, der heute verkündet, dass er das Trinken aufgegeben habe, zu unterstellen, er fange morgen wieder damit an, so unklug wäre es, keine Beziehung herzustellen.

Vor kurzem erfuhr ich, dass in Deutschland angebaute Kartoffeln zum Schälen nach Italien transportiert werden, ehe sie den Weg auf deutsche Tische finden. Schwedische Krabben fahren nach Portugal oder Marokko in Urlaub, um von ihren Schalen befreit zu werden, damit sie - zurück im Heimatland - ohne Gefahr verzehrt werden können.

Ich hege ernsthafte Zweifel an der durch das ›wir‹ (der Völker) unterstellten Gleichheit angesichts unseres gierigen und selbstsüchtigen Verhaltens. Die Trägheit des Geistes ist ebenso grenzenlos wie die Phantasiearmut der genialen Hirne, die sich solche Aktionen ausdenken. Eine andere Gefahr für Europa ist es, mit den Fingern auf irgendeine Nation zu zeigen, um sie als schlechtes Beispiel zu markieren und uns glauben zu machen, ›wir‹ seien reiner. In Europa blüht die Phantasie, es werde an irgendwelche Leute verkauft. Das wäre zu schön. Die Technokraten und Händler arbeiten gut, sie verkaufen verzweifelten Völkern eine Hoffnung, die ihnen vor der Nase gaukelt wie den in der Falle gefangenen Ratten der Käse.

Der fortgesetzte Versuch, ein Land mit Hilfe von ›edit‹ und ›paste‹ zu erfinden, bedeutet nicht, etwas aufzubauen, sondern so eine Art Privatclub zu gründen. Eine Diskothek, in der eine bestimmte Art von Brouhaha gespielt wird. Fragt man nach, was das sei, sagen sie dir: »Das ist Musik!« Amerikanische Musik? Bist du dann bereit, die Party zu starten, kommt ›Big Brother‹ in deine Stadt. Er hat einige Zeit gewartet, um zu sehen, wie dick und fett deine Beine werden. Er braucht Bargeld, um das Getriebe seiner Spiel- oder Spekulations-Maschine zu schmieren. Er hasst es, Zeit zu verlieren und er wird deine Vorstellungen nur solange dulden, wie sie ihm von Nutzen sind. Niemals wird er ein für dich gutes Geschäft tätigen.

Die Türen öffnen heißt, den Wolf hereinzulassen, der die Schafe frisst. Die Türen geschlossen halten, bedeutet offenen Kampf. Offiziell baut ihr an Euren Grenzen ›Mauern‹ gegen den Terror, aber in Wirklichkeit durchleuchtet ihr die Menschen am Eingang, um jeden zurückzuweisen, der davon profitieren könnte, die Überproduktion Eurer Milch zu trinken. Ihr schreit aus Leibeskräften, dass Ihr zur Zeit genügend Leute habt und niemanden braucht, der Euren Müll einsammelt. Ihr werdet älter und da sind nicht so viele Junge, die das Geschäft übernehmen könnten. Selbst wenn ›Old Boys‹ Boys bleiben, so wollen sie doch ihre Art der Partnersuche beibehalten, als wären sie immer noch zwanzig und im Ballsaal. Kein (individueller oder allgemeiner) Eintritt in den Club ohne vorherige Anmeldung und ohne Erniedrigung.

Braucht die Erde wirklich eine weitere Gruppe Privilegierter? Schon heute fährt die Gang der Technokraten und Geschäftsleute fort, innerhalb der Schutzwälle Krieg zu führen und Allianzen zu schließen, die an die Kämpfe unserer großartigen kleinen Könige erinnern, der roitelets.

Währenddessen sind wir dazu verdammt, bei dem Riesen McDonald zu essen – alle außer denen, die das Drehbuch verfassen, die die Regeln machen. Sie haben Köche, was nur fair ist, denn sie sind sehr damit beschäftigt, festzustellen, wer in dem gigantischen Schloss mit wem schlafen darf und in welchem Zimmer. Deshalb sehen sie auch den Rest der Welt nicht. Die anderen, die ihnen Arbeitskräfte und Rohstoffe zur Verfügung stellen, sterben vor ihren Türen. Aber wie lange ist so etwas hinzunehmen? Wollen wir das teure Konzept ›Grandhotel Europa‹ grundsätzlich beibehalten, müssen wir uns ein paar Fragen stellen: Wer wird die Toiletten reinigen, das Gepäck tragen und als Türsteher arbeiten? Und wer muss beispielsweise in Bolivien für diesen Traum bezahlen?

