Giorgio Agamben
Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2006
Homo Sacer. Die Souveränität
der Macht und das nackte Leben,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2002
Was von Auschwitz bleibt.
Das Archiv und der Zeuge,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003
Das Offene, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003
Die kommende Gemeinschaft, Berlin (Merve) 2003
Ausnahmezustand, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2004

Coverversion. Giorgio Agamben und die Seinen

Manche zogen sich plötzlich komplett aus und saßen nackt da, ohne auf irgendwas zu reagieren.
Hier spricht Guantánamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge

Die fundamentale Zäsur, die den biopolitischen Bereich teilt, ist die zwischen Volk und Bevölkerung.
Giorgio Agamben

1.

»Bestimmt erinnern Sie sich an das Bild vom buckligen Zwerg aus der ersten von Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte: Dieser Zwerg sitzt versteckt unter dem Schachbrett und verhilft mit seinen Gegenzügen der mechanischen Puppe in türkischer Tracht zum Sieg. Benjamin gewinnt dieses Bild aus einer Erzählung Poes. Bei seiner Übertragung auf geschichtsphilosophisches Terrain fügt er aber hinzu, dass jener Zwerg in der Wirklichkeit die Theologie ist, ›die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht blicken lassen darf‹. Wenn der historische Materialismus die Theologie in seinen Dienst nehme, dann könne er das historische Spiel gegen seinen furchteinflößenden Gegner gewinnen.«
Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt

2.

Agamben fährt fort: »Auf diese Weise legt uns Benjamin nahe, den Text der Thesen selbst als ein Schachbrett zu betrachten, auf dem sich eine entscheidende theoretische Schlacht abspielt. Diese Schlacht, so muss man in diesem Fall vermuten, wird mit der Hilfe eines Theologen geführt, der zwischen den Zeilen versteckt ist. Wer ist dieser bucklige Theologe, den der Autor so gut in seinem Text versteckt hat, dass er bislang unerkannt geblieben ist?« Nun, es ist der heilige Paulus, wie wir im Fortgang der Untersuchung erfahren. Was als Seminar-Exegese des incipit des Römerbriefs beginnt, endet als Traktat über die zeitgemäße Form des Messianismus vor dem Hintergrund seiner beiden, wie der Verfasser darlegt, bedeutendsten Zeugnisse: des Römerbriefs und der Thesen Benjamins.

3.

»Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, dass er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die  Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (I)

4.

Poe, der über Maelzels Schachautomaten 1836 im Southern Literary Journal berichtete, listet genüsslich die Argumente auf, die seiner Ansicht nach gegen die Annahme eines reinen Automaten, also für die Annahme eines die Bewegungen des Automaten lenkenden Schachspielers sprechen, der den Augen des Publikums verborgen bleibt. Dazu zählt er den Umstand, dass der Automat nicht jedes Spiel gewinnt: »A little consideration will convince any one that the difficulty of making a machine beat all games, is not in the least degree greater, as regards the principle of the operations necessary, than that of making it beat a single game.« Der menschliche Schachspieler kann geschlagen werden, der mechanische Spieler lässt sich, falls überhaupt, so konstruieren, dass er jede Partie gewinnt. Mit dieser Korrektur liest man Benjamins Eröffnungssatz ein wenig anders. Dabei bleibt es gleichgültig, ob Benjamin Poes Text tatsächlich gekannt hat. Poe irrte, wenngleich nicht sehr, wie moderne Schachprogramme den Betrachter lehren. Das Programm, das die Unbedachtheit des menschlichen Schachspielers eliminiert, eliminiert damit eine vorrangige Quelle möglicher Niederlagen. Mit der ausgesprochenen Erwartung, jedes Spiel zu gewinnen, verwandelt Benjamin – worauf Poes Überlegung aufmerksam macht – den buckligen Zwerg, i. e. die Theologie, in einen Automaten. Wenn der historische Materialismus der sichtbare Automat ist, dann ist die Theologie, die unsichtbar seine Bewegungen lenkt, der Automat im Automaten.

5.

