Bevölkerung. Über das
generative Verhalten der Deutschen
Wo Zukunft ist, wird
Vergangenheit sein.
1. Eine andere Welt
Wissenschaftliches über den bevorstehenden Bevölkerungsrückgang in
Deutschland erfuhr ich zum ersten Mal im Verlauf einer Tagung von
Geisteswissenschaftlern Anfang der achtziger Jahre. Der
Vortragende, ein Statistiker, erläuterte anhand der
Populationskurven von Hasen diverse Regulationsmechanismen der
Natur: steigt die Zahl der Hasen, so steigt entsprechend die Zahl
der natürlichen Feinde, die ihr Wachstum begrenzen, et vice versa.
Auch in Fällen, in denen die natürlichen Feinde ausfallen, geht das
Wachstum keineswegs ins Ungemessene, sondern regelt sich anhand
bekannter Faktoren wie Hunger und Sozialverhalten in bestimmten
Größenordungen ein. Das war damals, im Hinblick auf globale
Überpopulations- und Verwüstungsszenerien, eine spannende,
beinahe schon beruhigende Aussage. Zwischen 2020 und 2040, so der
Vortragende, werde sich die Bevölkerung der Bundesrepublik (die
damals noch nicht die ›alte‹ hieß und knapp über sechzig Millionen
Einwohner zählte) bei ca. vierzig Millionen einpegeln – in einer
Größenordnung also, bei der sich Fuchs und Hase, falls sie Wert
darauf legten, beruhigt
Gute Nacht sagen könnten –, in etwa
vergleichbar der Zahl der Menschen, die vor Krieg, Flucht,
Vertreibung und Einwanderung auf ihrem Territorium lebte. Diese
Entwicklung, so der Vortragende, sei nicht mehr aufzuhalten -
abnehmende Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter, realistische
Annahmen über Kinder und Kindeskinder etc. –, sie sei ein Faktum,
mit dem man sich abzufinden habe. Allerdings hätten Ökonomie,
Politik und Gesellschaft viel Zeit, sich darauf einzustellen,
insofern stünden die Chancen gut, dass es gelingen werde, die
kommenden Verwerfungen abzufedern. Andererseits solle man das
Problem nicht kleinreden: noch niemals habe ein hochkomplexes
System wie die Bundesrepublik unter vergleichbaren experimentellen
Bedingungen agiert. Die Diskussion verlief ruhig, man kann auch
sagen: sie fiel aus.
2. Der demographische Faktor
Nach den Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes von 2003
wird die deutsche Bevölkerung im Jahre 2050 zwischen 67 und 81
Millionen Menschen betragen. Die prognostische Unsicherheit von 14
Millionen Menschen verdankt sich unterschiedlichen Annahmen über
die Höhe der Zuwanderung und den Anstieg der Lebenserwartung. Als
mittlere Bevölkerungsprognose nennt das Amt 75 Millionen bei einem
jährlichen Wanderungssaldo von mindestens 200 000 und einer
mittleren Lebenserwartung im Jahre 2050 von 81 bzw. 87 Jahren. Das
sind sieben Millionen mehr als im Jahr 1950 (68 Millionen) und
sieben Millionen weniger als im Jahr 2003 (›über‹ 82 Millionen).
Die Differenz zwischen der Zahl der Neugeborenen und der
Sterbefälle (das sogenannte Geburtendefizit) betrug im Jahr 2000 72
000 und steigt bis 2050 auf 576 000 jährlich. Entsprechend erhöht
sich das mittlere Alter der Bevölkerung von 40,6 im Jahre 2001 auf
48 im Jahre 2050. 12 Prozent der Bevölkerung werden bei gleichen
Annahmen dann achtzig Jahre und älter sein (9,1 Millionen), die
Zahl der Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren geht gegenüber knapp
20 Millionen im Jahr 2001 auf etwas über 14 Millionen im Jahr 2050
zurück.
Es versteht sich von selbst, dass das Zahlenmaterial eine Vielzahl
von Varianten erlaubt, je nachdem, welche Entwicklungslinien
miteinander verbunden werden (hohe Einwanderung mit geringerem
Anstieg der Lebenserwartung, niedrigere Einwanderung mit höherem
oder niedrigerem Anstieg der Lebenserwartung usw.). Wenig Neigung
zeigt das Amt, die Annahmen über die Zahl der Geburten pro Frau
bzw. die sogenannte Fertilitätsrate, zu variieren. Sie verharrt
konstant bei 1,4, vorausgesetzt, dass sich die (noch) etwas
niedrigere Geburtenrate in den neuen Bundesländern und Berlin (Ost)
innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums den weiter westlich
anzutreffenden Verhältnissen angleichen wird. Das erstaunt ein
wenig, da gerade diese Zahl in der Vergangenheit erheblichen
Schwankungen unterlag. Es scheint, dass die Hüter des statistischen
Erbes den periodisch aufflammenden Debatten über eine
wünschenswerte Anhebung der Geburtenzahlen und entsprechende
staatliche Maßnahmen mit einem milden Kopfschütteln
gegenüberstehen. Dafür bieten sich zwei Erklärungen an: erstens,
die Auswirkungen möglicher Schwankungen in diesem Bereich werden
als statistisch marginal angesehen, zweitens, die Aussicht auf
signifikante Veränderungen gilt als extrem unwahrscheinlich. Für
die erste Annahme könnte sprechen, dass der etwa gegenüber 1970
bereits eingetretene Schwund an Frauen zwischen 15 und 49 Jahren
die Anknüpfung an frühere Regenerationsraten für die
Gesamtbevölkerung in den Bereich des Wunschdenkens verweist. Die
zweite Annahme führt in komplexere Überlegungen.
3. Der Gegenstand der
Untersuchung
Unter der Oberfläche einer bis zur Jahrhundertmitte keineswegs
spektakulär veränderten Bevölkerungszahl tritt damit jener
demographische Umschwung zutage, der in der Rentenversicherung
sowie bei den medizinischen und sozialen Leistungen bereits
Konsequenzen gezeitigt hat und weitere Einschnitte bringen
wird. Vertraut man dem kurrenten Datengewirr, so liegt das Beispiel
Deutschland mit seiner Entwicklung im Trend der westlichen
Industriegesellschaften, Japan eingeschlossen. Mit Italien, Spanien
und Japan zusammen fällt es innerhalb dieser Gruppe durch eine
besonders geringe Geburtenrate auf, teilweise unterboten durch
einige Staaten Osteuropas, in denen der Systemwechsel die
Problemlage verschärft. Neben den allgemein bestimmenden Faktoren
scheint in dieser Ländergruppe mindestens ein zusätzlicher ins
Spiel zu kommen – möglicherweise auch mehrere (und nicht unbedingt
überall dieselben). Wer nach Erklärungen sucht, sollte sich also
nicht mit der ersten besten zufriedengeben und auch nicht mit ihrer
Summe. Wie so oft kommt es darauf an, zu verstehen, auf welche
Weise die Einzelbefunde ineinander greifen und welche Wirkungen aus
ihrem Zusammenspiel resultieren. Darüber hinaus wäre es wohl naiv
anzunehmen, man könne das Problem auf die unmittelbar beteiligten
Faktoren eingrenzen, ohne weitergehende Interdependenzen zu
bedenken.
Sorgfältig sollte man die notwendige Suche nach Erklärungen von der
Suche nach den ›Schuldigen‹ trennen, mit der man in Gesellschaften
schnell bei der Hand ist, die sich von nicht oder nur unvollständig
verstandenen Entwicklungen mehr oder weniger diffus geängstigt
fühlen. Es hat nicht an vergangenen Versuchen gefehlt, dem
Zeugungswillen der Bevölkerung aufzuhelfen, ohne dass davon
besondere Wirkungen ausgegangen wären. Der naheliegende Schluss, es
müsse wohl andere als die gängigen Erklärungen geben, wurde viel zu
selten gezogen. Auch die Frage, ob die Entwicklung überhaupt eine
Bedrohung (oder mehrere) darstellt, wenn ja, welche und welchen
Ausmaßes – und für wen –, fällt bereits in den Gegenstandsbereich
notwendiger Analysen, deren Art und Umfang man erst langsam
abzuschätzen beginnt. Dies festzustellen hat jedoch wenig mit der
Diskussion um ›Chancen‹ und ›Risiken‹ zu tun, die diese wie jede
Entwicklung für die Einzelnen bereithalte. Chancen und Risiken
entstehen in turbulenten wie in ruhigen Zeiten, sie finden sich in
der Katastrophe ebenso wie in Zeiten des kollektiven Glücks. Wer
fassungslos auf Karrieren blickt, die unter Hitler und Stalin
getätigt wurden, sollte die Möglichkeit künftiger Karrieren und
›Mitnahmegewinne‹ nicht zum Maßstab der Beruhigung oder der
Zustimmung machen.
Die Sorge, die Sozialsysteme könnten kollabieren, wenn die Anzahl
der zu Versorgenden, insbesondere der älteren Mitmenschen,
gegenüber der Zahl der Versorger signifikant zunimmt, grundiert
neben dem politischen Themenwandel auch das Verhalten von Menschen,
die ihren Ort bisher stets auf der Sonnenseite eines Systems
gesehen haben, das für Menschen anderer Weltregionen
signifikant andere Lebensläufe bereithält. Manche öffentlichen
Bekundungen könnten den Eindruck erwecken, die letzte politische
und private Leidenschaft von Jahrgängen, die sich einmal als
›politisch‹ verstanden, bestehe im ungehinderten Altwerden. Dagegen
wäre nichts einzuwenden, solange es nicht den Blick auf andere
Fragen – und andere Sorgen - verstellt. Wären nur die
sozialen Sicherungssysteme von der Entwicklung betroffen, so ließen
sich die notwendigen Anpassungsleistungen mehr oder weniger bequem
durch Bündel staatlich-administrativer Maßnahmen erreichen und die
Bevölkerung könnte sich ohne größere Zukunftsängste weiterhin der
Pflege ihrer Lebensstile widmen. Das ist nicht der Fall, wie ein
Blick auf die Sorgenkataloge der Länder und Kommunen lehrt. Wenn
wesentliche Teile der Infrastruktur unbezahlbar werden oder ihren
Zweck nicht mehr erfüllen, verändert sich vieles und vielerlei -
eine lehrreiche, wenngleich noch immer beschränkte Optik.
Zukunftsängste sind irrational und können, wenn sie sich mit
enttäuschten Erwartungen hinsichtlich Lebensstandard und
Lebenssicherheit paaren, zu Verhaltensänderungen führen, die aus
einem zunächst leicht lösbar erscheinenden Problem unter der Hand –
und in der Regel zu spät bemerkt – ein
fast unlösbares
entstehen lassen oder eines, das erst durch die Zeit selbst gelöst
wird. Die Spannungen, die solchen Eruptionen und Verwerfungen
vorausgehen, lassen sich im Lebensgefühl der Leute ebenso
lokalisieren wie in ihren Einstellungen und ihrem Sozialverhalten.
Weniger leicht fällt es, sie im Katalog der öffentlichen Themen und
ihrer Behandlungsarten wiederzufinden, solange sie dort unter
falscher Flagge segeln und sich häufiger durch Negationen verraten
als durch offene Thematisierung. Auch die Kunst scheint kein
sicherer Indikator des Klimawandels in der Gesellschaft zu sein -
jedenfalls da nicht, wo das kommerzielle Selbstverständnis ihrer
Vertreter für weitere Überblendungen sorgt und eine lächerliche
Endzeit-Mythologie immerzu Scheuklappen nachliefert. Die
öffentliche Wahrnehmung schleichender, in ihrer Summe dramatischer
Veränderungen bevorzugt den ›Bruch‹, das plötzliche Umschwenken,
das entschiedene Vorher-Nachher, das die vorhergehenden Denk- und
Argumentationsmuster über Nacht entwertet. Darin liegt auch eine
Gefahr.
4. Das kulturelle Klima
Wo das Lebensgefühl des Einzelnen wie des Kollektivs schwer
greifbar bleibt, da verfügt die Literatur über Möglichkeiten, das
scheinbar Unaussprechliche, das darin besteht, dass es
noch
nichts bedeutet, in Redeformen zu fassen, die
unverantwortlich scheinen – und in der Vielzahl von Fällen wohl
auch wirklich sind –, aber durch Drastik, Witz, Hohn und
Verunglimpfung hindurch Sachverhalte zur Sprache bringen, die zu
komplex oder zu einfach oder auch beides sind, um im geregelten
Gedankenaustausch behandelt zu werden. Eher ›sieht‹ man sich ›vor
Gericht wieder‹ – ein Mittel, das im öffentlichen Raum bekanntlich
nicht so selten in Anspruch genommen wird, wie empfindsame liberale
Gemüter es sich wünschen würden. Ein Wort wie ›Diskriminierung‹,
das eine Vielzahl möglicher Sachverhalte deckt, kann zur Definition
eines Straftatbestandes deshalb herangezogen werden, weil es das
Interesse des Staates am ruhigen Mit- und Nebeneinander der
Bevölkerungsgruppen und -teile unmittelbar zum Ausdruck bringt:
Unruhestifter ist, wer dort unterscheidet, wo aus übergeordneten
Gründen nicht unterschieden werden soll. Über eine halbwegs
gesicherte Heimstatt verfügt die Sprache der Verletzung und
Verunglimpfung einzig an den Polen öffentlicher Kommunikation, im
abgeschirmten Raum des vom Bevölkerungsgros ignorierten Theaters
und im mediengestützten Gebrüll der Arenen – urbanen Institutionen,
in denen es auch im Zeichen des Kommerzes gelingt, »politische
Räume frei zu halten und zu fördern« (Giorgio Agamben). Legt sich
der Mehltau einer undurchdringlichen Korrektheit auf die
öffentlichen Debatten, in denen die Zukunft der Menschen und
Kollektive weitgehend aufs individuelle Ein- und Auskommen
zusammenschnurrt, so ergötzt sich am oberen und am unteren Ende der
kulturellen Skala ein ausgewähltes Publikum an unverhofften
Durchblicken. In dieser Welt geben kinderlose Zicken, faselnde
Greise, pöbelnde Jugendliche, ›Ego Shooter‹-Geschädigte und
ausgetrickste oder identitätsstarke Zugewanderte, an deren Aura
keine dreifache Einbürgerung etwas ändert, einen befremdlichen Ton
vor, der als Ton einer Wirklichkeit verstanden wird, die halb da
und halb im Kommen ist. Lächerlichste aller Figuren: der Reformer,
der verachtete ›Gutmensch‹, der vom Bürger im Menschen
schwadroniert und seine Abzockereien mit dem Projekt Moderne
rechtfertigt. Zu seinen Visionen will man so wenig zurück wie zum
rheinischen Kapitalismus: es wäre ›zu einfach‹. Es wäre das
zweifach Durchgestrichene, die doppelte Negation.
Ein Klima: nicht mehr, nicht weniger. In ihm erscheint die
›Bevölkerungsfrage‹ wie eine Fata Morgana oder ein Feuerwerk am
nächtlichen Himmel, dem sich die kulturell erregbaren
Bevölkerungsteile, das Sektglas in der Hand, mit einem ›Ah‹
zuwenden, um es gleich wieder zu vergessen, während Wissenschaft
auf Projektstellen setzt und die Stillen im Lande ihre Barschaft
zählen oder auf Ausreise sinnen. Man ›hat‹ jetzt die
Bevölkerungsfrage, das ist bekannt, es gibt Kassandren, es gibt
Leugner, auch das ist bekannt, man hatte solche ›Fragen‹ schon
früher, sie wird sich entweder von allein beantworten oder gar
nicht.