Grafisch kann man viele Wege beschreiten, um solche Dinge sichtbar zu machen. Meine Arbeiten zeigen einen winzigen Ausschnitt des riesigen Problems. Smith sagt: »Treffen sich zwei Geschäftsleute, kann man davon ausgehen, dass irgendjemand zu leiden hat«. Ich weise auf ein paar Folgen solcher ›Deals‹ hin.

Die Bilder zeigen den Zusammenprall zwischen dem Menschlichen (Haut, Fleisch & Knochen) und der ›Struktur‹ Es gibt eine unwiderstehliche Schwäche, sich durch die ›Struktur‹ trösten zu lassen. Sie ist ein Zufluchtsort, ein Ort an dem die Knochen zur Ruhe gebettet werden können und an dem man sich sicher fühlt.

›Struktur‹ ist eine Maschine, die in der Lage ist, jedweder Gruppe, die man dafür aussieht, kollektives Leid oder Bestrafung zuzufügen, nicht nur von Mensch zu Mensch. Auf unterschiedlichen Stufen, in unterschiedlichen Dosen, je nach dem Grad der Nützlichkeit in Bezug auf die Funktion, die sie erfüllt. Ein extremer Fall ist z. B., einen Körper mit der größtmöglichen Menge Kugeln vollzupumpen und dann in den Laden zu gehen, in der Absicht noch mehr davon zu kaufen, um die Familie, die sie herstellt, finanziell zu unterstützen.

›Struktur‹ ist das Schlimmste, die deformierten Körper sind nur die Folge. Sie kann in allen Formen auftreten, nicht nur physisch. Sie kann die Kartoffeln wie leichte cremige Wolken aussehen lassen auf deinem Teller. Vielleicht möchtest du noch mehr konsumieren? Verwahrst du dich dagegen, so gibt es immer jemanden, der einen neuen Einfall hat, um dich wieder zu entfremden oder zu überwältigen. Die offizielle Rhetorik lautet: »Es ist alles zu deinem Besten, mein Sohn.«

Iablis: Sie bevorzugen den Linolschnitt als künstlerisches Medium. Das erzeugt – in der radikalen Vereinfachung der Form- und Farbkomposition – ausdrucksstarke Bilder, die an den Expressionismus und an Propagandabilder der Zwanziger und Dreißiger Jahre erinnern. Ist diese Reminiszenz gewollt? Wenn ja, worin liegt für Sie das Gemeinsame Ihrer Arbeiten mit den historischen Vorbildern?

Verdaguer: Letztes Jahr lag in meinem Briefkasten ein Buch mit dem Titel Radical Art. Printmakers from the left in 1930s in New York. Es war das Geschenk eines Universitätsverlages. Zu meiner Überraschung fand ich darin Künstler, die unter Verwendung derselben Drucktechniken in diesem Land bereits vor mir die Kämpfe der Menschen dargestellt hatten. Der Unterschied lag darin, dass sie zu ihrer Zeit von der Regierung unterstützt wurden. Das ist heutzutage undenkbar. Ich verfertigte meinen ersten Druck in einer Garage in Südfrankreich mit Hilfe einer kleinen Buchbinderpresse. Ohne jeden historisch ästhetischen Bezug und ohne irgendeine Kenntnis von Drucktechniken. Ich wollte damals nur Plakate drucken, um meine Gemäldeausstellung anzuzeigen.