Das Bild wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass Benjamin beide, den historischen Materialismus wie seinen unsichtbaren Helfer, im philosophischen Feld postiert: hier soll die Puppe ›historischer Materialismus‹ gewinnen – um jeden Preis, wie es scheint, selbst den der Täuschung, rechnet man das versteckte theologische Argumentationsmuster darunter. Die Frage, welche ›entscheidende theoretische Schlacht‹ hier geschlagen wird, lässt der Interpret offen. Er reicht sie damit an die Ausgangsfragen des Kommentars zurück, der sich mit Nachdruck an Jacob Taubes' nachgelassene Schrift Die politische Theologie des Paulus anlehnt: »Was bedeutet es, im Messias zu leben, was ist das messianische Leben? Und welche Struktur besitzt die messianische Zeit?«  Die ›Konstellation‹, in der sich Benjamins Text mit dem des Paulus verbindet, bewegt sich um die Gleichung »christós, d.h. ›Messias‹«. Darüber gerät die Argumentation der Thesen ein wenig aus dem Blickfeld. Das Problem, angesichts dessen es für den historischen Materialisten lohnend sein könnte, mit der Theologie zu kooperieren, bezeichnet das Lotze-Zitat am Beginn der zweiten These. Die Unempfindlichkeit der Lebenden gegen die Genüsse einer künftigen Menschheit darf als Einwand gegen eine Geschichtsteleologie verstanden werden, die in der linear gedachten Zukunft den Raum der Verheißung situiert. Diese plakative Eschatologie, die der Kommentar anhand des Paulinischen Textes zurückweist, wird in der Geschichtsphilosophie Hegels – wie zuvor bereits Herders – ›aufgehoben‹ und es ist der dialektische Materialismus, der die in letzterer gezogene Trennlinie erneut überschreitet und zur ›objektiv‹ unterfütterten Naherwartung und einem prophetischen Wissenstypus zurückkehrt. Benjamins Empfehlung der messianischen Denkfigur erscheint vor diesem Hintergrund sowohl taktisch als auch sachlich gerechtfertigt: die »schwache messianische Kraft«, die jedes »Geschlecht« gegenüber den vorausgegangenen hervorkehrt, bezeichnet die motivierende Kraft dessen, was man heute cum grano salis kollektives Gedächtnis nennt: denen, die in Wahrheit leben, fallen die Bilder verflossener Leiden und Kämpfe zu, um ihnen ›im Moment der Gefahr‹ den Sinn, die lange Dauer und die heroischen Momente der eigenen ›Sache‹ vor Augen zu stellen. Was daran Paulinisch genannt werden mag, entstammt – so steht zu vermuten – dem religiösen Motivfundus der vom Historismus – dem anderen Gegner der Thesen – radikal verkürzten Geschichtsphilosophie.

6.

»An dieser Stelle muss ich von meiner Entdeckung sprechen, die ich oben erwähnt habe und die sich auf das Nachleben des Verbs katargeín im philosophischen Kontext bezieht. Mit welchem Ausdruck nämlich übersetzt Luther das Paulinische Verb sowohl in Röm. 3,31 als auch in den meisten anderen Stellen aus den Briefen? Aufheben – d.h. er benutzt das Wort, auf dessen doppelter Bedeutung (»vernichten« und »bewahren«) Hegel seine Dialektik gründet!« Man kann den Stolz des Entdeckers wohl verstehen, auch wenn es mit der doppelten Bedeutung des Wortes nicht weit her ist (allein das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet deren fünfzehn und findet viele davon bei Luther belegt). Das katargeín bezeichnet die Art und Weise, auf welche der Messias das ›Gesetz‹ unwirksam macht: durch »Deaktivierung und Vollendung«. Aufschlussreicher ist jedoch die Pointe, die er der ›Entdeckung‹ abgewinnt: »Dass aber Hegel – nicht ohne Ironie – gegen die Theologie eine Waffe gerichtet hat, die von ihr selbst stammt, und dass diese Waffe eine authentisch messianische war, ist gewiss nicht irrelevant.« Die theologische Geheimwaffe scheint hier ihren ›authentischen‹ Ursprung zu finden. Die Aufhebung des Gesetzes, die Ersetzung des Ausnahmezustandes, »in dem wir leben«, durch den ›wirklichen‹ Ausnahmezustand (Benjamins achte These), dieser Kern von Agambens Messianismus, gewinnt seinen Sinn durch die wohlbekannte Anleitung, die Verhältnisse durch Verschärfung kenntlich zu machen: »Es ist also möglich, dass der katéchon« – der ›Aufhalter‹ in Carl Schmitts Deutung des zweiten Thessalonicherbriefs, die staatliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende der Welt ›zurückhält‹ – »und der ánomos (Paulus spricht nie wie Johannes von einem antíchristos) nicht zwei unterschiedliche Figuren darstellen, sondern eine einzige Macht bezeichnen – einmal vor und einmal nach der letzten Enthüllung. Die profane Macht – das Römische Reich z. B. – ist der Schleier, der die grundlegende Anomie der messianischen Zeit verdeckt.« Möglich, gut möglich, es hat einen guten Sinn, es lässt sich sagen. Auch das, unter Deutern sei es gesagt, ist eine Anspielung. Wer sie kennt, bekommt eine Medaille in Bronze, für Gold muss sich einer schon mehr anstrengen.

7.

