Frank Schirrmacher: Minimum
München: Karl Blessing Verlag 2006, 185 S.

Bettina Rainer:
Der Diskurs der Überbevölkerung: Zur Metaphorik und Funktion
einer in Aussicht gestellten globalen Katastrophe. Berlin 2001,
(Intenetquelle: http://www.diss.fu-berlin.de/2003/144/), 678 S.
Als Buch: Bevölkerungswachstum als globale Katastrophe:
Apokalypse und Unsterblichkeit
Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2005, 439 S.

Ralf Zimmer-Hegmann, Klaus-Peter Strohmaier et al.:
Sozialraumanalyse
Soziale, ethnische und demographische Segregation
in den nordrhein-westfälischen Städten
Dortmund: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und
Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen 2006, 187 S.

Massimo Livi Bacci:
Return to Hispaniola: Reassessing a Demographic Catastrophe
In: Hispanic American Historical Review 83:1
Durham, North Carolina: Duke University Press 2003. 51 S.

Wolfgang Walla, Bernd Eggen, Heike Lipinski:
Der demographische Wandel
Herausforderungen für Politik und Wirtschaft
Stuttgart: Kohlhammer 2006, 261 S.

Kopfgeburten und Metadiskurse – Wie über demographische Entwicklungen und das Verhandeln darüber verhandelt wird

Über die Bevölkerungsentwicklung und ihre gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Konsequenzen wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich, politisch und polemisch geschrieben. Am Anfang stand An Essay on the principles of Population des englischen Geistlichen und Nationalökonomen Thomas Robert Malthus, der den Begriff ›Überbevölkerung‹ gewissermaßen ›erfand‹, indem er einen Zusammenhang zwischen der Vermehrung der Menschen eines Landes und der Erreichbarkeit von Subsistenzmitteln herstellte. Der Sozialdarwinismus griff die Theorie am Ende des 19. Jahrhunderts auf und verwandelte sie in eine menschenverachtende Ideologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland als Rassen(irr)lehre die bekannten fürchterlichen Folgen zeitigte.

In der globalen Perspektive wurde das Thema ›Überbevölkerung‹ einem größeren Publikum im Jahre 1972 durch die aufsehenerregende Studie des Club of Rome über Die Grenzen des Wachstums nahegebracht. Viele der ehemals kolonialisierten Länder Asiens standen zu jener Zeit noch nicht einmal am Anfang der ökonomischen und technischen Entwicklung, die heute als ›Globalisierung‹ wahrgenommen wird. Das Bevölkerungswachstum wurde in erster Linie mit Blick auf den Ressourcenverbrauch betrachtet. Zum Glück haben sich die Katastrophenszenarien der damaligen Zeit nicht bewahrheitet.

Einen repräsentativen Überblick über die Publikationen zum Thema ›Demographie‹ geben zu wollen, ist angesichts ihrer Masse und Diversität wohl aussichtslos. Die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig verzeichnet zum Stichwort 606 Einträge (abgerufen am 21.09.2006), zum Stichwort ›Bevölkerungsentwicklung‹ gar über 1300. Schlüsselt man die Zahlen nach Erscheinungsjahren auf, dann zeigt sich, dass das Interesse an diesen Themen im 21. Jahrhundert stark gewachsen ist: 25 Prozent der Publikationen zum Thema ›Demographie‹ sind von 2000-2006 erschienen. Nimmt man das letzte Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts hinzu, kommt man gar auf 55 Prozent (der Katalog listet alle Veröffentlichungen bis zurück ins Jahr 1895 auf). Kein Zweifel, das Thema ›Demographie‹ erlebt in jüngster Zeit wieder einen Boom, doch der Schwerpunkt der Analysen und Interpretationen hat sich deutlich verschoben. Die ›Bevölkerungsexplosion‹ ist in den entwickelten Ländern nicht mehr das vordringliche Thema. Im Mittelpunkt des Interesses stehen jetzt die sozialen, ökonomischen und politischen Konsequenzen der zum Teil dramatisch gesunkenen Geburtenraten. Dabei reicht das Spektrum der Darstellungen von Katastrophenszenarien, die kollabierende Sozialsysteme und ökonomische Einbrüche prophezeien über nüchtern-sachliche Zustandsbeschreibungen bis hin zu diskurstheoretischen Abhandlungen, welche die Realität eines demographischen Problems überhaupt leugnen und darin eine Art Propagandamittel der (männlichen) Machtelite sehen, das vor allem dazu diene, die Errungenschaften der Emanzipationsbewegung zur Disposition zu stellen. Nichtsdestoweniger berufen sich die sehr unterschiedlichen Arten, das Thema zu behandeln, alle auf wissenschaftliche Quellen oder nehmen selbst für sich in Anspruch, wissenschaftlich zu sein. Die Spannweite der Argumentationen spiegelt in gewisser Weise den Stand der gesellschaftlichen Pluralisierung wider, was zwar für Abwechslung, aber nicht unbedingt für Klarheit sorgt.