Die Bemerkung, dass etwas mich an anderes erinnert, ist normal im kreativen Bereich. Niemand kann diesem Phänomen entrinnen. In meinem Fall war es möglicherweise so, dass ich ›auf der Suche nach Wasser‹ dieselben Quellen aufsuchte wie jene, was aber nicht notwendigerweise heißen muss, dass ich aus ihnen trank. Möglicherweise fanden andere die Quelle vor mir, weil sie zum Beispiel vor mir lebten, aber das bedeutet nicht, dass sie meine Ahnen sind. Die Frage impliziert für mich folgendes: Hat es jemanden gegeben, der vor mir lebte und Vergleichbares erprobte, so habe ich kein Recht zu leben, die Arbeit ist bereits getan. Wir sind besessen von DNA, Markenartikeln und der Frage, wer die Nummer Eins ist. Wer zeugt wen oder was? La Fontaine hat nur wenige von den Fabeln erfunden, die er schrieb. Ist er deswegen ein weniger guter Schriftsteller?

Setzt man die Geschichte der Kunst in Beziehung zur Menschheit, so haben Expressionisten und Impressionisten eine geringe Bedeutung. Soll ich schon zu jemandem aufschauen, dann zu Meistern ihres Faches wie Goya, El Greco oder aber den namenlosen Künstlern, die die nigerianischen Bronzen oder die polynesischen Holzschnitzereien geschaffen haben, die Liste wäre endlos.

Ja, man nannte mich den Mann aus dem Norden, aber ich stamme aus dem Süden. Der Sänger Jacques Brel sagte einmal, es mache ihn sprachlos, wenn Leute behaupteten, Venedig erinnere sie an Amsterdam.

Zuerst verfertigte ich Holz-, später Linolschnitte. Ihr Wesen liegt für mich näher an der Basrelieftechnik, womit ich das Skulpturhafte in diesem Konzept meine, das Dreidimensionale. In die Nähe des Zweidimensionalen gerät es nach dem Durchgang durch den Prozess der ›Übersetzung‹ aufs Papier. Aber das ist ein Kompromiss oder eine Verformung ihrer ursprünglichen Natur (der Trick, das Übereinkommen, die Vermarktung in Form von Abzügen), dazu bestimmt, Muster von Schwarz und Weiß zu erzeugen. Es ist eines der ältesten Verfahren zur Herstellung von Abzügen. In diesem Sinne habe ich das Rad nicht erfunden, ich spiele nur mit ihm.

Nichts sieht einer Marmorskulptur ähnlicher als eine andere Marmorskulptur: Als erstes sieht man den Marmor. Das Material ist kraftvoll und magisch. Es überstrahlt die Intention. Besäße ich ausreichenden Arbeitsraum und unbegrenzte finanzielle Ressourcen, würde ich gerne in Marmor arbeiten. Linoleum ist ausgezeichnet, aber kein haltbares Material. Außerdem ist es wichtig, für unterschiedliche Ziele zwischen verschiedenen Techniken zu wechseln, auch um in seiner Kunst zu wachsen. Es stimmt, dass der Linolschnitt eine angemessene Ausrüstung verlangt, aber verglichen mit dem Ertrag ist die Investition gering. Aus diesem Grunde benutzten die Armen es für ihren Kampf. Man lässt die Presse laufen und kann die Wände einer Stadt mit beliebigen Botschaften pflastern. Selbst wenn die Farben von geringer Qualität sind und auf schlechtem Papier gedruckt wird: die Botschaft kommt 'rüber. Heutzutage benutzt man Fotokopien, aber ehe sie zur Verfügung standen, war das die preiswerteste Art, eine Botschaft unter die Leute zu bringen.

Man kann sagen, ich folge einer Tradition des Sich-Ausdrückens mit beschränkten Mitteln. Das verleiht einem ein spezielles Gefühl der Unabhängigkeit: im Extremfall besitzt man die Freiheit sich selbst zu drucken. Es bedarf keines Vermittlers und Kontrolleurs. Ästhetisch gesehen zwingt einen diese Technik zur Vereinfachung, um klar zu bleiben. Diese Qualität geht bei Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern nicht verloren. Details ›überleben‹ den Druck nicht besonders und haben negative Auswirkungen auf die ›Lesbarkeit‹. Interessant ist, dass eine in dieser Hinsicht ausgewogene Arbeit auch im Internet außerordentlich gut zur Geltung kommt. So harmoniert diese alte und primitive Weise der Reproduktion hervorragend mit der modernsten Form der Kommunikation.