Nur – warum? Warum, wenn die gewichtige Miene dessen, der angestrengt Wörter wie Geldbündel schwenkt, um bei der großen Versteigerung mitzubieten, die Konkurrenz bereits ausreichend verwirrt? Zu diesen kostbaren Wörtern, man weiß es, gehört das »nackte Leben«, das, Benjamins ›bloßem Leben‹ verwandt, zu Zeiten, in denen Nacktheit mit Lust identifiziert wird, im Deutschen vielleicht eher als ›bares Leben‹ bezeichnet werden könnte, wäre da nicht das Motiv der Rettung (›mit dem nackten Leben davonkommen‹). Im Paulusbuch ist der Platzhalter des nackten Lebens das Volk, definiert als ›Rest‹. Es erscheint angebracht, die einschlägige Stelle so zu zitieren, wie man ein Rezept zitiert: als Anweisung, die immer wieder gelesen zu werden verlangt, bis das Gericht – so oder so – ›vollendet‹ ist. »Wenn ich ein unmittelbar aktuelles politisches Vermächtnis in den Briefen des Paulus angeben müsste, so glaube ich, dass sein Konzept des Rests nicht fehlen dürfte. Es erlaubt im besonderen, unsere antiquierten und vielleicht unverzichtbaren Begriffe von Volk und Demokratie aus einer neuen Perspektive heraus zu überdenken. Das Volk ist weder das Ganze noch der Teil, weder die Mehrheit noch die Minderheit. Es ist vielmehr etwas, das nie mit sich identisch sein kann, weder als Ganzes noch als Teil, das, was unendlich bleibt oder das jeder Teilung widersteht und das – im Frieden mit jenen, die uns regieren – nie auf eine Mehrheit oder eine Minderheit reduziert werden kann. Und dieser Rest ist die Figur oder die Konsistenz, die das Volk in der entscheidenden Instanz annimmt – und als solche ist er das einzige reale politische Subjekt.« Berückender – und benebelnder – wurde das Konzept der Avantgarde selten formuliert. Wie der wahre Alkoholiker seine Vorräte im Verborgenen auffrischt, so verschweigt der Theoretiker der Avantgarde die Herkunft seiner Begriffe dort am nachdrücklichsten, wo er sie offenzulegen verspricht – im Frieden mit jenen, die uns regieren.

8.

Um noch einmal zu Benjamins erster These zurückzukehren: Dass der theologisch nachgerüstete historische Materialismus immer siegt, verheißt nichts Gutes: es darf als Hinweis darauf durchgehen, dass seine Argumente ›gezinkt‹ sind und er dort, wo es eng wird, sich unbemerkt durch die Vertauschung von Ebenen rettet – argumentationslogisch ein schwerer Vorwurf. Der historische Materialismus, das besagt die These, ist nicht zu retten und seine Vertreter wissen das: es sei denn, sie erklären sich bereit, die theologischen Denkfiguren, deren sie sich mechanisch – ›unhinterfragt‹ – bedienen, zu nehmen als das, was sie sind, i. e. als kleine, bucklige Helfer, die in der Zunft nicht viel gelten. Wenn eine materialistische Geschichtsphilosophie ohne Theologie nicht zu haben ist, dann bietet umgekehrt eine Theologie, die nur dadurch erträglich bleibt, dass sie sich ihren Feinden als Helfer andient, einen Anblick, der die Paulinische Formel von der Potenz, die sich in der Schwäche vollendet, ›vollendet‹ in Zeitgenossenschaft übersetzt. Das Entzücken, das der Exeget angesichts der taktischen Formeln seiner Vorlage empfindet, entspricht weitgehend der Einstellung dessen, der sich selbst erniedrigt, um erhöht zu werden.

9.

Das Christentum – plakativ gesprochen – hat vielleicht mehr für die Herausbildung des Staates geleistet, den man den modernen nennt, als jede andere Instanz. Dennoch wäre er wohl so nicht entstanden, hätte man nicht den Schnitt gewagt, der seither das Erlösungsverlangen der Gemeinde von den ›Schalthebeln der Macht‹ trennt – inklusiv/exklusiv, wie immer man das Verhältnis beider zueinander definieren mag. Mit dem europäischen Bürgerkrieg im Rücken und angesichts der beunruhigenden Aussicht auf den Eintritt in einen religiös unterfütterten Weltbürgerkrieg mit ungewissem Ausgang erstaunt die Seelenruhe, mit der hier einer aufs neue zu zündeln beginnt – mit neuen Erwählten, die sich ihrer Stellung im Weltprozess bewusst werden könnten. Das Erstaunen wäre allerdings größer, wenn nicht der kluge Mix aus Seminarsprache, verhaltener Emphase und rechtzeitig abreißender, sich in Floskeln und Zweideutigkeiten verflüchtigender Rede die Berechnung anzeigte und auf die Klientel verwiese. Es gibt ein positives Ausgestoßensein, zu dem sich nur die Ausgestoßenen selbst verstehen können. Das wirft die alte Frage auf, wer sich, wenn die Verschärfung greift, dazuzählen mag. Nach dem Ende der Kritik, angesichts der Leere des zeitgenössischen Intellektualismus, versteht sich die Antwort fast von selbst.