Die Publikation, die wohl den größten Zuspruch bei den Lesern gefunden hat, ist in gewisser Weise repräsentativ für den geschilderten Zustand: Das Buch Minimum des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher will für die zu erwartenden gesellschaftlichen Umwälzungen, die aus der Ausdünnung ganzer Generationen der deutschen Bevölkerung resultieren, sensibilisieren, ohne die gesellschaftlichen Konfliktpunkte, um die es geht, offen anzusprechen. Stattdessen werden Ausnahmesituationen wie die Katastrophe eines Siedlertrecks, der 1846 in der Sierra Nevada in einem Schneesturm steckengeblieben ist, oder der Brand eines Hotelkomplexes auf der Isle of Man (S. 40 ff) oder die extreme Hitzewelle in Chicago im Jahre 1995 (S. 158 ff.) herangezogen, um zu zeigen, dass sich familiäre »Netzwerke« (S. 128) besser bewähren als sogenannte »Einzelkämpfer«. Schirrmacher beruft sich auf allerlei wissenschaftliche Arbeiten aus den Bereichen Hirnforschung, Evolutionspsychologie, Soziologie, Ethnologie und nicht zuletzt Demographie, um seine Argumentation zu untermauern. Gleichzeitig versucht er immer wieder den zu erwartenden Gegenargumenten vor allem aus dem feministischen Lager den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er behauptet, die ›wissenschaftlich‹ beglaubigte Festlegung der Frauen auf soziale Kompetenz, auf Familie, Kindererziehung und Altruismus, sei ja gar keine. So sichert er sich in journalistischer Manier nach allen Seiten ab, vermeidet Angriffsflächen, aber auch jedwede tiefergehende Reflexion.

In gewisser Weise als Gegenpol zu diesem Buch kann man die wortreiche Doktorarbeit von Bettina Rainer, Der Diskurs der Überbevölkerung: Zur Metaphorik und Funktion einer in Aussicht gestellten globalen Katastrophe aus dem Jahr 2001 sehen. Auch wenn das Thema in der gegenwärtigen Diskussion nicht mehr ganz zeitgemäß erscheint, gibt die Arbeit doch einen aufschlussreichen Einblick in die postmoderne Strategie des Übersteigens von wissenschaftlichen Aussagen. Durch Anwendung der ›dekonstruktiven‹ Lesart auf demographische Arbeiten beraubt sie diese ihrer Begrifflichkeiten und quantitativen Darstellungsmittel. So werden etwa die graphischen Darstellungen quantitativ messbarer Größen wie der Bevölkerungsentwicklung konsequent als »Visiotype« (S. 11), also als ›Bildstereotype‹ angesehen, die für Rainer »eine Form der Zurichtung der Wirklichkeit« (S. 12) darstellen, womit sie deren analytische Aussagekraft pauschal bestreitet. Interpretationen von Wissenschaftlern wie Rainer Münz und Franz Nuscheler werden sehr selektiv zitiert und mit journalistischen und populärwissenschaftlichen Zuspitzungen zusammengewürfelt, um am Ende zu einem Ergebnis zu kommen, das offensichtlich von Anfang an feststand: Die ganze Debatte um die Bevölkerungsentwicklung, und zwar sowohl in ökonomischer wie ökologischer Hinsicht, sei letztlich nichts anderes als eine Herabwürdigung der Menschen zur »biologischen Manipulationsmasse« (S. 605). Indem das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen (insbesondere natürlich der einzelnen Frau) absolut gesetzt wird, erscheint jeder Versuch, die qualitativen Auswirkungen quantitativer Phänomene zu beschreiben, von vornherein als unmoralischer, wenn nicht gar verbrecherischer Akt. Empfehlungen für Entwicklungspolitiker oder wissenschaftliche Handreichungen für Stadtplaner werden damit implizit unter dem Stichwort ›Bevölkerungs-‹ oder auch ›Biopolitik‹ letztlich auf eine Ebene mit sozialdarwinistischen, faschistischen oder sonstigen totalitären Maßnahmenkatalogen gestellt. Zwar ist diese Arbeit gewiss nicht repräsentativ für das Gebiet der Genderstudies, aber die Autorin ist immerhin als wissenschaftliche (!) Mitarbeiterin des Bundestages tätig, was ihr, da auch die Verlagswerbung darauf baut, ein gewisses Gewicht verleiht.