Iablis: Sehen Sie Berührungen zwischen Ihrer Arbeit und populären Bildmedien wie dem seit den Siebzigern ästhetisch und ideologiekritisch geadelten Comic Strip? Mögen Sie Graffiti? Glauben Sie, dass die Straße oder der Billigkommerz die Kunst beflügeln?

Verdaguer: Es würde sicher Spaß machen Comic Strips zu produzieren, das Problem ist, dass ich nicht komisch bin. Aber man kann ›Strips‹ herstellen ohne Comic. Für mich sind alle Bilder, die so etwas wie eine Geschichte erzählen, ›Strips‹. Man findet sie auf Tafeln, Leinwänden, Wänden, als Hochrelief, usw. Es ist normal, ein Genre dort zu sehen, wo die Leute es haben wollen. Öffnet man seinen Geist und in diesem Fall auch die Augen, findet man es in unterschiedlichsten Ausprägungen. Auf einigen frühen griechischen Töpferarbeiten, in ägyptischen Gräbern, auf dem Teppich von Bayeux, auf Davids Napoleon überschreitet den großen St. Bernhard. Die Place Vendôme mit ihren großen Säulen ist ebenfalls eine Zeichenkette oder Bildergeschichte, aber in Form einer Spirale; der Triumphbogen, Giottos Fresken in der Scrovegni-Kapelle, usw. usw.

Zieht man sich auf eine sehr enge Bedeutung von ›Strip‹ zurück, so habe ich etwas in der Art mit meinem Notebook gemacht. Um mit Leuten in entfernten Gegenden zu kommunizieren, zum Beispiel in Kroatien, habe ich eine Serie einfacher Zeichnungen benutzt. Es funktionierte ausgezeichnet.

Was man dabei für das Zeichnen lernen kann, ist, dass jede Kunst sich naturgemäß in dem Moment am Besten entfaltet, in dem es notwendig wird, mit anderen zu kommunizieren. Kunst existiert nicht, um Geld auf die Bank zu scheffeln, diese ›Funktion‹ kam später hinzu und ist Zeichen von korrumpierter Kunst. Ich spreche nicht von Kunst, die dazu benutzt wird, andere zu korrumpieren. In ihrer natürlichen und nicht-sophistischen Form ist Kunst Sprache, nichts als eine Form von Sprache. Besser ausgedrückt, sie ist eine universelle Sprache, die es erlaubt, mit jedem Individuum auf dieser Welt zu kommunizieren, ganz unabhängig davon, ob es den komplizierten Code der Herrschenden, den ich ›Mandarinsprache‹ nenne, selber beherrscht oder nicht. Heutzutage sind wir in derselben Weise mit deformierter Kunst konfrontiert wie mit verschmutzten Flüssen – eine echte Tragödie. Bereits Gauguin sagte, als er im 19. Jahrhundert in Haiti an Land ging: »Alles ist verrottet, der Mensch sowohl wie die Kunst.« Ich glaube, das hängt zusammen. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, unsere Seelen zu reinigen, wenn wir auf eine Erneuerung der Kunst hoffen. Wir brauchen Frische, Ernst, keine smarten Geschäftsleute, die uns in diesen modernen Gräbern, Museen genannt, Müll verkaufen.

Aber zurück zum Comicstrip. Werden Millionenauflagen davon gedruckt und ist Quantität ein Kriterium, ist er dann bedeutend? Man hat die Wahl – entweder man verbrennt sie oder man beauftragt einen Geschäftsmann, ihren Geldwert zu bestimmen, druckt Bücher, schreibt Thesen, hält Seminare und macht mit diesem immensen Geblubber guten Profit wie mit irgendeiner Ware. Inmitten all diesen Drecks findet man, wie bei allen menschlichen Aktivitäten, einige gute Leute und herausragende Werke. Aber das meiste hat das Niveau von Soaps: kein Text, keine Geschichte, die einen Wert hätte, nichts, was einem Menschen die Möglichkeit eröffnete, daran zu wachsen. Es ist pures Gift. Andererseits hege ich keinerlei Vorurteil, was die Herkunft einer Kunstrichtung angeht. Ist eine Blume, die aus der Mülltonne herauswächst, weniger wertvoll als eine, die in einem gut temperierten Apartment gezüchtet wird?