10.

Es gibt an den Wörtern Benjamins (›Messias‹, ›Erlösung‹, ›Aura‹, auch der ›Chok‹ zählt dazu) ein Moment, das sich aufdrängt, dringlich und nahezu handgreiflich wird, um letztlich  innezuhalten und mit einem träumerischen oder schulterzuckenden ›Was geht's mich an?‹ den Dienst an der Allgemeinheit und der allgemeinen Verständlichkeit zu verweigern. Alle Benjamin-Interpreten haben sich diesem Punkt konfrontiert gesehen und unterschiedliche Schlüsse für ihr Vorgehen daraus gezogen. Agamben ist nicht der erste, der sich den Texten als Sancho Pansa andient, aber vielleicht der erste, der die Mimikry des Schildknappen so weit treibt, dass er, wie einst Scholochows sozialistischer Held, mit der Divination des Getreuen den Ritt ins offene Gelände des vorauseilenden Gehorsams wagt. Seine Welt ist vollgestellt mit Wegweisern, denen er heißblütig folgt, wo andere nur ein Silbenrätsel, ein Ratewort, einen Würfelwurf Mallarméscher oder Nietzschescher Provenienz zu erkennen vermögen. Man versteht, dass ein solcher Interpret früher oder später mit einem anderen, aus anderem Grund Berufenen zusammenstößt. Die Art und Weise, wie Agamben mit Scholem die Klinge kreuzt, erinnert an ökumenische Rituale, in denen freundliche ältere Herrschaften einander unbemerkt die Luft abzudrücken versuchen. In Die Zeit, die bleibt ist es die Formel des äußersten, in die Gemeinsamkeit zurückschlagenden Gegensatzes, mit der er ihn umarmt: »Scholem selbst«, so heißt es dort, habe möglicherweise von der Nähe des Denkens Benjamins zu dem des Paulus gewusst: »Scholems Haltung zu Paulus, den er als Autor sehr gut kennt und den er als ›hervorragendstes Beispiel eines revolutionären jüdischen Mystikers‹ definiert [...], ist gewiss nicht frei von Zweideutigkeiten. Jedenfalls dürfte es ihn beunruhigt haben, in mancher Hinsicht in den politischen Spekulationen seines Freundes eine paulinische Inspiration zu entdecken, und gewiss hätte er nicht gern darüber gesprochen. Und doch gibt es in einem seiner Bücher eine Stelle, wo er sogar, wenn auch kryptisch und mit derselben Vorsicht, mit der er im Buch über Sabbatai Zewi eine Verbindung zwischen Paulus und Nathan von Gaza herstellt, die Vermutung vorbringt, dass sich Benjamin mit Paulus identifizieren könnte.« (161) Dazu muss man wissen: die Paulinische Auffassung der messianischen Zeit als »Zeit, die bleibt«, als Zeit, »die wir benötigen, um die Zeit zu beenden«, steht für Agamben gegen die von Scholem vertretene (hier ›aporetisch‹ genannte) Deutung der jüdischen Existenz als »Leben im Aufschub«, d.h. innerhalb einer Figur, die Agamben in anderem Zusammenhang als »blockierten Messianismus« bezeichnet. Auch der Terminus ›zweideutig‹ ist nicht so unschuldig, wie er sich gibt (»gewiss nicht frei von Zweideutigkeiten«) und um Scholems »Vermutung« zu finden, muss man sie schon zwischen den Zeilen aufsuchen. Und doch... und doch... erfährt man aus dieser Stelle so manches über die Kunst der unterstellenden Vermutung und vermutenden Unterstellung, nach der dieser auslegende Überwinder des Gesetzes gesetzmäßig verfährt.

11.