Es wird schon nicht so schwer sein, das Karussell der
Geburten wieder in Gang zu bringen, ohne die Errungenschaften der
letzten Jahrzehnte aufs Spiel zu setzen, widmen wir uns den
Errungenschaften! Es gibt aber keine Errungenschaften, die
nicht angesichts ihres historischen Telos zu Makulatur würden. Es
gibt nur den langsamen, leidenschaftslosen, Umstände machenden und
keine Umwege scheuenden Weg der Analyse dessen, was geschehen ist,
um mit ihrer Hilfe die mehr oder weniger vage, mehr oder weniger
fassbare Dimension zu bestimmen, in der sich das, was in naher
Zukunft in diesem und anderen Ländern auf der Tagesordnung steht,
bewegen oder, wie manche in gewollter Einfalt sagen, ›abspielen‹
wird. Absurd wäre es, wenn der für die Akteure so unerwartete
Einsturz des sowjetischen Systems und seine Folgen für das
überlebende Weltsystem einem Fatalismus die Türen geöffnet hätten,
der Kontinuität für eine Frage ökonomischen Wachstums hält und
Identität für eine der Blumen des Bösen. Dass Kontinuität und
Identität zusammengehören und in einer fundierten Theorie der Welt,
in der wir leben (werden), angemessen artikuliert werden sollten,
wäre selbst dann wahr, wenn es sich nur um einen soziologischen
Gemeinplatz handelte. Die geläufige Rede vom kulturellen
Gedächtnis, eine der wenigen neueren Erfindungen der
Geisteswissenschaften, die von der Politik dankbar aufgegriffen
wurde, um die öffentlichen Plätze und Terminkalender zu möblieren,
bezieht sich aber auf mehr: die ästhetische, ethische und soziale
Adressierbarkeit eines Menschen ist darin ebenso mitgedacht wie
sein Herkommen und spezifischer Lebensernst, seine in kollektiven
Wahrnehmungs-, Denk- und Glaubensformen präfabrizierte ›Weise zu
sein‹. Auf mehr bezieht sich auch die lebendige Sorge um das
›Gemeinwesen‹, die das mündige und politikbereite Individuum
jenseits der hedonistischen Ausprägung des Unglaubens an das
Bestehende voraussetzt. Auf mehr bezieht sich schließlich ein
Theorietypus, dem es weniger um die Applikation von System- und
Alteritätsbegriffen als um die Erforschung dessen geht, was unter
Bezeichnungen wie ›Veränderung‹, ›Wandel‹, ›Alteration‹ in
unterschiedlichen Theoriemilieus unterschiedlich gefasst und noch
unterschiedlicher interpretiert wird, obwohl es zweifellos im
›Bewusstsein‹ der Menschen zusammenkommt und die spezifischen
Parameter bereitstellt, unter denen sie
ihre Wirklichkeit
und Wirklichkeit
im allgemeinen thematisieren.
5. Publizistisches Intermezzo
Dass überhaupt sich ein Missbehagen breitmachen konnte, das nicht
ohne Rückstände vom Tagesgeschäft absorbiert wird, hat sicher auch
mit den ›neuen Realitäten‹ zu tun, die in der öffentlichen
Wahrnehmung seit den Ereignissen des 11. September 2001 einen so
breiten Raum beanspruchen. Nicht ausgeschlossen werden darf, dass
der vorhergesagte und ehedem eher belächelte ›clash of
civilizations‹ durch den Gang der Dinge in die Position einer
unwiderstehlichen Interpretation gerückt ist, der man an seriösen
Orten eifrig widerspricht, während sie
in praxi die eher
reflexartig vorgenommenen Einschätzungen von Personen regiert, die
gelernt haben, das eine zu sagen und das andere zu denken. Das wäre
zwar nicht der Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung,
wohl aber einer gespaltenen, von Hoffnungen und Sorgen auseinander
dividierten Wirklichkeitsbeschreibung, in der das Gefühl der
Befremdung, der Fremdheit dessen, ›was wirklich vorgeht‹, die
vertrauten Parameter überwiegt. Eine ähnliche Wirkung könnte von
den letzten Büchern der Journalistin Oriana Fallaci ausgehen, der
ein italienisches Gericht, das ahnungslos zu nennen vermutlich den
Kern der Sache verfehlt, Gelegenheit gegeben hat, sich als
»Ketzerin« im Spektrum der öffentlichen Meinung Europas ein
Millionenpublikum zu ertrotzen. Fallacis tremolierende Warnung vor
der schleichenden »Landnahme« durch islamisch geprägte
Bevölkerungsteile macht es europäischen Kritikern durch eine
enthemmte Sprache und hanebüchene historische Konstruktionen
leicht, den Daumen zu senken. Anzunehmen, dass deshalb ungehört
verhallt, was eine nicht durch rechte Gesinnungen auffällig
gewordene ehemalige Identifikationsfigur der Frauenbewegung
hier herausschreit, zeugt von beträchtlicher Ignoranz oder aktiver
Bewusstseinsverdopplung.
Das Schreien der Fallaci, selbst ambivalent, durchbricht die
Ambivalenzen der Kultur, es erzeugt das weghörende Zuhören von
Leuten, die in Zukunft darauf bestehen werden, ›nichts gewusst zu
haben‹. Nicht der Westen hat – so der Kern ihrer Rede –, in puncto
Nachkommen ein Problem, sondern die Masse der Einwanderer, deren
Fortpflanzungsrate sich von der westlichen signifikant
unterscheidet. Seltsamerweise liegt sie gerade damit im Hauptstrom
öffentlich geführter Debatten, in denen seit langem die mangelnde
Integration von Einwanderern, besonders aus dem Nahen Osten,
beklagt wird – eine Redefigur, die damit schließt, dass ›ab jetzt‹
mehr für die Integration getan werden müsse, falls man die Probleme
noch ›in den Griff‹ bekommen wolle. An dieser Stelle wirft Fallaci
das Gewicht der welterfahrenen Journalistin in die Wagschale, die
›weiß, wovon sie redet‹, wenn sie die europäische Intellektuellen-
und Politikerkaste der Arroganz und der Dummheit bezichtigt: der
Arroganz, weil sie jeden Personenkreis, der sich innerhalb ihres
medial und institutionell abgesicherten Wirkungsraums befindet, nur
als kolonisierte oder noch zu kolonisierende, als ›aufgeklärte‹
oder ›gesichtslose‹ oder ›verführte‹ Masse zu konzipieren bereit
ist, der Dummheit, weil sie der Integrationskraft des eigenen
Systems allen Ernstes zutraut, auf Dauer jede Art von kultureller
Differenz und sogar Feindschaft, wenngleich unter gelegentlichen
Verdauungsschmerzen, zu inkorporieren. Fallaci rührt damit an die
Glaubensgrundlagen eines Liberalismus ohne Feinde, der Kämpfe und
Kämpfer erst dann ernstzunehmen bereit ist, wenn sie sich auf dem
Boden des eigenen Systems gegenüberstehen. Den USA käme in diesem
System die Rolle des
watch dogs zu, der die nicht
Integrationswilligen an den Grenzen des westlichen Universums
verbellt und den man gelegentlich zu schelten hat, wenn man in
seinem Maul die Reste einer Briefträgerhose findet.
6. Blick in die Zukunft
Einen Staat von der durchkalkulierten Größe und Agilität, die heute
in der EU die Regel sind, auszudenken, in dem fast die Hälfte der
Bevölkerung im Altenheim sitzt oder in Kliniken verdämmert, während
der Rest zur Hälfte aus sogenannten ›Bürgern‹ und zur anderen
Hälfte aus ›Ausländern‹ besteht, Menschen mit minderen
Partizipationsrechten, unter der Kuratel von Wohlverhaltens- und
Abschiebegesetzen lebend, weniger ausgebildet, weniger wohlhabend,
von Arbeitslosigkeit bedrängt, geschlagen mit der dreifachen Geißel
vormundschaftlicher Sprecherverbände, mafiöser Strukturen und
gewaltbereiter Jugendbanden, galt bisher als Zweig der
Phantastischen Literatur. Heute, da die Konturen eines solchen
Staates sich hinter den Fassaden existierender Städte, rapide ihre
Struktur wandelnder Landstriche und bereits getroffener
administrativer Vorsorge abzuzeichnen beginnen, begnügt sich eine
›existent‹ zu nennende Bildungsschicht, dergleichen Zukunftsbildern
mit einem kumpelhaften »Was soll's?« zu begegnen. Gewiss, das ist
auch der mühsam erworbenen Resistenz gegenüber Prognosen
geschuldet, die dem jeweils nächsten Weltuntergang eine Frist von
fünfzig Jahren setzen – lang genug, um den heutigen Geldgebern für
die nächsten Forschungsprojekte einen ruhigen Lebensabend zu
garantieren und die Jungen ›zu verunsichern‹. Es setzt ferner als
Faustregel voraus, dass immer etwas geschieht, das auch künftigen
Erforschern von Weltuntergängen eine Chance gibt, ihre Projekte zu
verwirklichen. Und wenn nicht – die Welt wird schon nicht
untergehen, wenn, wie es spöttisch heißt, ›die Deutschen
aussterben‹. Gut illustriert das Wort von der ›Abwärtsspirale‹ die
kollektive Trotzhaltung: es verleiht dem Trend eine spezifische
Note und eine quasi-experimentell abgesicherte kulturelle, wenn
nicht biologische Zwangsläufigkeit. Die Weichen sind gestellt, die
Züge rollen, wehe dem Stellwärter, der hier und da ein Signal
missversteht.
Ein solcher Staat hat, folgt man den Eingebungen der politischen
Phantasie, mit dem liberalen Staat heutiger Prägung nichts gemein.
Sofern man aus kosmetischen Gründen die demokratischen
Institutionen beibehielt, hat sich ihre politische Bedeutung
vollständig gewandelt. Wahlen dienen dazu, einen beträchtlichen
Teil der Bevölkerung ›unter Kuratel‹ zu halten, das heißt, dafür zu
sorgen, dass er unter Gesetzen und Lebensbedingungen existiert, die
nicht seinem Herkommen und kulturellen Selbstverständnis
entsprechen, er also weiterhin ›in der Fremde‹ lebt, der ›Diaspora‹
oder wie die Bezeichnungen noch lauten werden. Sobald die
Mobilisierung der Alten an ihr natürliches Ende gelangt, ist auch
dieses Herrschaftssystem obsolet und die Zeit reif für ein
verschärftes Sicherheitsregiment, auf das sich die Repräsentanten
des Staates und seiner in die Minderheit geratenen ›Bürger‹ mit
Vertretern der ›anderen Seite‹ verständigen müssten. Hobbes hätte
das verstanden. Gut verstehen dürften es auch die zur ›anderen
Seite‹ zählenden exilierten Bürger von Staaten, die bereits heute
so funktionieren, wenn man davon absieht, dass dort nicht Bürger
und Ausländer, sondern Mehrheits- und Minderheits-›Ethnien‹ in
jenem zähen, niemals endenden Kampf um die Macht stehen, der die
Staaten brutalisiert und ihre Effizienz gering hält. Die Anmutung
hat wenig zu tun mit Rassendiskriminierung alter Schule, mit
Apartheid und ethnischer Säuberung, der versteckten oder offenen
Schande des Nationalstaats. In einem solchen Staat sind alle
Gründungsversprechen gebrochen, auf denen die Legitimität der
heutigen Staaten beruht:
- das Freiheitsversprechen. Frei wird in einem solchen Staat sein,
wer sich mit den geltenden Bestimmungen im voraus abgefunden hat
und seinen Lebensentwurf darauf beschränkt, ›das Beste‹ daraus zu
machen. Das verfehlt nicht nur den politischen Freiheitsbegriff, es
widerspricht ihm
in praxi et verbo;
- das Versprechen der Chancengleichheit. Gewiss steht es auch unter
einem verschärften Sicherheitsregiment jedem frei, auf die
privilegierte Seite zu wechseln, sei es mittels Einbürgerungsantrag
- das Entréebillet, mit Heines bewährtem Ausdruck –, sei es durch
andere Akte der ›Subjugation‹. Wenn aber die Mehrheit der
Zugewanderten diese Möglichkeit ausschlägt, dann besitzt das
Argument keinen höheren Wert als die Versicherung, jeder habe,
vorausgesetzt, er stellt sich rechtzeitig und entschieden genug auf
das Ziel ein, das Zeug zum Hochleistungssportler. Man muss ein Ziel
erst haben, um es anzustreben. Chancengleichheit aber ist dann
gegeben,
wenn alle relevanten Bevölkerungsgruppen faktisch
integriert sind und nicht bereits,
weil sie als Objekte
›verstärkter Anstrengungen‹ gelten, schon gar nicht dann, wenn
diese Anstrengungen erkennbar Illusionen schaffen und auf
Illusionen beruhen;
- das Versprechen der Nicht-Diskriminierung. Kein
Anti-Diskriminierungsgesetz kann den Umstand aus der Welt schaffen,
dass der moderne Staat Diskriminierungen schafft. Das beginnt
bereits mit der für ihn konstitutiven Unterscheidung von
Staatsangehörigen und Nicht-Staatsangehörigen, von ›Bürgern‹ und
›Ausländern‹. Sie wertneutral zu gestalten hieße, den Staat
aufzugeben. Ein Staat kann
sensu strictu nur seinen
Bürgern ›Bürgerrechte‹ gewähren, will er nicht die nützliche, mit
Blut erkaufte Fiktion beenden, dass er ihr Werk und deshalb nur
solange legitim ist, wie er die von ihnen gewollte Lebensform
organisiert und repräsentiert.
Partizipationsrechte, die aufgrund supranationaler Verpflichtungen
oder zwischenstaatlich vereinbarter Abkommen oder aus bloßen
Zweckmäßigkeitserwägungen ›gewährt‹ werden, sind Mittel, die
Härte dieser Unterscheidung zu mildern und Ungerechtigkeiten des
Alltags zu bekämpfen – aus der Welt schaffen sie sie nicht. Auch
der Begriff des ›Sicherheitsrisikos‹ erzeugt Diskriminierung. Das
Sicherheitsversprechen des Staates, das sich nicht nur auf seine
Bürger erstreckt, sondern auf jeden, der sich auf seinem
Territorium bzw. im Geltungsbereich seiner Gesetze bewegt, zwingt
ihn, Zonen verminderter Sicherheit, ›Risikogruppen‹ etc.
auszuweisen, hinter denen sich stets, rhetorisch vernebelt,
problematische Bevölkerungsteile ›verbergen‹: genau dieser Umstand,
die Tatsache,
dass der Staat, während die mit den
Ermittlungen betrauten Organe ihrer Arbeit nachgehen, seine
Bevölkerungsteile vor sich verbirgt, erlaubt es, ›die
Gesellschaft‹ unter den Dauerverdacht zu stellen, sie diskriminiere
- gezielt oder nicht – ›ihre‹ Mitmenschen. Was ›der Gesetzgeber‹
will und was er
bewirkt, fällt vielleicht nirgendwo
so offenkundig auseinander wie auf diesem Gebiet. Es wirkt
lächerlich und bedrohlich, wenn sich der Staat auf dem
Verordnungswege dadurch ein ›sauberes‹ Ansehen zulegt, dass er
seine Untertanen anschwärzt und bei ihnen unter Strafe stellt, was
Teil seiner eigenen ›Raison‹ ist. In einer Gesellschaft, in der,
gleichgültig, unter welchem Gesichtspunkt man sie ansieht, jeweils
die Hälfte der Glieder diskriminiert ist
und selbst
diskriminiert, mutiert der Diskriminiertenstatus zu einem
begehrten, das Fortkommen, vielleicht sogar das Überleben
sichernden Gut – mit allen entsprechenden Folgen für das
Zusammenleben der Menschen;
- das Prosperitätsversprechen. Glanz und Elend der westlichen
Gesellschaften spiegeln sich in diesem Versprechen wie in einem
Brennglas: die ›Abstimmung mit den Füßen‹, die ihnen schmeichelte,
solange sie von Ost nach West verlief, und heute, da sie schwerer
assimilierbare Glaubensbekenntnisse und Lebensarten nach Europa
trägt, als ›problematisch‹ betrachtet wird, obwohl gerade sie die
demographischen Zukunftslinien weniger anstößig erscheinen lässt,
folgt ihm ohne Rücksicht auf die in der Einwanderungsgesellschaft
vorgefundene ungleiche Verteilung der Chancen. Das geschieht aber,
was gern übersehen wird, nicht unbedingt. Solange das
Herkunftsgefälle das aktuelle Elend ›irgendwie‹ attraktiv
erscheinen lässt, bietet die Rückkehr- oder Generationenperspektive
das nötige Regulativ; das Schema lautet ›Erwartungserfüllung durch
Erwartungsenttäuschung‹. Das geht, solange es geht: sobald sich
herumgesprochen hat, dass der erreichbare Status niemals ›stimmen‹
wird, ändert sich das Bild. Dann verkehrt sich sogar der – relative
- ökonomische Erfolg in Misserfolg, der, wie immer, kompensiert
werden muss, und die Neu- und Überbetonung kultureller Muster wird
zum Identitätsspender. Sinkt die Prosperität im Ganzen, zerfällt
die Gesellschaft.