Neben solchen politisch motivierten Abhandlungen gibt es natürlich für den mündigen Bürger, der statistische Arbeiten a priori weder als Teufelszeug noch als unumstößliche, das menschliche Geschick determinierende Tatsachen ansieht, auch eine Menge informativ aufbereiteter wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema ›Demographie‹. Zwei Beispiele seien hier genannt.

Die Studie Sozialraumanalyse. Soziale, ethnische und demographische Segregation in den nordrhein-westfälischen Städten untersucht die Bildung »sozialstrukturell, demographisch und ethnisch relativ homogener kleinräumiger Siedlungsbereiche« (S. 6) in sechs als Fallbeispiele ausgewählten nordrhein-westfälischen Städten, und zwar Bielefeld, Essen, Gelsenkirchen, Köln, Monheim am Rhein und Wuppertal. Zwar ist das Phänomen der Segregation der großstädtischen Bevölkerung bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt, aber neu an der gegenwärtigen Entwicklung sei »Segregation bei schrumpfender Bevölkerung« (ebd.). Beobachtet wurde vor allem eine Zunahme der »Armutssegregation«, d. h. eine Spaltung der Städte in wohlhabende und benachteiligte Viertel. Die Studie spricht hier von einer zunehmenden »Verfestigung der Situation« (S. 8). Zudem gebe es »deutliche Zusammenhänge zwischen ethnischer und sozialer Segregation« (ebd.). Auch die demographische Entwicklung zeige sich in soziostruktureller Hinsicht als »wachsende Entmischung der Bevölkerung«: »Die Kernstädte verlieren Familien und Kinder an ihr Umland bzw. an die innerstädtischen Randgebiete. Zudem lässt sich starke Überalterung insbesondere in peripheren Randlagen feststellen.« (Ebd.) Im Gegensatz zur ethnischen Segregation werde dies von den Stadtplanern aber als »unproblematisch für die Stadtentwicklung« (ebd.) empfunden. Die Untersuchungsergebnisse werden für die ausgewählten Städte im einzelnen sehr detailliert dargestellt. Neben den Phänomenen selbst wird auch deren Wahrnehmung durch die Kommunen behandelt. Die bisher durchgeführten Programme werden analysiert und beispielhaften Ansätzen aus den Niederlanden gegenübergestellt, wo das Phänomen der Segregation nicht so deutlich ausgeprägt ist, wie in anderen europäischen Ländern. Die Autoren ziehen das wenig erfreuliche Fazit, dass in den drei Städten der Fallstudie, deren Bevölkerung wächst oder stagniert, die Segregation »nicht als gesamtstädtisches, sondern als lokales, stadtteilbezogenes Problem wahrgenommen wird und deshalb kaum in gesamtstädtischen Strategien oder Konzepten Berücksichtigung findet.« (S. 150). Dort, wo es innovative Konzepte gebe, scheitere deren erfolgreiche Umsetzung an mangelnder Finanzierung. Vor allem aber halten sie fest: »Gesamtstädtische Strategien im Umgang mit Segregation kommen da zu Stande und entfalten auch Wirkungen, wenn darüber intensive kommunalpolitische Debatten geführt werden und sich für die Ergebnisse wie für die Umsetzung breite politische Mehrheiten finden.« (Ebd.)