Soziologen ist die in den Schriften Agambens wiederkehrende Figur der Einschließung durch Ausschließung (inclusio per exclusionem) wohl vertraut: als positive oder negative Stigmatisierung von Einzelnen oder Gruppen innerhalb der Gemeinschaft oder der größeren Gruppe, als Konsekration und als Ächtung. Die partielle oder tendenziell vollständige Entrechtung willkürlich selektierter Bevölkerungsteile durch den Staat auf der Basis von Notstands- und Ausnahmeregelungen erzeugt vielleicht etwas, das dem homo sacer der römischen Rechtspraxis zu entsprechen scheint. Unverkennbar bleiben die Unterschiede, insofern die Selektion nicht die simple Entrechtung, auch nicht die bloße ›Tötbarkeit‹ der Einzelnen zum Ziel hat, sondern erstere als Instrument benützt, um durch eine Praxis verschärfter Bestimmungen – die bis ins Lager und und die Liquidation hinein gelten – den Ausgegrenzten ein bestimmtes Schicksal zu bereiten. Die Opfer des NS-Staates und der Stalinschen Säuberungen sind offenkundig nicht einfach auf ›das nackte Leben‹ zurückgeworfen wie die Opfer einer Naturkatastrophe, die ›alles‹ verloren haben und vor dem sozialen und rechtlichen ›Nichts‹ stehen, sondern Objekte ausgeklügelter Verfolgungen, in denen körperliche und seelische Torturen die Persönlichkeit verstören, beeinträchtigen, auslöschen und der physischen Vernichtung überlassen, ohne sie jedoch von der Matrix aus Recht, Unrecht, Hoffnung auf Restitution oder Verzweiflung vollständig zu trennen. Das gilt auch für den von Levi, Bettelheim und anderen beschriebenen ›Muselmann‹ der Todeslager, den Menschen, der im durch Misshandlung und Mangel herbeigeführten Vortod eine Phase irreversibler Entkräftung durchlebt: ihn mit dem Tier-Menschen, der außerhalb der ›Satzungen‹ lebt, zu vergleichen heißt, den Hohn der Mörder parodistisch zu überhöhen. Allein das Wissen, dass das, was einem hier geschieht, an anderen Orten des Planeten – wenngleich für den Einzelnen unerreichbar – als Verbrechen gilt, dass die Möglichkeit, an solchen Orten zu leben, wenngleich abstrakt, besteht, dass Befreiung, auch wenn sie einen selbst nicht erreicht, möglich ist, verweist den homo sacer in die Rumpelkammer einer abgesetzten Überlieferung. Es ist dieser Gedanke, ›dass Befreiung möglich ist‹, der die Flüchtlingsströme in Bewegung setzt. Angesichts dessen, was als ›Migration‹ das Gesicht der Erde verändert, verliert auch das Exil seine klassisch-antiken Züge, wird verwechselbar und fällt unter Regelungen, in denen der ›Bann‹ oder das ›Verdikt‹ als bedauernswerter Unfall überlebt.

12.

Man hatte gedacht, die Zeiten, in denen einer mit lateinischen oder griechischen Vokabeln bemalte Spickzettel herumreichen und rufen konnte: ›Ursprung, Ursprung!‹, seien endgültig hinter dem Horizont gegenwärtiger wissenschaftlicher Studien verschwunden. Entsprechend unbehaglich kann einem werden, wenn unser Autor aus jeder Ecke seiner Lektüren den Ursprung hervorlugen lässt. Was Kantorowicz in The King's Two Bodies entdeckt zu haben glaubte, die Bedeutung des Sterberituals der französischen Könige, lässt sich nicht einfach mit dem Hinweis auf die heidnische Kaiserapotheose in eine andere Bedeutungsreihe überführen. Agamben unterbietet hier das Wissen um die Interpretierbarkeit von Ritualen: ein Übergangsritual hat keine ›ursprüngliche‹, allein durch seine Iterierbarkeit gesicherte Bedeutung, sondern bewirkt einen Übergang und stellt ihn aus. Kantorowicz' Weigerung, im christlichen Ritual den wesenhaften Fortbestand eines heidnischen Rituals mit seinen spezifischen Konnotationen zu diagnostizieren, ist weder paradox noch als Unvermögen zu betrachten, einer ›beunruhigenden‹ Wirklichkeit ins Auge zu sehen, sondern dem einfachen, jedem Historiker geläufigen Umstand geschuldet, dass der radikale Wechsel des Deutungsrahmens die Sache selbst sehr wohl zu modifizieren vermag, auch wenn einige Merkmale einer älteren Praxis dabei übernommen werden. Agambens Behauptung, die Spurenlese im kaiserzeitlichen Rom sei geeignet, die ursprüngliche und damit grundlegende juridische Bedeutung des Zeremoniells ans Licht zu bringen, bleibt den Beweis schuldig, als der sie sich ausgibt. Insofern ist auch die Verbindung, die er an dieser Stelle zwischen dem homo sacer, dem aus der Rechtsgemeinschaft Ausgestoßenen, und dem neuzeitlichen Souverän und Inhaber der absoluten Macht herstellt, willkürlich und gegriffen. Die absolute Macht des allerchristlichsten Herrschers ist eine andere als die eines antiken Gottkaisers. Weil sie von Gott verliehen ist, kann sie auf den Nachfolger übergehen und muss nicht als göttlicher Überschuss der Person ›neutralisiert‹ werden. Der homo sacer bleibt eine Figur der römischen Rechtsgeschichte. Man müsste die in den christlichen Jahrhunderten ausgebildeten Formen der Verstoßung, der Vogelfreiheit, des Banns, der Acht etc. etwas genauer untersuchen, um zu entscheiden, inwieweit in ihnen Denkfiguren am Werk sind, die erlauben, die Funktionsweise moderner Herrschaft genealogisch an die Freisetzung von etwas zu binden, das man ansatzweise das bare Leben – die durch das Recht geschaffene Zone der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Tier – nennen könnte. Agambens eigener Vorschlag, den Wolfsmenschen des altgermanischen Rechts über die volkstümliche Figur des Werwolfs der Hobbesschen Formel homo homini lupus zu inkorporieren, erscheint da ebenso unernst wie das Unterfangen, das Corpus X der Habeas-Corpus-Akte umstandslos mit dem homo sacer zu identifizieren und so seinen Neueintritt in die Politik im Gründungsdokument der modernen Demokratie zu behaupten.