7. Was tun?
Wer die Kälte nicht mag, die von einem solchen Szenario
ausgeht, verfügt über mehrere Möglichkeiten: er kann sich
indigniert von ihm abwenden, er kann über politisch-administrative
Regularien nachdenken und er kann sich in die Mysterien der
Reproduktion und Migration vertiefen, die ihn aus den Statistiken
anblicken. Veraltete Bevölkerungsprognosen haben auch etwas
Erheiterndes. Angesichts der in ihnen kondensierten kollektiven
Zukunftsängste genießt man den Status des Entronnenen oder dessen,
der zuverlässig weiß, dass alles doch ganz anders gekommen ist. An
dieser Zuverlässigkeit Zweifel zu streuen, kann angebracht
sein, wenn die Fakten mehrdeutig bleiben. Den Siegeszug der
Pille begleitete der Albtraum der globalen Bevölkerungsexplosion,
die binnen kurzem die Vorräte dieser Erde weggezehrt haben und
unvorstellbare Hunger-, Elends- und Gewaltexzesse mit sich bringen
würde. Angesichts der ungewohnten sexuellen Freiheit beruhigte er
das religiös imprägnierte Gewissen, das den Eingriff in die
Schöpfung als frevelhaft empfand. Er legte die Verantwortung für
die Schöpfung, für ›unseren blauen Planeten‹ in die Hand jedes
Einzelnen und eröffnete damit dem ›verantwortlich denkenden
Menschen‹ einen neuen Spielraum. So real der Anstieg der
Weltbevölkerung, so irreal war die Vorstellung, durch die eigene
Zeugungsmoral den Prozess zu stoppen oder umzukehren – ein Fall
jener ›Hypermoral‹, von der damals konservative Haudegen
schrieben.
Angesichts der trivialen Erkenntnis, dass Weltprobleme sich nach
Regionen differenzieren und einen nicht daran hindern
sollten, die eigenen Verhältnisse zu bedenken, meldet sich
das häusliche Gewissen in Formen zu Wort, denen sich eine gewisse
Komik nicht absprechen lässt. Während viele nach wie vor die Alten
von morgen als neue Ressource betrachten, die man nur angemessen
erschließen müsse, um wie gewohnt für Wachstum und Wohlstand zu
sorgen, und Finanzminister die erhofften Einsparungen im
Bildungssektor verplanen, erinnern sich andere Publikumslieblinge
an menschliche Ursituationen und setzen auf Überlebenskonzepte, in
denen der Zusammenbruch der heutigen Gesellschaft bereits als
›unaufhaltsam‹ vorweggenommen wird. Andererseits ist sich die
Bevölkerungswissenschaft ihrer Instrumente wie der Verlässlichkeit
ihrer Aussagen ziemlich sicher. Auf die komische Seite gehört
vielleicht auch das aktuelle UN-Szenario, nach dem jährlich 3,4
Millionen Menschen nach Deutschland einwandern müssten, um die
heutige
support rate, das Verhältnis von arbeitender und zu
versorgender Bevölkerung, zu erhalten – das ergäbe im Jahr 2050
eine Bevölkerung von 299 Millionen bei einem Migrantenanteil von 80
Prozent. Zahlenspiele wie dieses sollen die Tatsache erläutern
helfen, dass, Zuwanderung hin oder her, die Veränderung der
Altersrelation durch den Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung in
den ›entwickelten‹ Gesellschaften ›gegeben‹ sei. Doch es existieren
keine Tatsachen in der Zukunft. Auch die Entscheidungen, die sie
herbeiführen werden, sind noch unbekannt und bestenfalls in
Umrissen erahnbar. Gut möglich also, dass sich im Jahr 2050 besagte
Millionen im Lande aufhalten werden, ebenso gut möglich, dass die
Altenheim-Vision der berühmten Variante eins des Statistischen
Bundesamts (67 Mio, davon 25 Mio über Sechzigjährige) ›eins zu
eins‹
umgesetzt wird – möglich, wenngleich wenig
wahrscheinlich. Selbst im letzteren Fall wird vorausgesetzt, dass
das Land als Einwanderungsland attraktiv bleibt – was vermutet
werden, aber ebensowenig den Status eines gesicherten Wissens
beanspruchen darf. Es sollte nicht schwerfallen, Gründe für eine
Massenflucht aus dem Altenheim zu ersinnen. Eine Klientel, die dem
Gedanken an Einbürgerung skeptisch bis gleichgültig gegenübersteht,
kann auch weiterziehen, wenn die Bilanz der Einwanderungs- oder
Bleibegründe negativ ausfällt, und sie kann sich darin ohne
weiteres mit einer anderen treffen, für die auch dieses
›Herkunftsland‹ schon jetzt einen Hautgout besitzt, wie ihn
Herkunftsländer nun einmal haben. Das alles ist denkbar, es
existiert als Trend mit- und nebeneinander im Zeichen des
Liberalismus, der sein planetarisches Prosperitätsversprechen weder
dosieren noch zurücknehmen kann, weil er nicht als Akteur in
Erscheinung tritt, sondern
als dieses Versprechen.
8. Die ›stillschweigende Option‹
Befremdlich wirkt die Ergebenheit, mit der die öffentliche Debatte
das Jahr 2050 (in dem die Prognosen aus gutem Grund enden) als
Zielmarke einer homogenen Entwicklung hinnimmt – den Zeitpunkt, zu
dem die Reste der sogenannten ›geburtenstarken Jahrgänge‹ ihr
biblisches Lebensalter erreicht bzw. weitgehend gelebt haben werden
(9,1 bzw. 9,9 Mio Achtzigjährige und älter). Das Dreieck aus
›Überalterung‹, ›Übervölkerung‹ und ›Überfremdung‹, in dem die
Politik sich langfristig zu orientieren beginnt, tritt so
vielleicht überproportional in Erscheinung. Spätere Zielmarken
ließen womöglich andere Größen in den Vordergrund treten. Wenn
heute über Zuwanderungszahlen, Rentenquoten und
Sozialstaatsversprechen, über den schleichenden Kollaps des
Schulsystems und die mangelnde Integrationsbereitschaft von
Ausländern geredet wird, dann steht die Frage auf der Tagesordnung,
welche Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung für die
Aufrechterhaltung des Prosperitätsversprechens als ›optimal‹ gelten
darf. ›Unrealistisch‹ ist eine Bevölkerungszunahme auf 299
Millionen (oder ein krasser Rückgang) allein deshalb, weil ›das
niemand will‹, weil es ›keine Option darstellt‹, weil ›die
Folgekosten zu hoch wären‹, weil ›das nicht mehr das Land wäre, von
dem wir reden‹. Vor allem das letzte Argument verdient
Aufmerksamkeit: es bringt den Faktor Identität respektive
›Selbsterhaltung‹ ins Spiel und nährt den Verdacht, dass die
Entscheidung tatsächlich immer schon gefallen ist. Optimal wäre
demnach, wenn sich am Bevölkerungsstand nicht allzu viel änderte.
Die Option für eine bestimmte Bevölkerungscharakteristik drückt den
Grad des Einverständnisses aus, den eine Gesellschaft sich selbst
gegenüber bekundet. Sie spiegelt aber auch Faktoren wie ›Volksnähe‹
oder ›-ferne‹, ›Reißbrettmentalität‹ oder ›Scheu‹ vor dem
Bestehenden wider.
Wenn, wie im gegenwärtigen Fall, die Zusammensetzung und damit der
Charakter der Gesellschaft so beschaffen sind, dass sie auf keine
Weise konserviert werden können, liegt die Frage nahe, welche
stillschweigende Option der vergangenen Jahrzehnte diesen Zustand
hat eintreten lassen. Naiv wäre es, zu glauben, die Besorgnis
angesichts der in anderen Erdteilen sich vollziehenden
Bevölkerungsexplosion käme als ernsthafter Kandidat dafür in
Betracht. Schwer fällt sicher auch die Annahme, ›man‹ habe sich
einfach nichts dabei gedacht. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch
der erstaunliche Widerstand, dem die Bevölkerungsdiskussion noch
immer in bestimmten Alters- und Gesinnungsgruppen begegnet, besagt
anderes. Wahr ist, dass der in den Institutionen der Öffentlichkeit
sich vollziehende Generationswechsel das Thema in den letzten
Jahren (teil-)enttabuisiert hat. Das Scheinargument, die Debatte
komme dreißig Jahre zu spät, demonstriert, dass auch diejenigen,
die sie noch immer nicht wollen, sich dieser impliziten Dimension
der eigenen Themen völlig bewusst sind. Nachvollziehbar ist ihre
Haltung schon: die gegenwärtige Bevölkerungscharakteristik lässt
sich als das Ergebnis von über Jahrzehnte stabil gebliebenen
Einstellungen, Lebensweisen und einmal getroffenen Entscheidungen
verstehen, die heute erneut ›auf den Prüfstand‹ geraten.
Diskussionsabwehr hat, wie andernorts, die Aufgabe, eigene, oft
lange zurückliegende Lebensentscheidungen vor Kritik zu schützen
und zu verhindern, dass die öffentliche Meinung ›in diesen Dingen‹
kippt.
Das ist menschlich verständlich, doch rührt es nur insofern an den
Kern der Sache, als es die ›stillschweigende Option‹
herauszuarbeiten hilft, die sich
nicht im geäußerten
Meinungsspektrum findet, aber zu ihm hinzugedacht werden muss, will
man nicht der paradoxen Auffassung nachgeben, eine auf
Selbstbeobachtung und Kritik gestellte Gesellschaft habe ›nichts
gesehen‹ – ein Argument, dessen zweideutig-eindeutige Bewandtnis
einst aus älterem Anlass ins allgemeine Bewusstsein gehoben wurde.
Es sticht vor allem deshalb nicht, weil auf den öffentlichen
Problemfeldern das Bevölkerungsthema immer anwesend war -
gleichgültig, ob es sich um medizinische und psychotherapeutische
Hilfen für ungewollt kinderlose Paare, um die in den ›reichen
Ländern‹ zu beobachtende Adoptionspraxis, um staatliche
›Wurfprämien‹, um Familien- und Ausbildungshilfen, um den
öffentlichen Pranger für kinderlose Doppelverdiener und Singles, um
die schauerlichen Rituale der Asylanten- und Ausländerdiskussion,
das siegreich scheiternde Multikulti-Modell, das
Abtreibungsparadigma oder das ›humane‹, nicht bloß der Statistik
zuliebe hinausgeschobene Sterben der Alten handelt. All diese
Themen und politischen bzw. privaten Entscheidungsfelder waren und
sind selbstverständliche Bestandteile öffentlicher Debatten und
Stoff für kollektive Erregungen. In ihnen ist die ›stillschweigende
Option‹
fast zum Greifen vorhanden, sie wird aber auch von
ihnen verdeckt.
9. Vom Anderssein
Den genannten Debatten ist es gemeinsam, dass man auf sie so oder
ähnlich, mit mehr oder weniger identischen Resultaten, zur gleichen
Zeit in allen westlichen Ländern trifft. Man kann auch sagen: es
ist das Besondere an der deutschen Situation, dass sie in ihnen
keinen Ausdruck findet. Die Unruhe, die dieser neue
Sonderweg verursacht, verfängt am ehesten bei Autoren
jenseits der Landesgrenzen, denen die hier drohende neue
Instabilität in Europa nicht gleichgültig bleibt. Der Wille zur
Normalität ist eine der großen Konstanten der westdeutschen
Politik, und in der ›Politik des Volkes‹ 1989 hat sich gezeigt,
dass er sich weder auf Westdeutschland noch auf die Schicht seiner
Entscheidungsträger beschränken lässt. Seltsamerweise verschiebt
der Wunsch, in einem ›ganz normalen Staat‹ zu leben und einer ›ganz
normalen Gesellschaft‹ anzugehören, das Wunschziel in einen
Bereich, in dem es schlechthin unerreichbar bleibt: gleichgültig,
wie ›normal‹ die Kennziffern einer Gesellschaft ausfallen und wie
›normal‹ ihre Fußgängerzonen wirken mögen: der Kern des Problems,
die Metamorphose des Wunsches, so zu sein ›wie die anderen‹, hält
die Differenz aufrecht und fügt ihr immerfort neue Varianten
hinzu.
Man kann die jahrzehntelange öffentliche Weigerung, die reale
Differenz der eigenen Geburtenrate im Vergleich mit den
Gesellschaften, an denen man sich hierzulande bevorzugt misst,
unter anderen als sportlichen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu
nehmen, als eine dieser Varianten betrachten. Das
Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen ist ja kein einfaches Nichtwahrnehmen,
sondern die aktive Verschiebung des Wahrgenommenen in den Bereich
des Mitanwesenden, der ›Schatten‹, von denen so gern die Rede ist
und von denen man hofft, dass sie irgendwann, auf welche wundersame
Weise auch immer, vergehen mögen. Die ungewöhnliche
Fertilitätskurve des Landes gehört in den Jahrzehnten forcierten
Normalitätsdenkens zu den ›Pudenda‹, den Dingen, über welche die
öffentliche Rede schamhaft hinweggleitet, um von anderem zu
handeln. Das schlägt auf die Wahrnehmung des Phänomens zurück.
Während sich andere Spezifika der Gesellschaft von der
Verbrechensrate bis zum Anteil rechtsradikaler Gesinnungen am
Meinungsspektrum durch den Einsatz ›normaler‹ administrativer
Mittel korrigieren lassen, scheitert die unauffällige Korrektur
durch staatliche Hilfen regelmäßig an dieser Stelle. Der Verzicht
darauf, sich unter den gegebenen Bedingungen eines prosperierenden,
mit hohen Zustimmungsraten versehenen,
normalen Gemeinwesens
angemessen zu reproduzieren, gerät unter den betretenen Blicken der
Auguren zum unmanipulierten Ausdruck des Andersseins, von dem man
sich in einem historischen, über Jahrzehnte aufrecht erhaltenen
Willensakt zu verabschieden gedenkt.
Dieses aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgegrenzte Anderssein ist
als Phänomen auffällig genug, um ein wenig bei ihm zu verweilen. Es
ist nicht einfach ›gegeben‹, so dass es genügen könnte, es stärker
ins allgemeine Bewusstsein zu heben, um den öffentlichen Diskurs in
Gang zu setzen, aus dem dann die in Zukunft zu treffenden
Entscheidungen hervorgehen könnten. Das schamhaft verschwiegene
oder geleugnete Anderssein wird zu einer Art
causa sui. Als
eine Besonderheit oder Anomalie dieser Gesellschaft könnte es frei
beredet und in seinen Konsequenzen bedacht werden, als Ausdruck
ihrer Andersheit überantwortet es sie dem genuinen Blick der
Anderen. Das schamhaft beschwiegene Anderssein konstituiert sie als
Fremdkörper, als Objekt des Befremdens für den ›Rest der
Welt‹. Dieser ›Rest‹ ist groß und vielgestaltig genug und mit
hinreichender Gleichgültigkeit gegenüber den häuslichen Querelen
der Deutschen ausgestattet, um als eine Figur der
Selbstthematisierung erkannt zu werden. Im Gefühl der Scham gehen
Selbst- und Fremdwahrnehmung ununterscheidbar ineinander über. Das
wissen die öffentlichen Verwalter der deutschen Kollektivscham,
wenn sie das stetig erneuerte Bekenntnis der historischen Schuld,
das in der Sache nichts anderes sein kann als ein Schambekenntnis,
als Aktivposten dieser Gesellschaft bzw. ihres Staates auf der
Weltbühne verbuchen. Die schamhaft beschwiegene Unfähigkeit, sich
›angemessen‹ zu reproduzieren, und die öffentliche Schambekundung
an die Adresse der ›Welt‹ angesichts der Vergangenheit treffen sich
im Bewusstsein der eigenen ›unhintergehbaren‹ Alterität.
Man könnte diese Zusammenstellung von zweierlei Scham für
willkürlich halten, für unangemessen und sogar ehrenrührig
angesichts der extremen Verschiedenheit der angesprochenen
Gegenstände. Der Einwand ist wichtig genug, um sorgsam bedacht zu
werden. ›Willkürlich‹, ›unangemessen‹, ›ehrenrührig‹ sind Epitheta,
die dem Bevölkerungsdiskurs von Haus aus angehängt werden. Die
Gründe dafür wurden soeben genannt: sie liegen im Bereich der
Rechtfertigung zurückliegender Lebensentscheidungen und dem Wunsch
nach Aufrechterhaltung der Konstellation, der sie sich verdankten.