Dasselbe mit Graffiti, störend daran war die ›Überdosis‹. New York war überzogen mit Graffiti. Das Konzept hatte den Vorteil, kein kommerzielles zu sein, jedenfalls bis jemand einen Fotografen engagierte und Hochglanzbücher drucken ließ, oder die Kids oder einen fortschrittlichen Designer dazu brachte, den Stil für CD-Hüllen, Tattoos und andere Zwecke zu kopieren. Die Wände einer Stadt, deren Anblick einen stumpfsinnig machen können, auf diese Weise zu nutzen, hat sicher Leben gerettet. Aber die Sache hat auch Schattenseiten, z. B. wenn Graffiti als Vorwand dient, Architektur zu zerstören, was vor allem durch Untalentierte geschieht. Ich persönlich mag Graffiti nicht, aber das spielt keine Rolle. Steht der nötige Ernst dahinter, so will ich nicht klagen. Der Jazzmusiker Lionel Hampton sagte einmal: » Es gibt zwei Arten von Musik, gute und schlechte.«

Iablis: Ihre Bilder erwecken den Eindruck, als zeigten sie vor allem arbeitende und leidende Kollektive. Treten Individuen auf, werden sie gern mit den Zeichen der Isolation versehen. Wie verhalten sich in Ihrer Vorstellung Individuum und Kollektiv zueinander? Sehen Sie in Ihren Darstellungen Illustrationen dessen, was man ›erzwungenes‹ oder ›falsches‹ Kollektiv nennt? Gibt es ein richtiges? Oder gibt es nur die Gemeinschaft, die das Leid stiftet?

Verdaguer: Ich weiß nicht, wie das in Köln ist. Hier in Manhattan ist die Einsamkeit allgegenwärtig, abgesehen vielleicht von ein wenig nachbarschaftlichem Verhalten in Chinatown. Zur Lunchzeit sieht man auf den Straßen im Zentrum enorme Menschenmengen, die den Anschein einer Gruppe erwecken, aber das täuscht. Es gibt keine Verbindungen zwischen diesen Menschen. Ebensogut könnte eine Menge unverbundener Kugellager die Straße hinunterrollen. Wo ist da das Vergnügen? Verabreiche diesen Leuten flaschenweise Bier und ihr Verhalten ändert sich vielleicht.

Schauen Sie sich mal die Vögel am Himmel an oder denken Sie an ein Rudel Karibus in der Wildnis: sie bilden eine Ordnung. Vorneweg (oder hinter ihnen) befindet sich ihr Anführer, und auch wenn wir es nicht wahrnehmen, sie wissen, wohin die Reise geht. Ist ihr Anführer unfähig, haben sie keine Chance zu überleben. Er leitet sie, aber er verlangt keine Steuern, oder? In dieser Stadt ist das Individuum kollektivistisch und das Kollektiv individuell. Sie bilden höchstens Gruppen, um Geschäfte zu machen oder um zu arbeiten. Es gibt Clubs, aber keine Gemeinschaften, vor allem unter den weißen Jungen und Mädchen. Die unteren Klassen, die versklavt sind, die aus Zentral- und Südamerika kommen und die Egoisten bedienen, haben vielleicht noch Sinn für Gemeinschaft. Mag sein aus Verzweiflung oder aufgrund ihrer Kultur. Aber immer noch laufen alle auseinander und wieder zusammen, um Treppen, Korridore und die U-Bahnen zu benutzen, nicht anders als in Paris.

Ich bin davon überzeugt, dass Leid durch Menschen ohne Kopf und Herz verursacht wird. Für Kollektive gilt das gleiche, auch sie brauchen einen Kopf und ein Herz. Aber: selbst wenn es solche Menschen gäbe, sie sind schon zu sehr angegriffen durch einen seltsamen ›Tumor‹. Oder sie sind wie etwas, das schon zu lange auf derselben Stelle steht: unverrückbar. Es steht schwerlich auf und ist bereits dabei, zu zerbröseln. In unseren tieferen Instinkten herrscht eine Art von Erstarrung oder Betäubung, und so sitzen wir in der Falle der Agonie.