13.

Der Illegale ist nicht vogelfrei, er ist nicht jedermanns Willkür ausgeliefert, er ist nicht ›tötbar‹, wie der schreckliche Ausdruck lautet – es sei denn, der Staat hat sich selbst von den Satzungen verabschiedet, in denen die leichtfertig zur Disposition gestellten Menschenrechte normierende Funktionen besitzen. Dass es solche Staaten gibt, darunter ausgesprochen mächtige und ebensolche, die sich in einer Art fortgesetzter Agonie befinden, darüber besteht gewiss kein Zweifel, doch selbst letztere achten, wo sie es können, darauf, das Tötungsmonopol dort, wo sie es auf Dritte übertragen – Todesschwadronen, Privatarmeen –,  nicht vollständig aus der Hand zu geben. ›Tötbar und nicht opferbar‹ – es ist ein eigen Ding um diese Formel für den homo sacer, die vordergründig das nackte Leben bestimmt. Fragt sich, was hier Vorder-, was Hintergrund ist. Es war Girard, der die ›moderne‹ Entkräftung des Opferrituals an das Evangelium zurückband und Jesus zum ersten historischen Menschen stilisierte, dessen Leiden und Sterben sich nicht der Form des Opferberichts fügte. Wenn für irgendjemanden, dann gilt die Formel ›tötbar, nicht opferbar‹ für ihn. Nimmt man diese Genealogie ernst, dann versteht sich von selbst, warum Agamben der Auffassung der ›Endlösung‹ als ›Holocaust‹ nicht nur die Zustimmung verweigert, sondern ihr mit Entrüstung begegnet. Das biblische Brandopfer – ›holocaustum‹ nach dem Text der Vulgata – bezeichnet ein Tier-, kein Menschenopfer. Dass diese Bezeichnung in der – christlichen – Nachkriegswelt zur stehenden Formel für die Judenvernichtung werden konnte, verrät eine in Wahrheit heidnische Deutung des Geschehens, in der – die Formel vom homo sacer deutet es an – die ›Zone der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Tier‹ sichtbar wird. Die Verweigerung der Formel, die mit liturgischer Monotonie dagegengehaltene Parole ›tötbar, nicht opferbar‹ dient der Entkräftung des heidnischen Paradigmas, seiner Neutralisierung im Licht der frohen Botschaft von der »Nichtopferbarkeit der Existenz«. So lautet der Ausdruck, der für Agamben die Zurückweisung der »Doppeldeutigkeit« – Girard lässt grüßen – von Batailles »Opferdenken« und »jede[r] Opferversuchung« durch Jean-Luc Nancy besiegelt.

14.

Die seltsame Zusammenstellung von Exil, Lager, volk – das ›kleine Volk‹ –, Corpus X, Marxschem Proletariat und Paulinischem ›Rest‹, mit der Agamben seine Leser frappiert, erhellt sich erst, wenn man sie in den Kontext einer Wiedergewinnung stellt. Für Girard hat sich die Kirche am Mythos infiziert. Allein der Umstand, dass sie die dem erneuten Unverständnis anheimgefallenen Evangelientexte durch die Zeiten transportiert hat – ›aufgehoben‹, wie man das Geschehene mit einer bitteren Volte bezeichnen könnte –, bietet so etwas wie eine Rechtfertigung ihrer Existenz. Die Aufdeckung des Opferskandals liegt in den Händen einer Intelligenz, die, selbst durch und durch korrupt, in ihren Spielen nur allzu genau den Regeln der Opfergesellschaft Folge leistet. Agamben unterbricht diese Spiele nicht, er stellt sie in einen Horizont, den er ›messianisch‹ nennt. »Die Zeit, die bleibt«, ist ablaufende Zeit, in der sich unter dem Druck staatlich-ökonomischer Aussonderung und Verfolgung diejenigen sammeln, in denen Nah- und Fernerwartung zustandsbedingt ineinander übergehen. Sie – entgegen dem Usus, der sie als ›Opfer‹ bezeichnet – als nicht opferbar zu kategorisieren, hat die Gebärde des Schutzes, meint aber das Gegenteil. An ihrem unaufhaltsamen Geschick vollzieht sich das Schicksal einer Welt, die durch kein Opfer mehr den rettenden Aufschub gewinnt. Die disiecta membra einer in Umrissen aufscheinenden ›Kirche‹ der Berufenen – der Ausgesonderten, der vom System Aufgegebenen, für die sich ›Gesellschaft‹ und ›Vernichtung‹ gleich deklinieren –, erinnern entfernt an die zerstreuten frühchristlichen Gemeinden, an die sich Paulus in seinen Briefen wendet. Der Brief an die Römer ist dabei in mehrfacher Hinsicht ein Brief pro domo: das gilt für den Verfasser ebenso wie für den Exegeten, der Wert auf seine römische Abstammung und sein Römertum legt. Das Opfer findet nicht statt, es hat niemals stattgefunden, es wird seine Opfer nicht finden: mit dieser Formel bettet der Römer die opferkultische Deutung einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, und einer Gegenwart, die den Anblick der von ihr ununterbrochen produzierten ›Ausfälle‹ nicht erträgt, zurück in das Paulinische Heilsgeschehen. Daher das Flüstern, durch die Finger Reden und hic et nunc nicht thematisierbare Weiterungen andeutende Händespreizen in diesen Texten: das Seminar ist die Bühne, auf der sie spielen, aber nicht spielen dürften, es ist ihr Exil. Den Automaten der ›herrschenden Diskurse‹ bedienen heißt sich in Mimikry üben. Das hat seinen Preis.