So gesehen ist es nichts Besonderes, die Sprache der Vermeidung im
Detail erneut anzutreffen. Die ›mörderische Vergangenheit der
Deutschen‹ ist aber etwas so grundsätzlich anderes als die bejahte
und verteidigte
eigene Lebensvergangenheit, dass es
unumgänglich wird, an dieser Stelle weitere Gründe zu nennen. Die
volle Schärfe der Differenz stellt sich erst dar, wenn man bedenkt,
dass sich hier nicht allein zweierlei Vergangenheit, sondern zwei
Arten von Vergangenheit gegenüberstehen. Als geschichtliches Faktum
liegt in der Mitte des ersten Jahrzehnts des einundzwanzigsten
Jahrhunderts die
zweite Vergangenheit ›der Deutschen‹
vor der eigenen Lebensvergangenheit der aktiven Bevölkerung
und wird allenfalls bei den älteren, der Pensionierungsgrenze
zustrebenden Jahrgängen ›irgendwie‹ über Kindheitserinnerungen
vermittelt. Als kulturelles Faktum hingegen ist sie aktuell und
präsent. Die öffentlich bekundete Kollektivscham ist eine
Angelegenheit der Nachgeborenen. In ihr hat das ausgebliebene oder
geleistete Schambekenntnis der sogenannten Täter-Generation
rituelle Form angenommen. Das Wechselspiel aus Zufriedenheit und
Unbehagen, das nicht wenige Zeitgenossen darüber empfinden,
korrespondiert der Zweideutigkeit ritueller Schambekundung, die
über zwei Gesichter zu verfügen scheint, je nachdem, ob die in ihr
wirksame Macht eines kulturellen Symbols oder das Mechanische der
Aufführung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Das Ritual
verwandelt eine nicht lebbare Intensität des Gedenkens in ein
kulturelles ›Gut‹.
Gegenüber dem Ritual bewahrt das schamhafte Verschweigen die
lebendige Qualität der Scham in ungleich höherem Maße. Man kann die
Verwandlung der kollektiven Scham in eine öffentliche Sache daher
genauso gut als den Versuch interpretieren, sich ihrer zu
entledigen, wie den, ihrem Gegenstand gerecht zu werden.
Merkwürdigerweise fügt sich das Argument, dies sei kein Gegenstand,
dem man ›gerecht‹ werden könne, den rituellen Sprachmustern
widerstandslos ein. Es ist die
ganz andere kollektive
Gegenwart, der gegenüber ›Gerechtigkeit‹ verlangt werden kann und
muss. Unschwer lässt sich darin das Funktionsmuster des
Reinigungsrituals erkennen, auch wenn man solche Relationen nicht
überstrapazieren sollte.
Man hat die Versuche, die symbolische Gegenwart von ›Auschwitz‹ und
den mangelnden Fortpflanzungseifer der Deutschen zueinander in
Beziehung zu setzen, ›obszön‹ genannt. Dem entspricht ein starker
Affekt, in dem etwas von jener primären Scham wieder aufblitzt, die
durch das Ritual neutralisiert wird. Das Wort ›obszön‹ deutet an,
dass man nicht gewillt ist, sich
dieser Scham erneut und
an dieser Stelle auszusetzen. Es leuchtet ein, dass eine
solche Form der Negation irgendeine Art von Affirmation enthält -
fragt sich nur welche. Ihrer Bestimmung kommt man näher, wenn man
die zur Wut tendierende Empörung, die durch das Wort ›obszön‹
ausgedrückt wird, neben dem Ritual und dem Schweigen als die dritte
Weise, Kollektivscham zu signalisieren, in die Überlegung
einbezieht. Die Annahme, dass hier ein Zusammenhang besteht, könnte
die Art und Weise nahelegen, auf die der engagierte Teil der
Gesellschaft rechtsradikalen Gruppen und Aktivitäten begegnet.
›Wut‹ ist die aktivistische Variante des Unterfangens, mit einer
Vergangenheit zu leben, die nicht die eigene ist, aber als solche
gedeutet wird, persönliche und kulturelle Identität in
Übereinstimmung zu bringen. Wenn der Holocaust das Symbol der
kollektiven Unfähigkeit ist, so zu sein wie die anderen, dann ist
der relative negative Geburtenstand – die 0,4 bis 0,8 %
›Fertilität‹, die das Land von den Nachbarn trennen, an denen es
sich misst – ihr uneingestandener (und uneingestanden bleiben
sollender) Ausdruck.
Dass diese Art der Wahrnehmung zwanghafte Züge trägt, bedarf keiner
eigenen Überlegung. Ebenso wird man bezweifeln müssen, dass sich
die wirklichen Gründe für die signifikanten Elemente der
Bevölkerungsstatistik innerhalb des skizzierten Musters finden
lassen. Allein die zeitliche Diskrepanz spricht dagegen: eine
Entwicklung, die seit den siebziger Jahren zumindest im heutigen
Westen des Landes anhält, kann sich schwerlich der gegenwärtigen
Konstellation verdanken. Allerdings verfügt dieses Argument auch
über eine Kehrseite: gut möglich wäre es, dass die demographischen
Fakten und die einschlägigen argumentativen Empfindlichkeiten sich
in ein und demselben historischen Prozess herausgebildet haben.
Eine Beobachtung könnte in diesem Zusammenhang einschlägig sein.
Die allgemein angenommene
starke Verbindung zwischen dem
Geburtenrückgang und der unter dem Rubrum ›Emanzipation‹
vollzogenen Integration der Frauen in das ökonomische und allgemein
berufliche Spektrum der Gesellschaft während des fraglichen
Zeitraums dient vielen als Ausweis der gelungenen Modernisierung
des Landes
im Gleichklang mit den westlichen Gesellschaften
und – merkwürdigerweise – als wütend verteidigtes Gut, sobald von
den Spezifika der heimischen Statistik die Rede ist. Dass auch die
Frauen in der DDR berufstätig waren, wird in diesem Argument nicht
bedacht. Offenbar sitzt die Angst tief, das gesellschaftspolitische
Rad könne über die ›Kinderfrage‹ zurückgedreht werden – so tief,
dass sich der Verdacht einer verschwiegenen Ideenverbindung nur
schwer von der Hand weisen lässt.
Die unterschwellig anklingende Behauptung, der ganze Themenkomplex
sei hierzulande mit einer besonderen Hypothek belastet, lässt sich
wohl nur verstehen, wenn man die Verbindung ernst nimmt, die damit
zwischen der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahrzehnte und der
gesellschaftlichen Konstellation der sechziger und frühen siebziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts hergestellt wird. Zwei
selbstgerechte Generationen, hat man gesagt, trennten sich damals
in der Bundesrepublik voneinander, um aneinander gefesselt weiter
zu existieren: für die Älteren, die mit der Nazi-Vergangenheit
geschlagene Aufbau-Generation der Nachkriegsjahre, war ›dies‹ nicht
mehr ›ihr‹ Land, für die Jüngeren war es ein Land, das nur im
Widerstand gegen ältere Mentalitäten gerettet und behauptet werden
konnte. Wenn die Altersstatistik etwas ausweist, dann den Umstand,
dass, bei aller Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung, dieser
gestörte und mit beträchtlicher Sprachlosigkeit geschlagene Dialog
der Generationen zu einem lebenslangen Begleiter insbesondere der -
damals – Jüngeren wurde. Die Verteidigung der Emanzipation gegen
die Statistik mutet wie ein später und wirrer Reflex jener alten
Kämpfe an.
10. Das Einmaleins der ›Beziehung‹
Es bleibt der Anblick einer Generation, der ›es‹ passiert ist. Wer
so fragt, muss weiter fragen, welchen Teilen der Generation was
passiert ist, er muss schließlich nach der Zusammensetzung dieser
›Generation‹ fragen, von der da die Rede ist. Denn dass der
studentische Protest nur von einem winzigen Teil der entsprechenden
Altersklassen getragen wurde, liegt auf der Hand, dass Mitläufertum
und Zuschauerstatus verblüffende Modifikationen des ›Bewusstseins‹
hervorbringen, bedarf nur geringer Überlegung, dass die mediale
Aufbereitung des Geschehens den nicht akademischen Teilen der
Bevölkerung andere Bilder und Selbstbilder suggeriert und, wenn
überhaupt, in anderer Weise in ihre Lebensläufe eingreift als in
die der Träger des Geschehens, gehört zu den banaleren Fakten der
Sozialgeschichte. Dass '68 eine Projektion darstellt, ein Mantra
oder einen Fetisch für Angehörige ›vermittelnder‹ Berufe, also
Journalisten, Öffentlichkeitsarbeiter, Schriftsteller, Lehrer,
Hochschullehrer der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer,
lässt im Bereich persönlicher Entscheidungen, die nicht auf diese
gesellschaftliche Minderheit beschränkt bleiben, nach
Handlungsmotiven suchen, die außerhalb des rückblickend summarisch
›emanzipatorisch‹ genannten Motivbereichs liegen.
Was bewegt eine statistisch relevante Zahl von Angehörigen der
unterschiedlichsten Berufs- und Gesellschaftsschichten, den Pfad
der Reproduktion zu verlassen und, ohne dass
besondere
persönliche Gründe vorliegen, das Modell der ›Kernfamilie‹ gegen
Lebensverhältnisse einzutauschen, die, bei allem finanziellen Reiz,
eine Generation früher als ›Ersatz‹, ›Kompensation‹ oder bloß
bedauernswertes ›Schicksal‹ gegolten hätten? Die Frage ist
tausendfach gestellt und von den Betroffenen höchst unterschiedlich
beantwortet worden. Offenkundig hilft Fragen in diesen Bereichen
wenig. Das verbale Bezeugen gängiger Wertmuster (›Mobilität‹,
›Freizeit‹, ›Beruf‹, ›Geld‹) vertritt die Stelle der biologischen
Reproduktion, ›es‹ passiert den Befragten, so wie ›es‹ den
Generationen vor der Pille zu passieren pflegte. Bezeichnenderweise
bleibt es einem eher geringen Personenkreis vorbehalten, die
ökonomischen Modellrechnungen, nach denen Kinder unter den
Bedingungen der gegenwärtigen Rechts- und Sozialordnung aus der
Sicht der Einzelnen zu den Fehlinvestitionen zählen, als
respektablen Grund für die eigene Lebensentscheidung zu nennen.
Auch das bedeutet, für sich genommen, wenig, wenn man der Annahme
zuneigt, dass Leute ihre Handlungsmotive vor anderen und sich zu
verschleiern pflegen. Das finanzielle Argument gilt als Provokation
und wird meist auch in dieser Funktion verwendet: dass es sich
›wieder‹ lohnen
muss, Kinder in die Welt zu setzen, ist ein
jedem Angehörigen der Gesellschaft bekannter konservativer
Topos.
Die Erfindung der ›Pille‹ hat mit der Trennung von Sex und
Fortpflanzung auch die Trennung von sozialem und ökonomischem
Kapital im Bereich von Partnerwahl und familiärer Bindung
lebbar gemacht. Während die Partnerwahl ökonomisch folgenlos
bleibt (sieht man von den realen Trennungskosten ab, die in der
Phase der Wahl ausgeblendet bleiben), aber einen Prestigegewinn
bedeutet, verhält es sich bei der Kindeswahl umgekehrt. Die
ökonomischen Kosten sind beträchtlich und halbwegs kalkulierbar,
während der Prestigegewinn ungewiss bleibt und im Ernstfall ganz
entfällt. Der Zusammenhang beider Seiten ist evident. Das
ausschließlich auf symbolischen Tausch fokussierte Beziehungsspiel
zerbricht, sobald die Ankunft eines oder mehrerer Kinder die
Beziehung ökonomisiert. Entsprechend verfliegt oder relativiert
sich das traditionell verbürgte Prestige, das Kinder verleihen,
angesichts der Verwandlung der frei eingegangenen und jederzeit
frei auflösbaren Beziehung in einen ökonomischen Zweckverband,
dessen Auflösung die eingegangenen Verpflichtungen nicht
annulliert, sondern nur schwerer realisier- und tragbar macht. Das
gesellschaftliche Muster ›Beziehung mit Kind‹ ist somit geeignet,
massenhaft unglückliches Bewusstsein zu erzeugen – das Gefühl, ›im
falschen Film‹ aufgewacht zu sein, das in therapeutisch begleiteten
Trennungsgesprächen wie in Lebensberichten eine bekannte Größe
darstellt.
Eine statistische Arabeske ist geeignet, ein wenig Licht auf diesen
Sachverhalt zu werfen. Es scheint, dass Frauen in der ›Beziehung‹
mehrheitlich dazu neigen, das eigene Einkommen als
ihres zu
betrachten, während Männer in der Mehrzahl das von ihnen
erarbeitete Einkommen als gemeinsames ansehen. Gut möglich, dass
sich hier ein älteres und ein neueres Modell des Zusammenlebens
überlagern, möglich auch, dass die Differenz der Gesinnungen eine
noch immer reale Differenz der Positionen und Gehälter reflektiert,
schließlich, dass sich hier eine stabile Sicht auf das anbietet,
was ebenso allgemein wie hintersinnig ›Beziehung‹ genannt wird.
Vordergründig bezeichnet der Ausdruck die komplexe Gesamtheit der
realen und differenzierten Weisen des geschlechtlich motivierten
Zusammenlebens zwischen ›natürlichen‹ Personen. Unter der Hand
jedoch verwandelt er sie in etwas anderes, insofern er eine
Interpretation anbietet, die sie alle umfasst und in einem eigenen
Licht erscheinen lässt. Die homogenisierende Tendenz des Begriffs
zeigt sich in einfachen Sätzen wie: ›Die Tatsache einer Beziehung
sagt nichts über ihre Qualität aus‹.
Qualitas und Wert
werden hier nach bekanntem Muster ineins gefasst – mit der Folge,
dass die Deutungshoheit über die einschlägigen Weisen des
Zusammenlebens an die wirkungsvolle Handhabung des Begriffs
›Beziehung‹ gebunden wird.
Beziehungskompetenz erscheint
gebunden an die Beherrschung einschlägiger soziopsychologischer
Begriffe und Theorien. Auch die klassifikatorische Korrektheit des
Begriffs geht in diese Alltagsverschiebung im Bereich des Redens
über Sexualität, Intimität, Treue, Zeugungsmoral und
Geschlechterdifferenz im allgemeinen und im speziellen Fall ein:
die Unterschiede, über die er hinweggeht, werden nicht nur zu
sekundären Unterschieden im Bewusstsein derer, die ›in Beziehungen‹
leben, sondern zu
unsichtbaren Unterschieden, deren Nennung
etwas leise Ungehöriges anhaftet, als begehe man damit eine
Unkorrektheit oder zeige sich nicht auf der Höhe des geforderten
Bewusstseins. Kraft dieses Automatismus substituiert das
Minimalmodell der Beziehung differenziertere Modelle in der
Wirklichkeit und wird zur sozialen Norm, der gegenüber alle anderen
unter Rechtfertigungszwang geraten.
Der Konformismus der Gesellschaft lässt keine neutralen
Bezeichnungen zu; dominant verwendete Begriffe haben strategische
Bedeutung und verändern das Feld, das sie beschreiben. Zu den
Verlierern der strategischen Verschiebung, die der
gesellschaftliche Gebrauch des Wortes ›Beziehung‹ anzeigt, gehören
die Kinder: sie sind im Minimalmodell nicht enthalten und daher
ebenfalls unsichtbar. Von ihnen reden heißt nicht nur, von etwas
anderem als ›der‹ Beziehung reden, es heißt auch, eine Komplikation
ins Spiel zu bringen und sich dadurch ein Stück weit aus ihm zu
entfernen, sofern man die Entschiedenheit dazu aufbringt und nicht
schamhaft über diesen
gefühlten Punkt hinweggleitet. Frauen,
die sich
in der Beziehung oder in wechselnden Beziehungen
als ›Alleinerziehende‹ konzipieren und an dieser Deutung unbeirrt
festhalten, wie immer sich die persönlichen Verhältnisse gestalten,
haben das genauso verstanden wie jene anderen, die ›gelernt‹ haben,
ihren Kinderwunsch als Ausdruck von etwas anderem zu begreifen. Was
sie
nicht sehen oder sehen wollen, ist der Konformismus, der
ihr Denken und Handeln deformiert, indem er Zonen der
Verschwiegenheit und des ›ungehörigen‹ Verlangens einrichtet, die
auch deshalb so schwer zu erkennen sind, weil er sich der Rhetorik
der problembezogenen Offenheit und des sexuell konnotierten
Begehrens bedient. Analoges gilt für Männer, die als Väter der
Vaterrolle teils deklamatorisch, teils real ›entsagen‹ oder die
Umkehr der Geschlechterrollen ›genießen‹, ›weil es an der Zeit ist,
dass die Frauen einmal nicht an die Kinder denken, sondern an
sich‹, wobei dieses ›sich‹ verblüffende Ähnlichkeit mit dem
eigenen, ›sich‹ entlastenden Ich zeigt. Dass solche Reden gezinkt
sind, ist Grundlage ihrer Zirkulation und Anzeige eines Unbehagens,
das zurückstellt, was nicht an der Zeit ist, obwohl es an der Zeit
wäre, wenn einen nicht die Zeit daran hinderte, in den Demütigungen
zu lesen, mit denen man seine Zeitgenossenschaft erkauft.