Was sich in den Städten zeigt, sind letztlich die konkreten Auswirkungen globaler Phänomene. Um diese quantitativ und qualitativ besser verstehbar zu machen, haben Wolfgang Walla, Bernd Eggen und Heike Lipinski ein beeindruckendes Kompendium demographischer Analysen und Interpretationen vorgelegt. Der demographische Wandel. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft richtet sich prononciert gegen das allgemeine Katastrophengerede, ohne die Schwierigkeiten, die durch den Wandel in der Bevölkerungsstruktur bevorstehen, kleinzureden. Die Autoren, Mitarbeiter des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, räumen mit allerlei kursierenden Vorurteilen auf und kassieren illusionäre Lösungsvorschläge der Politik, wie etwa den, durch eine Zuwanderung von jährlich 200.000 möglichst hoch qualifizierten Menschen aus dem Ausland sowohl den Bevölkerungsschwund als auch den zu erwartenden Arbeitskräftemangel auzugleichen.

Der demographische Wandel, so wird gleich zu Beginn erläutert, sei kein spezifisch deutsches oder europäisches, sondern ein globales Phänomen, wenngleich in Deutschland besonders stark ausgeprägt. Dieser Besonderheit wird in detaillierten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, die auch Interviews mit einzelnen Betroffenen einschließen, nachgegangen. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis: »Etwa 25 Prozent eines Jahrgangs bleiben in Deutschland voraussichtlich kinderlos.« (S. 91) Dieser hohe Wert stehe in bemerkenswertem Gegensatz zum explizit geäußerten Kinderwunsch junger Menschen. Trotz einer Pluralisierung der Lebensformen sei die Familie aber nicht obsolet, wie immer mal wieder aus der journalistischen Ecke verlautet. Problematisch seien vielmehr die gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen. Familie werde heute weit stärker als früher als planbares Vorhaben angesehen, so dass Unsicherheiten in sehr viel größerem Ausmaß zur Aufgabe desselben führten. Die Menschen versagen sich eher die Realisierung ihres Kinderwunsches, als dem Nachwuchs schlechte Perspektiven und mangelnde Unterstützung zuzumuten. So lautet die paradoxe Einsicht, dass »die hohe Wertschätzung von Kindern eine der Ursachen [ist], auf diese zu verzichten« (S. 92).

Die Fülle der präsentierten Analysen und Erkenntnisse kann an dieser Stelle kaum ausführlich wiedergegeben werden. Neben der globalen Perspektive bietet das Buch zu jedem Kapitel auch einen eingehenden Blick auf die Situation in Baden-Württemberg. Die Darstellung ist durchweg klar und auch dem Laien verständlich. Wo Schwierigkeiten gesehen werden, die komplexe Materie zu durchdringen, geben kompakte Exkurse gute und differenzierte Erklärungen zu Methoden und Schlussfolgerungen. Neben den Analysen und Interpretationen werden auch Wege aufgezeigt, den demographischen Wandel zu meistern, bevor es zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt. So wird vor allem der herrschende Zeitgeist kritisiert, der pauschal die Leistungsfähigkeit älterer Menschen anzweifelt und diese vorzeitig aus dem Erwerbsleben aussortiert.

Zum Schluss soll noch ein Blick auf eine Arbeit geworfen werden, die zwar nicht den aktuellen demographischen Wandel behandelt, aber dennoch Licht sowohl auf das Phänomen selbst wie auch die wissenschaftliche und journalistische Behandlung desselben wirft. Der italienische Demograph Massimo Livi Bacci (der auch von Schirrmacher in seinem Buch beiläufig erwähnt wird, freilich ohne dass dessen Erkenntnisse angemessen reflektiert würden) hat im Jahre 2003 eine Untersuchung zum Aussterben der Ureinwohner der karibischen Insel Hispaniola als Folge ihrer Entdeckung durch Columbus vorgelegt. (Return to Hispaniola: Reassessing a Demographic Catastrophe) Darin widerlegt er die bislang vorherrschenden Erklärungsmuster, die als Ursache das gewaltsame Vorgehen der Conquistadoren oder von diesen eingeschleppte Seuchen annehmen. Beide Faktoren hätten zwar das Volk der Taino dezimiert, das völlige Verschwinden aber könne durch sie nicht hinreichend erklärt werden. Seine durch wohlbegründete Schätzungen und kritische Betrachtung der zeitgenössischen Daten gewonnene Erkenntnis ist ebenso einfach wie verblüffend: Der ganz normale Alltag der Conquista mit seiner auf maximale Ausbeutung ausgerichteten Sklavenwirtschaft, die die Taino ihrer Subsistenzgrundlage beraubt und ihre familiären und Stammesstrukturen aufgelöst hat, reicht als Begründung für das Aussterben des ganzen Volkes völlig aus.

Jörg Büsching