15.

Der ›Naturalismus‹ der Evangelien, die den Opferbericht verweigern, holt auch Bataille ein: Agamben macht ihn zum unwissentlichen Entdecker des ›nackten Lebens‹. Das ist eine aus der Geschichte der post-mortem-Bekehrungen vertraute Figur. Der Umschlag geschieht in dem Brief, den Bataille am 6. Dezember 1937 an Kojève schreibt und in dem er sein eigenes Leben als ›Wunde‹ bezeichnet: »Ich gebe zu (als wahrscheinliche Hypothese), dass die Geschichte von jetzt an vollendet ist (mit Ausnahme des Epilogs). [...] Wenn die Tätigkeit (das ›Tun‹) – wie Hegel sagt – die Negativität ist, so möchte man wissen, ob die Negativität desjenigen, der ›nichts mehr zu tun hat‹, verschwindet oder als ›Negativität ohne Beschäftigung‹ bestehen bleibt [...] (ich kann mich nicht genauer fassen). Ich anerkenne, dass Hegel diese Möglichkeit vorgesehen hat, er hat sie aber nicht ans Ende des Prozesses gestellt, den er beschrieben hat. Ich stelle mir vor, dass mein Leben – oder dessen Abtreibung, die offene Wunde, die mein Leben ist – von sich aus die Widerlegung des geschlossenen Systems Hegels darstellt.« Agamben bezieht diesen Brief auf das von Kojève ins Auge gefasste Verschwinden des historischen Menschen – des »Menschen im eigentlichen Wortsinn« – im Posthistoire. Das Bekenntnis rückt Bataille in die Nähe der Gerechten »am letzten Tag«, deren tierisches Antlitz auf einer Miniatur aus dem dreizehnten Jahrhundert Agamben in Das Offene geschickt zum programmatischen Spiel der Acéphale-Gruppe mit dem Menschenhaupt in Verbindung setzt. Unwissend bleibt Bataille, weil er im Opferdenken verharrt. Mit praktischen Folgen, wie Agamben, eine angebliche Sentenz Benjamins zitierend, in Homo sacer festzustellen nicht unterlässt: »Vous travailler pour le fascisme.« Auf der anderen Seite steht dasjenige, »womit er nicht zu Rande kommt, [...] (wie das die Faszination zeigt, welche die Bilder des gemarterten Chinesenjungen auf ihn ausübten, die er in Die Tränen des Eros ausführlich kommentiert)«, und das Agamben an dieser Stelle mit der ›vollen‹ Doppelformel bedenkt: »das nackte Leben des homo sacer, das der Begriffsapparat des Opfers und des Eros nicht auszuloten vermögen.« Das ist bekanntlich die Formel des ›Ecce homo‹.

16.