Die statistische Differenz, von der oben die Rede war, zeigt auf
der ökonomischen Seite Frauen, die scheinbar ›zuerst‹ an sich
selbst denken, und Männer, die bereit sind, ihr Geld in das
Unternehmen ›Beziehung‹ zu stecken. Auf der Ebene symbolischen
Sprechens kehrt sich diese Relation um: hier erscheinen, folgt man
den Stereotypen, die Frauen als der ›investierende‹ und die Männer
als der ›egoistische‹ Teil. Daraus folgt aber keine Symmetrie in
Bezug auf den Kinderwunsch als den unsichtbaren Dritten in der
Beziehung: da seine Erfüllung die ökonomische
Investitionsbereitschaft zwingend voraussetzt, kann man annehmen,
dass eine Mehrzahl der Männer ihn
in der jeweiligen
Beziehung zu realisieren sucht, während ein signifikanter Anteil
der Frauen zwischen der Beziehungspflege und der Realisierung des
Kinderwunsches mehr oder weniger sorgfältig trennt. In der durch
das Kind auferlegten Langzeitperspektive, in der die ökonomischen
Risiken mitbedacht werden müssen, steht die Beziehungsskepsis
obenan und das Motiv der eigenen finanziellen Absicherung
dominiert. Unterstellt man eine gewisse, wenngleich begrenzte
Lernfähigkeit auf Seiten der Männer, dann kann es sich nur um einen
dynamischen Sachverhalt handeln und die Attraktivität des zum
Minimalismus tendierenden Beziehungsmodells sinkt
sub specie
des Kinderwunsches. Und zwar auf beiden Seiten: die Botschaft, dass
eine über Adoleszenz und Erwachsenenalter ausgedehnte
Mutter-Kind-Symbiose weder für das ›Kind‹ noch für die Mutter
besonders erstrebenswert ist, gehört mittlerweile zum kleinen
gesellschaftlichen Einmaleins. Entsprechend wächst, jedenfalls
prozentual, die Zahl der Beziehungen, in denen keine Seite
finanziell zu ›investieren‹ bereit ist, in denen daher der
Kindeswunsch von vornherein nicht existiert oder so stark maskiert
erscheint, dass eine Aussicht auf Nachwuchs praktisch nicht
besteht.
11. Ein Stück
Nachkriegsgeschichte
Wenn die ›Beziehung‹ soziales Kapital verspricht oder ›darstellt‹,
dann sollte die Frage nach der deformierenden Gewalt, die dem
Begriff als einem gesellschaftlichen Universale innewohnt, nicht
nur den Minimalismus als den Mechanismus des Unsichtbarmachens der
zentralen Aspekte der Fortpflanzung, der Weitergabe familiärer und
kultureller Informationen im als ›eigen‹ wahrgenommenen Nahbereich
umfassen, sondern auch den Begriff des sozialen Kapitals, wie er in
dieser Anwendung erscheint. Dass der simple Gedanke der
Beziehung (Relation) zweier Gesellschaftsglieder ein
Erwerbsverhältnis impliziert, gehört nicht von vornherein zur
Sache, es reflektiert die dritte Seite im Spiel. Die Annahme, dass
einige Beziehungen sozial wertvoller sind als andere, verschiebt
das sexuelle Spiel in den Bereich von Einfluss, Karriere und Macht.
Das wollen viele, dennoch fällt der Begriff der
›Geschlechterbeziehung‹ in ein abweichendes Register. Hier geht es
primär um die biologische und kulturelle Matrix, der die
Einzelperson nicht entkommt und die durch Gesinnungen und
Lebensentscheidungen weder modifiziert noch aufgehoben werden kann.
Die Formel ›eine Beziehung haben‹ fällt in den Bereich
zweideutig-eindeutiger und damit sexuell konnotierter Rede. Sie der
herkömmlichen Mannigfaltigkeit von Ausdrücken für sämtliche
Spielarten der Teilhabe am Geschlechterverhältnis zu substituieren,
erscheint verheißungsvoll im Zusammenhang mit öffentlicher
Urteilsabstinenz und dem Rückzug gesellschaftlicher Autoritäten aus
einem als intim ausgegrenzten und tendenziell sanktionsfrei
erklärten Raum individueller ›Entfaltung‹. Vielleicht hat es diesen
Moment in der Geschichte der westlichen Gesellschaften einmal
gegeben. Plausibler erscheint es, die Deutung dem schon erwähnten
rückwärts-vorwärtsgewandten Mantra zuzurechnen.
Das seine Lebensform frei wählende Individuum gerät von zwei Seiten
unter Druck: durch die in gewissen Aspekten unausgesprochen
bleibenden, aber wirksamen Wünsche des ›Partners‹ oder der
›Partnerin‹ und durch die ökonomisch-rechtliche Situation, die sich
nach einer gewissen Übergangsphase auf die neuen Gegebenheiten der
Wahl einstellt, sobald sie statistisch relevant werden. Die
Umformung der Rechtsverhältnisse unter Rubriken wie
Gleichbehandlung, Trennung, Versorgung, Eltern- und Kindesrechte
läuft in ihrer Gesamtheit zwangsläufig auf eine effiziente
staatliche Bewirtschaftung der ›neuen‹ Lebensformen und damit auf
einen Vergesellschaftungsschub hinaus, in dem die ›Familie‹ zwar
weiterhin mit materiellen Zuwendungen seitens des Staates rechnen
kann, aber als gesellschaftliche Größe
sui generis aus der
öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Selbstverständlich wird
weiterhin für sie geworben, doch schon die Art, in der dies
geschieht, zeigt an, dass ihre Glanzzeit vorüber ist und
attraktivere Angebote den Markt beherrschen. Die administrative
Moderne folgt der ›gefühlten‹ nach: die Unsichtbarmachung der
Bedingungen, unter denen Menschen Kinder in die Welt setzen, und
die Verrechtlichung des
Kinderhabens (mit allen teils
realen, teils eingebildeten Vorteilen für die jungen Menschen)
wirken in die gleiche Richtung.
Dass eine konsequent das ›Projekt Moderne‹ verfolgende
Gesellschaft, die sich ihrer Herkunft kaum anders als in Abwehr und
Abscheu erinnert, hier größere Hürden als andere aufbaut, die ein
entspannteres Verhältnis zum Herkommen pflegen, wirkt plausibel.
Dummerweise bleibt in ihr die durchgestrichene Vergangenheit
zweifach präsent: als bereits vorausgegangene Schwächung der
relativen Autonomie familiärer Strukturen während der
faschistischen Periode und
als durchgestrichene, soll heißen
als Dauerdisput zweier zum Irrealisieren neigender Fraktionen
innerhalb der Gesellschaft, der die kontroversen Positionen über
lange Zeiträume konserviert. Hinzu treten weitere, nicht minder
wirksame Faktoren. Heute hegt man kaum noch Zweifel darüber, dass
viele der in den sechziger und siebziger Jahren als
›patriarchalisch‹ wahrgenommenen und bekämpften Eigentümlichkeiten
der Nachkriegsfamilie als pathologische Kriegsfolgen zu bewerten
sind und eher einer psychotherapeutischen Behandlung bedurft
hätten. Die Identifikation der Jüngeren zunächst mit den Siegern,
dann mit den Opfern des nationalsozialistischen Gewaltregimes, das
im väterlichen Regiment ein schattenhaftes Nachleben zu führen
schien, gehört zur Delegitimationsgeschichte des familiären
Herkommens. Der Auszug einer Generation aus einer als unerträglich
empfundenen oder interpretierten Zwangsveranstaltung ›Familie‹
vollzog sich unter Voraussetzungen, die aus dem Abstand mehrerer
Jahrzehnte zu guten Teilen als falsch oder schief angesehen werden
können. Auch die zunächst selbstverständliche, später
gesellschaftlich missliebige und schließlich weitgehend aus dem
allgemeinen Bewusstsein entfernte Tatsache, dass die Mehrheit der
Angehörigen der Kriegsgeneration(en) das Ende des Zweiten
Weltkriegs primär als Niederlage und erst sekundär – und in
geringerem Maße – als Befreiung wahrgenommen hatte, konnte zur
Diskreditierung des Familienmodells beitragen, weil sie zu den
Auslösern der ›Sprachlosigkeit‹ zwischen den Generationen gehörte
und die Attraktivität dieser Form des Zusammenlebens
minderte.
Sicher ist, dass einige signifikante Unterschiede der
demographischen Entwicklung in den ökonomisch und
gesellschaftspolitisch weitgehend kongruenten westeuropäischen
Gesellschaften den durch Nationalsozialismus, Faschismus, Krieg und
Niederlage/Befreiung vorgegebenen Bruchlinien folgen. In den neuen
Bundesländern, den mittel- und osteuropäischen Staaten und Russland
hat der Untergang des sowjetischen Systems eine demographische
Situation entstehen lassen, die analoge Züge trägt und allein
anhand der ökonomischen Daten wohl ebenfalls nicht schlüssig zu
beurteilen ist. Auch hier verlangt das psychologische Drama der
erlittenen Niederlage führender Schichten und ihrer
unterschiedlichen Interpretation im Namen der Freiheit, wie es sich
in der Abfolge vieler Wahlergebnisse spiegelt, nach Aufmerksamkeit.
Die Wertentscheidungen und Verhaltensparameter der Konsum- und
Freizeitgesellschaft allein erlauben jedenfalls keine sicheren,
schon gar keine hinreichenden Erklärungen außer dem Hinweis auf
eine mit allgemeinem Wohlleben, Alterssicherheit und ›aktiv
gestalteter‹ Freizeit einhergehende Tendenz zu geringeren
Kinderzahlen. Die weltweit gültige Formel verdeckt die äußerst
unterschiedlichen Interpretationen, die Gesellschaften
bereitstellen, wenn es darum geht, ökonomische und kulturelle
Trends zu inkorporieren. Diese Interpretationen, die tief in das
Institutionen- und Handlungsgefüge hineinwirken, in dem sie
verankert sein müssen, um wirksam werden zu können, gehören zu den
kulturellen Fakten, die eine Gesellschaft produziert und deren
Eigenart man nur eingeschränkt zur Kenntnis nimmt, solange man sie
ausschließlich an Effizienzparametern misst.
12. Exkurs über Erinnerungskultur
Mit den Siegern gehen stellt für die Menschen eine einfache
und bei denen, die sich weiterhin, meist weil sie ohnehin keine
andere Wahl haben, zur unterlegenen Seite bekennen, extrem
missliebige Weise dar, verloren gegangenes oder in der gegebenen
Lage nicht abrufbares soziales Kapital zurückzugewinnen. Dabei kann
es zu komplexen Reaktionsmustern und prägnanten Verläufen kommen -
vorausgesetzt, die Sieger lassen den Seitenwechsel überhaupt zu.
Der Bevölkerungswissenschaftler Massimo Livi Bacci, der die
»demographische Katastrophe« Hispaniolas nach der ›Entdeckung‹
durch Kolumbus untersucht hat, vertritt die These, allein der
aufgrund der von den spanischen Siedlern diktierten Lebensweise
eingetretene Fertilitätsschwund reiche aus, um die Auslöschung der
Tainos binnen weniger Jahrzehnte zu erklären – auch ohne
Immunschwäche und
Leyenda negra. Sklavenarbeit in den Minen,
Zerstörung der auf Herkommen gründenden Ökonomie, familiäre
Trennungen, erzwungene dauerhafte Mobilität, forcierte Frauenarbeit
und Frauenraub fügen sich in seiner Darstellung zum Bild einer
Gesellschaft zusammen, deren Gliedern es nicht erlaubt war, ›mit
den Siegern zu gehen‹. Damit löst sich Livi Baccis Argumentation
von den durch ›nackte Gewalt‹, zügellose ökonomische Ausbeutung und
willkürlich Ausübung von Herrschaft gezeichneten Daten und umkreist
jenes ›Minimum‹ intakter Lebensbeziehungen, von dem auch die
Literatur der Sklaven- und Vernichtungslager des Zwanzigsten
Jahrhunderts
ex negativo handelt.
Im Lauf der Jahrzehnte haben die in den Westen integrierten,
ökonomisch und sozial extrem erfolgreichen Verliererstaaten des
Zweiten Weltkriegs komplizierte partizipatorische
Erinnerungssysteme ausgebildet, an denen alle ›relevanten‹
Gruppierungen teilhaben, die Deutungshoheit über das Geschehene
beanspruchen. Ausgeschlossen von der Teilhabe blieben die
Regimetäter und das rechtsradikale Spektrum aus Personen und
Organisationen, die, aus welchen Motiven auch immer, sich
ideologisch und politisch in die Kontinuität der Niederlage
stellen. Als relevant gelten Gruppen, die von der durch die
Niederlage bereitgestellten
Möglichkeit der Freiheit
angemessenen Gebrauch gemacht haben: also die Gemengelage aus
Regimeopfern und ›unbelasteter‹ Funktionselite, aus Exilierten und
Aktivisten des Widerstandes, Emigranten und ihren Nachkommen sowie
Exponenten von Protestbewegungen, soweit sie in die
Demokratisierungsgeschichte des Landes eingegangen sind. Das
austarierte Gefüge wechselseitig attestierten Respekts angesichts
der
einen Vergangenheit aus divergenten Vergangenheiten
überlagert und durchdringt die ›klassische‹, vor dem Hintergrund
der Katastrophe eigentümlich geschichtslos wirkende
Reputationshierarchie der Gesellschaft, in der ökonomische
Kriterien wie Herkunft, Einkommen, Erfolg und ihren symbolische
Äquivalente im Bereich von Bildung, Intellekt und Geschmack zählen.
Hier einige Merkmale:
- Erinnerungskultur ist nicht gleich Gedenkkultur. Die
institutionell ›verankerte‹ rituelle Gedenkkultur ist eine
Angelegenheit des Staates oder staatsnaher Institutionen. Das gilt,
solange die Legitimität des Staates nicht durch besondere Umstände
in Frage gestellt ist:
inoffizielle Gedenkhandlungen sind
immer auch Ausdruck von Vorbehalten gegenüber dem Staat bis hin zum
symbolischen Widerstand. Die Anwesenheit von Staatsvertretern bei
nicht-staatlichen Gedenkhandlungen gesellschaftlich bedeutsamer
Gruppen zollt diesem Zusammenhang Respekt. Dagegen ist die
Erinnerungskultur auf überraschende, zumindest variable und
›ungewöhnliche‹ Äußerungsformen angewiesen, die unter bestimmten
aktuellen Gegebenheiten ›ihren guten Sinn haben‹, also
wirken sollen. Sie ist informell. Die Gesten des Erinnerns
fungieren nicht als
Ausdruck der Legitimität des Staates,
sondern – auf Zeit und unter limitierenden Bedingungen – als
legitimitätsverleihende Akte: die innere Distanz zum Staat und
seinem Vorrat an symbolischen Handlungen ist ihnen inhärent.
- Erinnerungskultur ist nicht gleich Medienöffentlichkeit.