Sicher, einige werden überleben. Aber wer? Werden sie den nächsten Krieg beginnen? Viele werden noch mehr leiden als bisher, da wir diesen absurden Weg immer weiter gehen, bis es zu spät ist. Ehrlich gesagt, ich finde Ihre Fragen schwierig zu beantworten. Da bewege ich mich auf einem Gebiet, das sich zu weit von meiner Kompetenz entfernt.

Iablis: In der Vergangenheit hat man der spanischen Gesellschaft ein Übermaß an Kollektivismus nachgesagt. Heute ist die spanische Gesellschaft eine Gesellschaft im Übergang. Mit einem Namensverwandten von Ihnen, dem 1902 verstorbenen Dichter Jacint Verdaguer, verbindet sich der Aufbruch der katalanischen Literatur im 19. Jahrhundert. Berührt Sie der heutige Aufbruch der katalanischen Kultur?

Verdaguer: Ich habe keinerlei Berührung mehr mit der katalanischen Welt und ihrer Kultur. Alles, was ich dazu sagen könnte, wäre Produkt meiner Vorstellung, und deren gefährlicher Begrenztheit bin ich mir völlig bewusst. Ich lebe zu lange woanders, zu weit weg von diesem Land. Sicher, in der U-Bahn-Station in Barcelona kann ich meinen Nachnamen in großen Buchstaben lesen und ich finde das amüsant. Aber sie gehört mir nicht, ich muss Eintritt bezahlen und zwar in Euro.

Katalanisch ist meine Muttersprache oder eher die meiner Großmutter. Sie beherrschte keine andere. Sie musste nach Frankreich fliehen und war - so glaube ich - seitdem verloren. Völlig abgeschnitten von allem, was ihre innere Welt ausgemacht hatte. Meine Mutter und ich waren die letzte Verbindung zur Welt, die ihr Leben lebenswert machte. Ansonsten hatte sich alles um sie herum aufgelöst. Diese freundliche Dame, die mich mit gekochtem Reis mit Knoblauch fütterte, den ich hasste, stellte sich niemals tiefschürfende Fragen über die ›passage du culture‹, sie hat die ›passage‹ über die Pyrenäen - wie tausend andere auch - physisch kaum überlebt. In mir starb diese Sprache, als sie starb. Da war ich dreizehn. Ich bezweifelte nicht die Ansicht meiner Eltern, dass es wichtiger sei, mein Französisch zu verbessern und ebenso mein Englisch, eine Sprache, zu der ich keinerlei Neigung verspüre.

Das Ergebnis versteht sich von selbst: wenn ich heute jemandem in Barcelona eine Email schreibe, schreibe ich fast immer auf Englisch. Die Vorfahren, das Land, mein Familienname, mein Aussehen, das alles scheint angesichts der Realität keinerlei Bedeutung zu haben. Manchmal ist das schmerzlich, aber es ist genau das, was geschieht, wenn man einer sehr langen bleaching ›passage‹ im Französischen ausgesetzt ist, auf die dann das Englische folgt. Es ist ein ungeheurer Verlust, aber auf der anderen Seite sollte man in der Lage sein, jede ›passage‹ zu überleben und stärker zu werden. (Passage à tabac bezieht sich im Französischen auf Polizeimethoden.)

Mag sein, dass all das dich verbiegt. Aber die Tatsachen nicht zu akzeptieren, macht die Sache in jeder Hinsicht schmerzlicher. Am Ende steht die Einsicht, dass ich über die katalanische Kultur nichts zu sagen habe. Ich kann über meine Erfahrungen mit Äpfeln und Birnen sprechen, die ich bei gelegentlichen Besuchen gemacht habe – mit all den Begrenzungen meiner Wahrnehmung. Meine Aussagen hätten nicht mehr Wert als Ihre.

Meine Erinnerungen an diese Kultur sind so karg wie die Überbleibsel vom Weinberg meines Großvaters. Den haben Bulldozer plattgewalzt, um Platz für einen Lastwagen-Parkplatz zu schaffen. Sie kommen aus ganz Europa.
Nach all dem – je ne suis que de passage.

Aus dem Amerikanischen übertragen von Renate Solbach

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