Erinnerungskultur findet in den öffentlichen Medien statt, ihre
Pflege ist ein Teil des medialen ›Geschäfts‹, aber die Akteure und
Handlungstypen unterscheiden sich in wesentlichen Aspekten. Was
immer sie in Erinnerung ruft, ist in den Grundzügen allgemein
bekannt. Journalistische Recherche und aktuelle Berichterstattung
berühren nicht den Kern der Darbietung. Darin ähnelt ihr
Repräsentationstyp dem der Politik, die zwar mit Hilfe der Medien,
aber nicht
in den Medien ›gemacht‹ wird. Auch die
Vermischung der Zonen und die wechselseitige Funktionalisierung
wirken analog. Der distanzierende Faktor heißt im einen Fall -
legitimiert durch den Wählerauftrag –
Macht, im anderen Fall
Authentizität. Die ist in der Politik zwar gefragt, aber ein
knappes – und in der Regel verzichtbares – Gut. Die
Erinnerungskultur kann das besser. Eine nicht unwesentliche unter
ihren Aufgaben besteht darin, der Gesellschaft in einem
›permanenten Prozess der Erneuerung‹ Quellen der Authentizität zu
erschließen und ihr die entsprechenden Akteure zuzuführen. Ob sich
die in der Unterhaltungsindustrie oder im gehobenen kulturellen
Dienstleistungssektor (Literatur, Theater, Regiefilm, Biographik)
finden, ist
im Prinzip gleichgültig, auch die Aneignung der
›ernsten‹ Stoffe durch Fernsehregisseure und -schauspieler,
Kritiker, Interessenvertreter, Moderatoren und willkürlich
ausgewählte Teilnehmer an einschlägigen Gesprächsrunden kann ohne
weiteres als authentische Erfahrung in das Distributionssystem
›Erinnerung‹ eingespeist werden. Authentizität ist keine inhärente
Qualität, sondern die Qualität des Inhärenten: der überzeugenden
Demonstration von Erinnerung im öffentlichen Raum.
- Die Träger der Erinnerungskultur repräsentieren keine
gesellschaftliche(n) Gruppe(n). In einem strikten Sinn von
Authentizität repräsentieren sie ihre individuellen
Lebensgeschichten und damit sich selbst. Die Anmutung, die von
einer solchen Selbstrepräsentation ausgeht, entspricht in mancher
Hinsicht derjenigen von Schauspielern, deren spezifische Leistung
dem
Publikum und nicht den in ihm vertretenen
Bevölkerungsgruppen gilt. Adressat der Erinnerungskultur ist die
ganze Gesellschaft oder ihr gemäß der Exklusionsregel – siehe oben
- zugelassener Teil. Diese
Reputationsgesellschaft ist eine
verwirrende Größe, sie ähnelt in manchem der ›legitimen‹
Gesellschaft der ›herrschenden Kreise‹ Bourdieus, ohne über ihre
Macht, ihren Einfluss und ihre ökonomische Potenz zu verfügen – in
allen diesen Hinsichten ist sie einfach ›Gesellschaft‹. Aktivisten
und Passivisten der Erinnerungskultur treffen sich darin, dass ihr
gesellschaftlicher Status nicht
spezifisch differiert, wenn
man von der Prominenz einmal absieht, die der öffentliche Auftritt
unabhängig von den Inhalten verleiht. Betrachtet man
Erinnerungsaktivismus unter dem Aspekt der Bildung symbolischen
Kapitals, dann muten die Ergebnisse ähnlich zwitterhaft an wie im
Fall des privaten Beziehungslebens. Die Beziehung zwischen
Erinnerungsträger und Gesellschaft fällt für ersteren umso
unbefriedigender aus, je mehr er in sie ›investiert‹ – was sich
unschwer an den persönlichen Enttäuschungen, Verbitterungen und
Radikalisierungen ablesen lässt, die derartigen Lebensläufen nicht
selten eignen, während derjenige, der sie zu plündern gedenkt, weit
bessere Chancen besitzt, mittels sekundärer Effekte wie Ehrungen,
Aufbau eines persönlichen Beziehungsgeflechtes etc. ›auf seine
Kosten zu kommen‹. Die Erinnerungskultur ist weder elitär noch
egalitär, sie ist weder exklusiv noch inklusiv, sie ist
›parteiisch‹, ohne Partei zu sein. Sie ist
funktionale
Repräsentation und Selbstrepräsentation in einem: ein integratives
Angebot an alle, die es angeht, weil sie sich als Teil des
Gemeinwesens verstehen.
- Die Erinnerungskultur ist eine auf dem Freund-Feind-Schema
beruhende Teilrepräsentation der ›Nation‹. Nicht alle
Erinnerungen sind gleichwertig – das gilt für die Schwere des
Erlittenen, für Ort, Umstände und Art des Leidens, für
Gruppenzugehörigkeiten und Konsequenzen, für den Heroismus des
Widerstands und schließlich für die Tatsache des Leidens selbst. In
dem Maße, in dem die Erinnerungskultur den Gründungsmythos anderer,
›intakter‹ Nationen vertritt (amerikanische
Unabhängigkeitserklärung, Bill of Rights, Französische
Revolution), bleibt sie auf das entsetzliche Geschehen
ausgerichtet, das der Neugründung des Gemeinwesens voranging, und
damit auf die absolute Gegnerschaft zu den Schuldigen und ihren
Entschuldigern.
Die legitimierende Grundform des Erinnerns ist
das Grauen. Eine detaillierte Geschichte der Erinnerungskultur
könnte zeigen, wie durch die fortschreitende Rückwärts- und
Vorwärtsintegration höchst unterschiedlicher ›Geschichten‹ die fast
unlösbar wirkende Aufgabe gemeistert wurde, über mehr als ein
halbes Jahrhundert hinweg diese Grundform zu erhalten – und damit
die ursprüngliche Feindschaft
real und
lebbar zu
gestalten –, während der stabile Alltag des Gemeinwesens die
Marginalisierung des Gewesenen (das ›Vergessen‹) und seiner
freiwillig-unbedarften Repräsentanten (der ›Ewiggestrigen‹, wie die
prägnante Nachkriegsformel lautete) begünstigte.
Der Erinnerungskultur ist der Begriff der ›Nation‹ suspekt. Daraus
folgt nicht, dass sie ihn ignoriert oder nicht zulässt, im
Gegenteil: der im Alltag präsente Zusammenhang zwischen Verdacht
und Kontrolle, zwischen Kontrolle und Beherrschung ist auch auf
diesem Feld evident. Das
suspicium, der ›Argwohn‹, ist das
Instrument, mit dessen Hilfe die Erinnerungskultur die Rede von der
Nation kontrolliert und dominiert. Unter dem Gesichtspunkt
authentischer Rede könnte es so aussehen, als handle es sich dabei
um einen Nebeneffekt, über den man dieser oder jener Ansicht sein
könne. Manches öffentliche Plädoyer dafür, Erinnerungskultur und
nationale Rhetorik (oder ›Gemeinschaftsrede‹) voneinander zu
trennen, um ›endlich‹ ein ›unverkrampftes Verhältnis‹ zur Nation zu
bezeugen, huldigt diesem Missverständnis. Es fiele schwer, die
Funktion (oder Funktionsbreite) der Erinnerungskultur zu bestimmen,
ohne den Begriff der Nation ins Spiel zu bringen. Man verstünde
bereits die außergewöhnliche Anstrengung nicht – oder nur in
verstellter Form –, von der die Rede ist, wenn sie als singuläre
Leistung der Deutschen gepriesen wird, wobei man die analogen, aber
anderen kulturellen Stilen verpflichteten Leistungen anderer
Nationen leicht als geringfügig abtut. Dieser Stolz darauf, die
Bürde geschultert zu haben, Deutscher zu sein – im Verein
mit dem Bannstrahl gegen alle, die in aufreizender und nur
teilweise gültiger Symmetrie den ›Stolz, Deutsche zu sein‹
reklamieren – gibt mehr als anderes Auskunft in dieser Sache. Nicht
die Nation gilt es unter Kontrolle zu halten – ein angesichts der
Nachkriegsgeschichte eher donquichotteskes Motiv –, sondern das mit
jener Bürde untrennbar verbundene Entsetzen. Die über Nacht ihrer
Erinnerungskultur ledigen Deutschen wären vermutlich keine ›Nation
unter Nationen‹, sondern die gesichtslose Population eines
Wirtschaftsstandortes, angesichts dessen alle Arten von
Assoziationen erlaubt und ›im Recht‹ wären – eine gelegentlich in
der Literatur anzutreffende schwarze Vision.
Die Rede von der Nation hat in Westdeutschland, dessen Entwicklung
hier zu Grunde gelegt wird, weil sie die geltenden Parameter
besetzt, eine Reihe von Wandlungen erfahren, die den von der
Erinnerungskultur durchlaufenen Stadien korrelieren. Ihre negative
Besetzung im Schatten der Studentenrevolte und anderer
Entwicklungen erscheint im Nachhinein nicht zwingend. Der von Willy
Brandt propagierte Patriotismus der ›Bürger‹, der historische
Versuch, das französische Modell des
Citoyen mit dem
Gedenken an die 1848 niveauvoll gescheiterte deutsche
Freiheitsbewegung im sozialliberalen ›Konsens‹ zu verbinden, setzt
wie bereits das Grundgesetz einen positiven Begriff der Nation
voraus. Es ist nicht nötig, dass der Mythos der Nation alle
Bevölkerungsteile zufriedenstellt; es genügt, wenn er sie
tendenziell eint. Alle Nationbegriffe sind kämpferisch und nehmen
jene manichäische Zweiteilung vor, in der kein Zweifel daran
gelassen wird, welche Tradition – und welcher Bevölkerungsteil -
als siegreich bzw. als unterlegen angesehen wird. Innenpolitisch
steht der Kniefall von Warschau in einer bescheidenen Reihe
›aufsehenerregender‹ Versuche, mit den Mitteln der Gedenkkultur der
Bürgernation die Scham und das Entsetzen, wie man sie in jenen
Jahren empfand und artikulierte, rituell ›einzuhegen‹. Die
Erinnerungskultur machte daraus etwas anderes: die überlebensgroße
Geste des ehemaligen Exilpolitikers, der zwar das ›andere
Deutschland‹ repräsentierte, aber weder die
eine noch die am
Ende
siegreiche Nation. Der Sieg blieb eine Angelegenheit
der Siegermächte, die Niederlage des nationalsozialistischen
›Reichs‹ verwandelte sich definitiv in die Niederlage der Nation -
eine Deutung, die angesichts der unaufhebbar scheinenden
innerdeutschen Grenze eine gewisse Plausibilität für sich verbuchen
konnte. Dabei ist es aller staatstragenden Gedenkkultur zum Trotz
bis 1989 geblieben.
Die historische Funktion der Erinnerungskultur besteht darin, das
durch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hindurch von weiten
Kreisen der Bevölkerung weitergetragene, nicht abzuschüttelnde
Bewusstsein der Niederlage
irgendwie zum Verschwinden zu
bringen. Die angewandten Verfahren – Identifikation mit den Opfern,
Ächtung bestimmter Elemente der offiziellen Gedenksprache,
zeitweise Ausblendung ›eigener‹ (?) Erinnerungen an Härten der
Kriegs- und Besatzungszeit aus dem Opferdiskurs, Ritualisierung der
Rede von ›den Deutschen‹ als Trägern des nationalsozialistischen
Vernichungswillens bei kollektiver Ablehnung der
Kollektivschuldthese etc. – sind bekannt. Sie delegieren den
Konflikt der Deutungen an die Nation, die, ebenso unabweisbar wie
die Niederlage, ebenso hässlich wie die Schuld und ebenso
gegenwärtig wie der Wille, zu den Siegern der Geschichte zu
gehören, den Vorteil der Ohnmacht bietet, gleichgültig, ob man die
Teilung des Landes oder der eigenen Bevölkerung nach Licht und
Dunkel misst. Der Erinnerungsdiskurs eröffnet die Aussicht auf eine
Reputation, die jenseits der Felder persönlicher Tüchtigkeit und
der ›bloß ökonomischen‹ Potenz des Landes liegt, aber auf
erstaunliche Weise beides reflektiert. Er ist einer Konstellation
geschuldet, keiner Generation: in ihm finden sich die jüngere
Frontgeneration, die Kinder der Bombennächte und der mehr oder
weniger schuldigen, mehr oder weniger traumatisierten
Kriegsheimkehrer zusammen, um die ›Meinungsführerschaft‹ im Lande
zu übernehmen.
13. Das Reputationssystem der
Gesellschaft
Der Exkurs über Niederlage, Erinnerung und Nation war notwendig, um
den Sündenbock (und den dazu gehörenden Mechanismus) namhaft zu
machen, auf dessen Vorhandensein ein bedeutsamer Teil des
Reputationssystems der erst westdeutschen, seit 1991
gesamtdeutschen Gesellschaft beruht. Anders als das offizielle
Gedenken, das sich einfacher ritueller Formen bedient, bevorzugt
die Erinnerungskultur die rituell fundierte, aber in der
Ausgestaltung freie, den unvorhersehbaren Konflikt kultivierende
Form des medial inszenierten Dramas. Sein Handlungskern ist die
›irreversible‹ Diskreditierung der Nation durch das erinnerte
Geschehen und die rituelle Verwünschung derer, die nicht bereit
sind, sie zu akzeptieren. Wie die Polisbewohner der attischen
Tragödie wohnen die Zuschauer (oder Leser) dem Untergang der Nation
bei, die sie als
Publikum repräsentieren. Der theatralische
Untergang wird als ›notwendig‹ im Wortsinn empfunden: als
geeignetes Mittel, die Not zu wenden, die aufgrund der umfassenden
und als dauerhaft empfundenen Niederlage in der Befreiung dem
Gemeinwesen inhärent ist.
Die Schmach der Befreiung, das
heißt die Reflektion des Umstandes, einer Nation anzugehören, die
›bis zum bitteren Ende‹ gegen die Befreiung von einem
unmenschlichen Regime gekämpft hat, wird durch das Entsetzen und
die Identifikation mit denen, die
das erlitten haben, für
eine Weile aus dem Bewusstsein getilgt und erlaubt es, den anderen
Zuschauern des nationalen Dramas, den Angehörigen der Nationen, die
historisch auf der richtigen Seite standen, mit Offenheit zu
begegnen.
Die so gewonnene Reputation unterscheidet sich von dem sozialen
Kredit, den die Gesellschaft ihren einzelnen Gliedern einräumt, in
einigen wesentlichen Punkten. Zum einen ist sie nicht oder nur in
geringem Maße konvertierbar. Es darf bezweifelt werden, dass die
politische Handlungsfreiheit des Landes durch die Erinnerungskultur
gewinnt. Auch die im Ausland kurrenten Urteile über die Nation
werden durch sie kaum berührt. Der Kredit wirkt praktisch
ausschließlich nach innen: als Selbstkreditierung der teilnehmenden
und damit
nolens volens in das ›Wir‹ der Nation
einstimmenden Einzelnen. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Nation
schwächt und stärkt das teilnehmende Individuum in einem Zug: er
bedient den Mechanismus der Kollektivscham und hilft ihn zu
kontrollieren. Er fällt damit in jene ›unsichtbare Ökonomie‹ der
Seele, die in Hegels früher Bestimmung der bürgerlichen
Gesellschaft als der »Differenz, welche zwischen die Familie und
den Staat tritt« (Rechtsphilosophie § 182), im Moment der
Vorgängigkeit von Familie und Staat vorausgesetzt ist und im
soziologischen Fundamentalismus als ein Produkt von Gesellschaft,
als diskursiv oder kommunikativ erzeugte Illusion personaler
Selbständigkeit erscheint. Wenn in der Gesellschaft, wieder mit
Hegels Worten, »jeder sich Zweck, alles andere ... nichts« ist,
dann stößt man im Bereich des Erinnerns, wie so oft, auf das System
der zwei Realitäten: die Bereitschaft, die jeweilige Stimme gelten
zu lassen und auf sie hören, verlangt eine weitgehende
Unempfindlichkeit dessen, der da spricht, gegenüber den
Möglichkeiten, Vorteil aus dem, was persönlich erlitten und
durchkämpft wurde, zu ziehen und zu beanspruchen, während der
herrschende Verdacht das Gegenteil unterstellt. Was beim Konsum
sogenannter Kulturgüter evident ist, die Diskrepanz zwischen dem
sozialen Motiv und der Rhetorik des Vorzeigens, wirkt dort, wo die
Integrität der Nation ›gehandelt‹ wird, blamabel.
Dieses ›unbezweifelbare Vorhandensein‹ von etwas, das, wie die
gestrandete Nation, nur als Durchgestrichenes gedacht (und
akzeptiert) werden darf, lässt an die eigenartige Interpretation
von Moderne denken, die während des Zeitraums, den die
Erinnerungskultur bestreicht, in einer anderen begrifflichen Region
prominent wurde: der hartnäckig erhobenen Forderung, ›die
Gesellschaft‹ müsse sich zur in allen Lebensbereichen dominanten,
aber als ›unvollendet‹ zu denkenden Moderne
bekennen – so
als gelte es, einen Eid auf die Verfassung der gegenwärtigen, sich
erst in naher Zukunft ganz entbergenden Welt abzulegen –,
entspricht im immer regen Streit der Fakultäten der Anspruch der
Soziologie, als Leitwissenschaft die Begriffe der
›Nachbardisziplinen‹ zu dominieren und zu disziplinieren. Der
politische Begriff der Nation, rituell entzaubert durch
Ideologiekritik und soziale Analyse, und seine durch den Gang der
geschichtlichen Ereignisse desavouierten frenetischen
Interpretationen zwischen Sarajewo und Srebrenica artikulieren
einen Willen zur Moderne, der dort, wo er nach 1989 noch auftritt,
einigermaßen mühelos als Wille, den Anschluss zu verlieren,
gedeutet werden kann. Die
broken nations – mitsamt dem
geheimen Grauen, das sie ihren Nachbarn eingeben – teilen in einer
breiteren Perspektive das Schicksal der
broken
civilizations, der durch den von europäischen Kolonisatoren
erzwungenen Eintritt in die moderne Welt entgleisten Kulturen,
durch keine jahrzehntelange Entwicklung zum Verschwinden gebracht
zu werden: statt sich restlos in ›Gesellschaft‹ zu verwandeln,
erinnern sie unverwandt an die katastrophische Geschichte und die
fortdauernden Kosten der Modernisierung. Polemisch gesprochen ist
Kulturwissenschaft die Wissenschaft der Defizite von Gesellschaft
und dem notwendigen Verfehlen ihrer Ziele.
14. Die ›reine‹ Beziehung und der
Kinderwunsch
Untersucht man die im Beziehungsmodell
sozial realisierte
Trennung von Sexualität und Reproduktion, dann kommt man zu dem
Ergebnis, dass die rigorose Durchstreichung des ›zweifellos
gegebenen‹, aber durch den Einsatz mechanischer und chemischer
Mittel unbegrenzt manipulierbaren biologischen Zusammenhangs den
kulturell zweifellos ebenso ›gegebenen‹ Zusammenhang überblendet,
in dem der Kinderwunsch als Summe aller auf ein individuelles
Optimum ausgerichteten Steuerimpulse fungiert. Es ist nicht ganz
richtig – oder doch nur in einem rein statistischen Sinn –, zu
sagen, der Kinderwunsch habe sich mit dem Abschied vom
›traditionellen‹ Familienmodell ›reduziert‹ oder sei ›generell
zurückgegangen‹. Angemessener wäre es wohl, zu sagen, er werde
durch das Beziehungsmodell stipuliert oder dauerhaft
aufgeschoben: jedenfalls entspricht dem eine in allen
Befragungen wiederkehrende Auskunft der Frauen, während Männer
häufig rigorosere Sprachregelungen bevorzugen. Seltsamerweise dient
die Auskunft der Beruhigung der Gesellschaft – nach dem Motto
›aufgeschoben ist nicht aufgehoben‹ –, während die Daten eine etwas
andere Sprache sprechen. Offenkundig besitzt der projektierte
Aufschub eine rationale, durch Ausbildung und berufliche
Orientierung der Frauen gegebene und allseits gewollte Seite. Aber
ebenso offenkundig besitzt er eine andere, von den Akteuren nicht
durchschaute und nicht gewollte Seite, auf der ›es‹ ihnen passiert
- das Verfehlen des Kinderwunsches –, so wie es ihnen vor der
Perfektionierung der Verhütungstechnik nach der anderen Richtung
passierte – gemäß der dröhnenden Nachkriegsweisheit: Kinder kriegen
die Leute von alleine. Der wahlweise auf die menschliche Natur oder
eine psychische Disposition zurückgeführte Kinderwunsch ist von
vornherein in Bedrängnis: die kompakte Rationalität der
gesellschaftlich geforderten Entscheidung steht gegen die berufene,
aber sprachlose und durchsetzungsschwache Natur, das aufgeklärte
Interesse am internen Verrechnungssystem der Psyche gegen die naive
Verwirklichungsabsicht in Bezug auf den ›gefassten‹ und sich
geschmeidig anderen Fassungen des Begehrens anpassenden Wunsch.
Dass eine so einflussstarke Institution wie die Katholische Kirche
der angeblich bedrohten Natur auf die bekannte Weise beispringt,
ist eher geeignet, die Opposition zu verschärfen statt aufzulösen,
weil sie das naturalistische Scheinargument indirekt zementiert:
Feindschaft, vor allem eine so gediegene wie die zwischen
Naturalismus und Supranaturalismus, verbindet. Der Aufschub lässt
sich insofern als eine respektable Weise begreifen, mit einem
Dilemma umzugehen, dessen Auflösung unumgänglich, aber mit
gegenwärtigen Mitteln nicht erreichbar erscheint.
Wenn das Beziehungsmodell die Gleichwertigkeit der privaten
Lebensformen und die Freiheit des Einzelnen in Wahl und Gestaltung
seiner Lebensverhältnisse sichert, wenn daher aus rechtlichen und
sozialen Gründen keine Alternativen zu ihm in Sicht sind, es also
nur darum gehen kann, seine Lebbarkeit auf Dauer zu stellen, dann
bleibt keine andere Wahl als die, überall dort, wo die Reproduktion
der Bevölkerung stockt, die Entgleisung in der besonderen Art und
Weise zu suchen, wie es gelebt wird. Ein erster Schritt auf diesem
Weg besteht darin, die durchgehende Tendenz zur Kinderlosigkeit und
zur Ein-Kind-Beziehung nicht länger dem irreführenden
Deutungsschema des ›verminderten Kinderwunsches‹ zu unterwerfen.
Vielmehr hat man es, solange man sich auf der Ebene des Wunsches
bewegt, mit unterschiedlichen, tendenziell entgegengesetzten
Impulsen zu tun. Wer sich kein Kind wünscht, wird schwerlich in der
Ein-Kind-Beziehung die Realisierung dieses Wunsches erblicken, wer
sich eines wünscht, dürfte die Kinderlosigkeit nicht als Erfüllung
empfinden. Vorgängig ist im kinderlosen Fall der idealiter
beiderseitige Wunsch, die Beziehung frei vom Druck irreversibler
und materiell folgenreicher Entscheidungen zu halten, im
Ein-Kind-Fall der Wunsch einer – in der Regel der weiblichen -
Seite, den reversiblen Charakter der Beziehung mit dem erfüllten
Kinderwunsch zu vereinbaren. Beide Male richtet sich die
Entscheidung implizit gegen das Kind: das eine Mal gegen seine
Existenz, das andere Mal gegen seine als bekannt vorausgesetzten
Bedürfnisse. In keinem Fall wird ein spezifischer Kinderwunsch
erkennbar, der
gelebt würde; stattdessen dominiert die
Absicht, die Beziehung rein zu halten von Deutungen und
Abhängigkeiten, die durch das traditionelle Bedeutungsfeld
›Familie‹ aufgerufen werden. Selbstverständlich sind auch immer
andere Hintergründe (medizinische, berufliche, finanzielle,
ethische etc.) berufbar, doch bleiben sie für die Tendenz, um die
es hier geht, bedeutungslos. Sub specie der biologischen
Reproduktion entgleist die Beziehung am ehesten dort, wo sie am
entschiedensten gegen vorgängige Formen des Beisammenseins
abgegrenzt wird, wo sie als Alternative zum Herkommen, das durch
das elterliche Lebensmodell oder durch Hörensagen diskreditiert
erscheint, stilisiert und ›absolut‹ gesetzt wird. Der Umkehrschluss
lautet, dass sie dort am erfolgreichsten praktiziert werden kann,
wo sie gegenüber den herkömmlichen Erfahrungen und Praktiken offen
bleibt, wo sie als Modifikation oder Modulation der familiären
Melodie den Sinn für das, was möglich und an der Zeit ist,
weiterträgt. Ob das geschieht, ist weniger eine Frage
weltanschaulich motivierter Lebensentscheidungen als praktischer
Lebensklugheit, gepaart mit Fairness und einer gehörigen Portion
Gleichmut gegenüber den medialen Zumutungen der Lebenswelt.
Gesellschaften, die als ganze an dieser Stelle eine gewisse
Unfähigkeit verraten, müssen sich den Verdacht gefallen lassen,
wirksame Blockaden zu unterhalten, die über bloß persönliche
Abneigungen und Vorlieben hinaus die privaten Lebensstile
beeinflussen. Es versteht sich von selbst, dass jede Theorie, die
sich diesen Bereichen nähert, auf von Mutmaßungen umrankte
Vorschläge angewiesen bleibt. Auf einer etwas allgemeineren Ebene
mag das anders aussehen.
Die kulturelle Matrix hält einige Beschreibungsmuster bereit, die,
jedes für sich und alle gemeinsam, helfen können, die zugespitzte
Interpretation einer so allgemein gefassten Tendenz, die
persönlichen Dinge zu ordnen, durch die bestimmte Gesellschaft zu
verstehen. Der von Jörg Büsching referierte
wirtschaftsanthropologische Vorschlag (Emmanuel Todd), die
Differenz von ›Kern‹- und ›Stammfamilie‹ mit ihren
unterschiedlichen Erbpräferenzen für den unterschiedlichen ›Erfolg‹
einzelner Länder im ökonomischen System des Westens und, in
umgekehrter Relation, für Erfolg und Misserfolg im Bereich der
biologischen Reproduktion verantwortlich zu machen, hat mit dem
hier vorgetragenen das Konzept der ›unsichtbaren Familie‹ gemein.
Paradoxerweise enthält er selbst die Kulturrevolution der sechziger
Jahre mitsamt dem folgenden Übergang von hohen zu niedrigen
Geburtenraten als unsichtbare Größe: offenbar verträgt sich die mit
dem Typus der Stammfamilie verbundene Weise des Wirtschaftens
sowohl mit hohen wie mit niedrigen Reproduktionsraten. Es muss also
etwas hinzukommen, etwa die oft kommentierte Neigung der Deutschen,
abstrakte Konzepte – wie das der Beziehung – ›eins zu eins‹
umzusetzen, die allerdings als klassisches Element der
Selbstbeschreibung den Nachteil hat, jeweils nur die Mitmenschen zu
meinen und die eigene Lebensweise auszusparen. Ähnliches gilt für
den angeblichen Hang zur negativen Selbstbeschreibung und zu
Weltbeglückungsphantasien, in denen der Pferdefuß steckt – während
die Beispiele ins Uferlose führen, beschränkt sich der Ertrag auf
die allgemeine Feststellung:
Da ist was dran. Handfester
erscheint demgegenüber das Argument, das unvorhergesehene Altern
der vorhergehenden Generation und das damit einhergehende
lebenslängliche Nebeneinanderherleben im Modus der Ablehnung und
des Widerspruchs habe den Spielraum der Lebensentscheidungen auf
familiärem Feld für signifikante Bevölkerungsgruppen empfindlich
eingeschnürt.
15. Lesarten der Abtreibungspraxis
Als eine halbwegs fassbare Größe im Spiel der gesellschaftlichen
Wertungen kann die Abtreibungsstatistik gelten. 2005 wurden in
Deutschland 124 023 Abtreibungen vorgenommen – eine angesichts der
Gesamtheit der Geburten und der in den Zahlenspielen des
Statistischen Bundesamtes gehandelten Zuwanderungsquoten
verblüffend hohe, wenngleich in den letzten Jahren leicht gesunkene
Zahl. Vergleicht man die Zahlen der aus medizinischen (3 177),
kriminologischen (21) und anderen Gründen (120 825) vorgenommenen
Schwangerschaftsabbrüche angesichts nahezu perfekter
Verhütungsmethoden, dann darf die Abtreibungspraxis mit aller
Vorsicht als ›objektiver‹ Indikator einer frenetischen
Interpretation der in der Gesellschaft vorherrschenden
Beziehungsformen gewertet werden. Im europäischen Vergleich wirken
die deutsche Abtreibungsquote von 7,6 (Frankreich 16,2;
Großbritannien 16,6; Russland 54,2; Schweiz 6,8) und das Verhältnis
von Abtreibungen zu Geburten ›moderat‹. Der Aussagewert solcher
flächendeckenden Angaben ist gering, solange regionale, soziale und
›kulturelle‹ Differenzen innerhalb der Bevölkerungen und zwischen
den unterschiedlichen Landesteilen nicht berücksichtigt werden.
Doch fällt auf, dass in Europa, anders als in den USA, das Gros der
Abtreibungen in den mittleren Jahrgängen vorgenommen wird, das
persönliche
Recht auf Schwangerschaftsabbruch also vor der
Notlage rangiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Verhältnis von
Geburtenrate und Abbrüchen ein anderes Aussehen: wer innerhalb der
Null- oder Ein-Kind-Option abtreibt, verhält sich signifikant
anders als jemand, bei dem die Begrenzung der Kinderzahl oder
eugenische Gründe im Vordergrund stehen. Der Trend zur
Abtreibung ohne Kinder bleibt unverständlich ohne die
Annahme eines ›double-bind‹, in dem der persönliche Wille, ein Kind
zu besitzen, von nicht oder nur schwer kontrollierbaren Faktoren
durchkreuzt und schließlich unterbunden wird – ein Phänomen, nicht
unähnlich dem Verhalten von Selbstmördern, die ›nur‹ die
Aufmerksamkeit ihrer Umgebung erregen möchten und keinen
Widerspruch darin sehen, sich gegen die reale Mordabsicht eines
anderen mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen.
Das ist eine schwerwiegende Annahme. Sie impliziert, dass die
gesellschaftliche Lesart, die in dem genannten Verhalten eine Folge
der Emanzipation erkennen möchte, durch eine ersetzt werden muss,
in der die ›unemanzipierte‹ Befangenheit in gleichermaßen als
lebensfeindlich empfundenen Schematismen obenansteht. Das wäre
nichts Besonderes, bedenkt man die quengelige Larmoyanz in
kurrenten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Dem zum Abbruch
führenden double-bind entspräche eine unemanzipierte
Emanzipiertheit, die sich auch in anderen Bereichen
gesellschaftlichen Handelns – und keineswegs nur im weiblichen
Spektrum – finden lässt. Die Interpretation des Abtreibungsrechts
als
mein Recht, das
mir die Verpflichtung auf ein
bestimmtes Modell des Zusammenlebens auferlegt, weil ich sonst auf
das mir zustehende Recht verzichten und einer unemanzipierten
Version meiner Existenz den Vorzug geben würde, enthält eine starke
Deutung des Rechts und speziell der Abtreibungsgesetzgebung.
Offenkundig ist der Tatbestand ›Schwangerschaft‹ ausreichend, um
bei einer statistisch erheblichen Anzahl von Personen eine
Handlungskette in Gang zu setzen, in der reale Tötungen sich in
symbolische Handlungen verwandeln, deren Zweck in der Teilhabe an
einem bestimmten Lebensstil, also letztlich darin liegt,
dazuzugehören. In gewisser Weise bringt die Beratungsklausel
mit dem ihr immanenten Misstrauen gegen die Motive von
Abtreibungswilligen, die durch die Fristenregelung angelockt
werden, diese Deutung der Abtreibungspraxis offen zum Ausdruck -
kein Wunder, dass sie bei Personen, die sich über die Validität
ihrer Motive im Klaren sind, ebenso auf Ablehnung stößt wie bei
solchen, die sie bewusst oder unbewusst verschleiern. Die
Beratungsregelung formuliert das zum Gesetz erhobene und durch die
gesellschaftliche Praxis erhärtete Misstrauen des Staates gegen die
Fähigkeit seiner Bürger, von den Bestimmungen des Abtreibungsrechts
adäquaten, soll heißen der freien Erwägung der zu bedenkenden
Umstände Raum gebenden Gebrauch zu machen.
Die Abtreibungspraxis ist geeignet, das Dunkel um die im
Kinderverzicht wirksamen Momente ein Stückweit zu erhellen, weil
sie, anders als die Empfängnisverhütung, eine gewaltsame und als
außerordentlich schwerwiegend empfundene Weise darstellt, die
Teilnahme am gesellschaftlichen Spiel durch physische Manipulation
sicherzustellen. Sie ist nicht allein Gegenstand von
Interpretationen, sondern selbst eine Interpretation von
Gesellschaft – eine, die das im Beziehungsleben gegebene
Rollenspiel wichtig genug nimmt, um andere personkonstitutive
Faktoren, darunter die ethische Frage nach dem Sinn und der
Rechtfertigung des Tötens, in nachgeordnete,
sub specie der
primären Entscheidungen zu behandelnde Elemente zu verwandeln.
Innerhalb dieser in wiederkehrenden Handlungsmustern manifest
werdenden Interpretation fungiert der ›eigene Körper‹ als Einsatz,
ähnlich wie das Militär es vom Leben seiner Soldaten erwartet. Im
gleichen Sinn ist auch die ›ritualisierte‹, gerichtsnotorische
Trennungspraxis, in der vorhandene Kinder als Waffe im
Geschlechterkampf eingesetzt werden, Interpretation, die zeigt,
dass real eingegangene und durch keine einfache Manipulation
zurücknehmbare Verpflichtungen tendenziell keine Präferenzumkehr
bewirken. Wie weit die unter Alleinerziehenden verbreitete Praxis,
Kinder langfristig an den eigenen Haushalt zu binden und mit ihnen
Ersatzpartnerschaften einzugehen, demselben Modell entspringen oder
zu den untauglichen Mitteln gerechnet werden müssen, es zu
korrigieren, kann wohl nur von Fall zu Fall entschieden
werden.
16. Erinnerungskultur und
Geschlechterkampf
Die Deutung des Rechts als Waffe im emanzipatorischen Kampf und
ihre rituelle Verfestigung im Zuge der Durchsetzung des
Beziehungsmodells stellt letzteres als institutionalisierte
Interpretation des Geschlechterkampfs neben die Erinnerungskultur
als institutionalisierte Interpretation des Kampfs der
Generationen. Als ›lange‹ historische Ereignislinien produzieren
Geschlechter- und Generationenkampf Auseinandersetzungen geringer
Intensität, deren reale und nicht immer erbauliche Folgen von der
Privatsphäre abgefedert werden. Dem Individuum steht es frei, sich
zu verhalten: ob es sich kopfüber in die anstehenden Kämpfe stürzt
oder die Freiheit eines aus persönlicher Wahl hervorgehenden
zivilen Umgangs bevorzugt, wird ihm von keiner Instanz zwingend
vorgeschrieben. Die im Medium der Interpretation verfestigten
Kulturen des öffentlichen und privaten Miteinander lassen beide
Möglichkeiten zu. Es bedarf des unsichtbaren Dritten, um den Stil
der Auseinandersetzungen zu verschärfen und die kämpferische
Interpretation des Generationen- und Geschlechterverhältnisses im
Alltag überwiegen zu lassen. Die seit den sechziger Jahren
schwelende, in die Altenheime und Sterbezimmer hinein verlängerte
Friedlosigkeit zwischen den dominanten Generationen der
›Verlierernation‹ ist ein hinreichend aussichtsreicher Kandidat für
diese Figur des unsichtbaren Dritten, um genauer in Augenschein
genommen zu werden.
Anders als die Erinnerungskultur, die aus dem Generationenkonflikt
hervorgegangen ist und ihn, wie immer verstellt, nachdrücklich
genug thematisiert hat, um partielle Friedensschlüsse und jenen
historischen Kompromiss zu ermöglichen, in dem – fast – alle
Erinnerungen zugelassen sind, sofern sie das Reputationssystem
stützen, ist das Beziehungsmodell per se gedächtnislos und lenkt
die Energien der in ihm verbundenen – und durch es separierten -
Personen in demonstrativen Akten gegeneinander. Ein populärer
Ausdruck wie ›Mehrgenerationenhölle‹ für den durch die familiäre
Herkunft gegebenen und durch keine Handlungen oder
Willenserklärungen aufzulösenden Generationenverbund kann als mehr
oder weniger drastischer Ausdruck dafür durchgehen, dass der
Abschied vom ›Familienmodell‹ des Zusammenlebens im
Beziehungsmodell auf Dauer gestellt ist, weil die Alternative nur
im Imaginarium der Interpretation existiert. Historisch gesehen
bestreichen die signifikant niedrigen Geburtenraten die aktive
Lebenszeit weniger, mit Krieg und Nachkrieg aus kindlicher
Perspektive vertrauter Jahrgänge und der nach dem Krieg geborenen,
die kulturelle Revolution der Sechziger vor den heimischen
Fernsehern und in den Klassenzimmern nachspielenden Generation, für
die die
Niederlage, das Schibboleth in den
Auseinandersetzungen der Achtundsechziger mit der Vätergeneration,
bereits keine greifbare Realität mehr besaß. Dem blinden Ausagieren
eines unbegriffenen, aber in beträchtlicher Härte inszenierten
Generationenkonflikts bot und bietet das kämpferisch gegen die
familiäre Herkunft gesetzte Beziehungsmodell eine optimale
Plattform. Seine sukzessive Verrechtlichung darf mit einiger
Berechtigung als Bereitstellung des Terrains gelten, auf dem diese
politisch eher parasitäre Generation ihre zentralen Lebensentwürfe
erfand und konfliktreich ausagierte.
Und es geht weiter: fragt man sich, was öffentliche
Erinnerungskultur und private Beziehungskultur miteinander
verbindet, so sieht man sich auf Lücken der Erinnerungskultur
verwiesen, von denen man einige erst im letzten Jahrzehnt zu
schließen begonnen hat. Einige dieser Lücken – Bombenkrieg, Flucht,
Umsiedlung, Vergewaltigungen etc. – sind nicht zufällig oder auf
Grund eines im Nachhinein unverständlichen Schweigens der Zeugen,
sondern aus ethisch-funktionalen Gründen in den sechziger Jahren
entstanden. Sie sparen aber, lange Zeit unbeachtet, just den -
vornehmlich weiblichen – Erinnerungsraum aus, in dem sich viele
Gründe für die Feinjustierung der Geschlechterbeziehung in der
Elterngeneration hätten finden lassen. An Ingeborg Bachmanns 1971
erschienenem Roman
Malina ließ sich früh ablesen, welche
Wirkung der gleichsam erschreckte Blick durch die Finger auf Krieg
und Nachkrieg selbst dann entfalten kann, wenn er nur wenig
geschichtliches Wissen transportiert. Das dem Entsetzen über die im
Imaginationsraum abrufbaren väterlichen Grausamkeiten und das
aus dem familiären Schweigen sich lösende Gorgonenhaupt des
absoluten Verbrechens geschuldete, gleichwohl interessegeleitete
und inszenierte Von-Anderem-Reden im öffentlichen Raum ist in der
vieles falsch oder missverständlich interpretierenden
Sprachlosigkeit im
privaten Raum mit enthalten. Die
durchgestrichene Wahrnehmung der elterlichen Existenz, diese in
vielen Bereichen wiederkehrende Figur, bestimmt die
Eigenwahrnehmung und die Solidaritäten. Mit ihrem nach familiären
Maßstäben leeren und gerade darin einer Utopie des gemeinsamen
Lebens verpflichteten Beziehungsleben zahlen die Deutschen der
›zweiten Generation‹ für den Nachkriegsaufstieg, der nicht ihr Werk
ist, und
das Geschehene, das, dank verbesserter
medizinischer und finanzieller Versorgung der Älteren, in ihrem
lebenslänglichen Unfrieden mit sich selbst erstarrte Präsenz
besitzt.
17. Vom Danachkommen
Nach 1989 geriet die Erinnerungskultur von zwei Seiten unter Druck.
Das doppelte Erbe der DDR und das historische Deutungsbegehren, das
aus den Biographien der nach 1989 aus den Ländern Osteuropas und
der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten Deutschen sprach, mündeten
in eine verdeckte Konfrontation der Interpretationen, die sich in
der Alltagssprache einen festen Platz erobert hat und in
Entgleisungen der Politik wie der Ausweisung von ›no-go-areas‹ für
Ausländer nach irakischem Vorbild in den neuen Bundesländern für
Befremden sorgt. Angesichts der legitimierenden Funktion der
Erinnerungskultur für das Gemeinwesen sind das ernste Prozesse, in
deren Verlauf einerseits der Richtungssinn, andererseits die
integrative Kraft der Institution ins Gerede gekommen ist. Negativ
gesprochen hieße das: die neue Erinnerungskultur präsentiert sich
gleichermaßen richtungslos und autoritär im Zulassen und Verwerfen
von Erinnerungen. Ob man darin neue legitimierende Kämpfe oder die
Anfänge eines unaufhaltsamen Delegitimisierungsprozesses sieht, an
dessen Ende die notgedrungene Restituierung der Nation steht, ist
gegenwärtig eine Frage der politischen Optik.
Der rasch zunehmende Anteil von Personen mit fremd- oder
gemischtkulturellem Hintergrund an der Gesamtbevölkerung wirft
weitergehende Fragen auf. Das
nationale Erinnerungsmodell
macht dieser Personenguppe kein besonders attraktives
Identifikations- und Integrationsangebot. Das ist, aufs
gesellschaftliche Ganze gesehen, vielleicht nicht besonders
wichtig, solange Migration vor allem als Fluktuation (mit
Anpassungen an die konjunkturelle Arbeitsmarktsituation) oder als
Elendsmigration verstanden wird: in beiden Fällen steht das
gefestigte Selbstverständnis des reichen Landes im Zentrum, das den
›Fremden‹ seine Arbeitsplätze und sozialen Sicherungssysteme zur
partiellen Nutzung überlässt und ihnen freistellt, ob sie sich
integrieren möchten oder nicht. Die Überprüfung des Schulsystems
hat gezeigt, dass diese Deutung bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt
beträchtliche Wahrnehmungslücken enthält. Und die vom
amerikanischen
Kampf gegen den Terror produzierten
Schlagzeilen haben dem Begriff des ›inneren Friedens‹ eine
religiös-kulturelle Note wiedergegeben, die Historikern vertraut
ist, eine laizistische Politik aber gern dauerhaft von ihm
ferngehalten hätte. Vor allem belehrt die prognostizierte
Bevölkerungsentwicklung darüber, dass diese saturierte Sicht der
Dinge obsolet ist.
Einer gängigen Auffassung nach wäre es ›jetzt‹
an der Zeit,
von Fluktuation auf Integration ›umzuschalten‹. Was daran politisch
machbar ist, sollte die Wahrnehmung limitierender Faktoren und die
Reflexion auf kulturelle Gegebenheiten, die dem Machen leicht eine
andere als die vorgedachte Richtung geben, nicht beeinträchtigen.
Wenn Integration zu den Aufgaben eines jeden Gemeinwesens zählt,
die es unter anderem durch Statuszuweisungen (darunter die des
Gastes, Flüchtlings etc.) löst – oder zu lösen versucht –, dann
scheint diese Rede wenig ergiebig zu sein, wenn es darum geht, die
besondere Problemlage eines Landes zu beschreiben, das sich aus
Mangel an Nachkommenschaft am Weltmarkt für Migrationswillige zu
bedienen wünscht. Ein Stück näher kommt man ihr, wenn man zwei
limitierende Faktoren in die Überlegungen einbezieht.
- Es ist keine politische Definitions- oder Willensfrage, ob ein
Land mit nationalstaatlichen Institutionen, zu denen die Organe und
Mechanismen der politischen Willensbildung, das nationale
›Gedächtnis‹, die Selbst- und Fremdwahrnehmung des ›Landes‹ und
seiner Grenzen, die Funktion der Landessprache, der religiöse,
literarische und kulturelle Fundus und schließlich der sich in
einer Fülle kleiner und kleinster Alltagshandlungen und -reden
bezeugende Wille der ›überwältigenden‹ Bevölkerungsmehrheit zählen,
als Einwanderungsland gilt. Soll das Wort nicht als weitgehend
leerer Problemlöser durchgehen, so setzt es einen Mix von
Herkunftsgeschichten seiner Bewohner voraus, in dem das Motiv der
Einwanderung dominiert. Länder wie Deutschland sind Zuzugs-, nicht
Einwanderungsländer: im Geschichtenmix ihrer Bewohner überwiegt das
- regional, genealogisch oder kulturell interpretierte -
sesshafte Motiv, das durch Sondergeschichten mit
eigenkulturellem Hintergrund ergänzt und angereichert wird.
Insofern nimmt es nicht Wunder, dass Journalisten auf Wörter wie
›Völkerwanderung‹ und ›Landnahme‹ verfallen, wenn sie die kommenden
Umwälzungen bildhaft zu benennen versuchen – Vokabeln, die im
europäischen Kontext Auflösungs- und Untergangsphantasien, aber
keine realistischen Optionen bezeichnen.
- ›Einwanderung‹ ist unter den heute herrschenden kommunikations-
und verkehrstechnischen Bedingungen ein in staatsmännischer Absicht
gepflegter Euphemismus. Der Vorgang, für den das Wort steht, ist
charakterisiert durch räumliche und zeitliche Trennung,
Irreversibilität, partielle oder totale Kommunikationsabbrüche,
soziale und kulturelle Entfremdung und – im Fall des Gelingens -
erneute ›Akkulturation‹. Diese Faktoren sind zwar nicht vollständig
aus dem Migrationsfeld verschwunden, aber ihr Wandel hat das
spezifische Gewicht des Vorgangs so weit verändert, dass es erlaubt
ist zu sagen: tendenziell findet Einwanderung, jedenfalls in den
entwickelten Ländern, nicht mehr statt. Die zeit- und raumlose
globale Kommunikation, die massenmediale Präsenz der Herkunfts- in
den Aufnahmeländern, die Entwicklung des Flugzeugs zum
planetarischen Massentransportmittel und der sozioökomische Wandel,
der eine weitgehend berührungsfreie Koexistenz mit der
›einheimischen‹ Bevölkerung über Generationen hinweg erlaubt,
lassen das Gemeinte – und Erhoffte – zu wenig mehr als einer
historischen Reminiszenz schrumpfen.
Mit der gegründeten Aussicht darauf, dass die Bevölkerungsanteile
in den Aufnahmeländern sich durch Zuzüge signifikant verschieben,
bis hier und da Mehrheiten sich in Minderheiten verkehren,
verwandelt sich das Bevölkerungsproblem in ein Definitionsproblem
der besonderen Art: wer die Macht besitzt, den zu erhaltenden
Kernbestand des Ausgangssystems zu definieren, entscheidet indirekt
darüber, welches Volk man ein paar Jahrzehnte später in den
jeweiligen Landesgrenzen antreffen wird. Das existierende Volk,
sofern es in diesem Prozess eher kommentierend in Erscheinung
tritt, reagiert gespalten: einerseits ist ihm elementar an der
Aufrechterhaltung der Prosperität gelegen, die es für einen
Ausfluss des gegenwärtigen Systems hält, andererseits möchte es
seine Position im zu erwartenden Verteilungspotpourri gewahrt
wissen, gleichgültig ob es um sozialen Status, Straßenbilder,
Wohngewohnheiten oder den informellen Zusammenhalt der Gesellschaft
geht. Nüchtern formuliert: es wird zum Befürworter von
Zuwanderungen, die es ablehnt, sobald sie mit realen Verschiebungen
im Lebensstil und in den Machtverhältnissen einhergehen.
Das Dilemma schmeckt ein wenig nach Brechts bekanntem Ratschlag an
die Regierenden: »Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung
/ Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?« Immerhin erscheint
er unter den gegebenen Bedingungen im Kern realistischer als der
Versuch, Ausländer über das Erinnerungsparadigma in die
Gesellschaft zu integrieren, indem man ihnen den potentiellen
Opferstatus vor dem Hintergrund der Aktivitäten neonazistischer
Schlägertrupps anbietet. Die Europäisierung der Erinnerungskultur,
darunter ihre Anreicherung um den Kolonialdiskurs, die die
Relationen von Erinnern und Erforschen, Vergessen und Gedenken neu
sortiert, stellt Integrationsmuster bereit, deren Annahme bereits
die Ablehnung inhärent ist. In den Ländern der ehemaligen
Kolonialherren füttert die kritische Konservierung der
rassistischen Topoi das bekannte System, ein bereits vorhandenes,
angesichts seiner abweichenden Geburtenraten argwöhnisch beäugtes
Bevölkerungspotential mit individuellen Aufstiegschancen
auszustatten und zugleich am unteren Ende der sozialen Skala zu
fixieren. Europa wird die Probleme der Deutschen nicht lösen, es
wird aber erwarten, dass die Deutschen sie lösen, statt es ein
weiteres Mal in die drohenden Schatten der
incertitudes
allemandes zu tauchen. Den Deutschen wäre eine etwas freiere
Sicht darauf zu gönnen, dass keine alternativlos fordernde Moderne,
eher schon das unvollendete Verständnis einer als Zukunft
maskierten Vergangenheit für gewisse generationsspezifische, aber
mit der Tendenz zur Fortschreibung behaftete Blockaden
verantwortlich ist. Die vergleichbare Lage von Ländern wie Italien,
Japan, Südkorea oder Russland erscheint in dieser Perspektive als
vergleichbar spezifische, die ein analoges, die jeweils gültige
historisch-kulturelle Konstellation zu Rate ziehendes Verstehen der
wirksamen Parameter verlangt.