»Erst der Messias selbst«, schreibt Benjamin im Theologisch-politischen Fragment, »vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen.« Wie die Andeutungen Sancho Pansas über die »Zeit, die bleibt«, über die messianische Spanne der »Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden«, sich mit diesen Sätzen vereinbaren lassen, mag als sein Geheimnis durchgehen. Profan betrachtet bleibt jede Aussage über ein Danach und Davor der Geschichte, über den baldigen oder bereits erfolgten Eintritt ins Posthistoire, eine Aussage im Raum der Geschichte, eine leere Spekulation, die das, was sie herbeiwinkt, so zuverlässig vergrault wie ein losstürmendes Kind das Reh am Waldrand, das es umhalsen möchte. Aber das versteht sich von selbst. Die profane Ordnung, das »Glückssuchen der freien Menschheit«, so steht es bei Benjamin, befördert das »Kommen des messianischen Reiches« dadurch, dass es von ihm fortstrebt, und eifrig spricht ihm Das Offene nach: »Die Rettung, die hier auf dem Spiel steht, betrifft nichts Verlorenes oder wieder Herzustellendes, das vergessen wurde und das wieder erinnert werden muss, sondern vielmehr das Verlorene und Vergessene als solches, d.h. als Unrettbares.« In dieser »einzigartigen Gnosis«, in der die Natur »überbewertet« werde, besteht Hoffnung in dem Maß, in dem die Hoffnungslosigkeit fortschreitet. Man sieht, die via negativa besitzt einen Hintereingang, durch den der Philosoph so behende schlüpft wie der Begüterte durchs Nadelöhr. Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns Hoffnung gegeben. Es wäre an der Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass auch diese Formel im historischen Raum ihre Unschuld verloren hat. Die Instrumentalisierung des Glücksstrebens durch Ideologien, die ›nur‹ in der Vernichtung den Sinn der Geschichte und die Hoffnung auf eine restitutio in integrum anzusetzen vermögen, fällt in die mörderische (Vor-)Geschichte Europas und es besteht kein Anlass, sie dort aufzusuchen, als stelle sich in ihnen das Wort des Herrn in zeitgemäßer Verfassung dar. Der Riss in der Geschichte, der die Zeitgenossen von ihnen trennt, lässt sich nicht mit wohlfeilen Formulierungen kitten. Was allerdings von der Instrumentalisierung der Instrumentalisierung zu halten ist, die ihre Schäfchen sammelt, um unter dem Gebimmel von Friedensglocken, die keinen der Kombattanten je erreichen, die Universalität des Unheils ein weiteres Mal zum Angelpunkt gegenwärtiger Politik zu erheben, wüssten die am ehesten zu kommentieren, die sich nicht äußern, weil sie rechtzeitig erschlagen wurden und nur als stumme Zahlenkolonnen in den Schwarzbüchern des universalhistorischen Wahns ein eher unscheinbares Nachleben führen.

17.

Mag sein, dass Agamben im Buch über den Ausnahmezustand ein wenig die Pferde durchgegangen sind, dass die Versuchung, eine Rolle zu spielen und damit zwangsläufig das Opfer von Missverständnissen zu werden, mit denen der politische Raum bis zum Bersten gefüllt ist, seine Intention in eine Richtung gelenkt hat, die ein wenig abseits der bisher analysierten liegt.  »Ich habe die moderne Demokratie nicht mit einem Konzentrationslager verglichen«, sagt er im Spiegel-Interview vom 25. Februar 2006. »Ich arbeite mit sogenannten Paradigmen: das sind konkrete, historisch vorgefundene Phänomene, mit deren Hilfe wir andere Problemfelder besser verstehen können. In den Konzentrationslagern war das Gesetz vollständig außer Kraft gesetzt, insofern bieten die KZ ein perfektes Beispiel für den Ausnahmezustand.« Das mag zutreffen, aber selbst dann enthält es allenfalls die halbe Wahrheit. Der Ausnahmezustand, so steht es in Die Zeit, die bleibt, ist der Paulinische Zustand, in dem das Gesetz aufgehoben und der Messias im Kommen ist. Man mag das Zerbrechen des biopolitischen Dispositivs, das Verlangen nach einem Recht ohne Bezug auf das Leben und einem Leben ohne Bezug auf das Recht, für eine legitime politische Formel oder für den verzweifelten Versuch halten, der Hoffnungslosigkeit zu entrinnen, die sich an das weitgehend stillgestellte Projekt einer zweiten, das Herrschaftsparadigma aufkündigenden Moderne geheftet hat. Doch eine Diagnose, die in der radikalen Verrechtlichung des Lebens den Ursprung politischer Willkür und irreversibler Depravierung des Einzelnen ortet und Diagnose bleibt, muss sich keineswegs mit den Preziosen des »Ausnahmezustands, in dem wir leben« und der Behauptung von Kontinuitäten behängen, die die Unterschiede zwischen Regierungssystemen sowie die Möglichkeit, gut oder weniger gut regiert zu werden, zu unwesentlichem Firlefanz degradieren. Es ist, um Heideggers Beispiel aufzugreifen, nicht dasselbe, ob ein Land Erntemaschinen produziert oder Menschen ins Gas schickt, auch wenn, wie hinreichend bekannt, der Einsatz von Erntemaschinen massenhaft Existenzen vernichten kann und vernichtet hat. Es ist nicht dasselbe, so wie der ›Rest‹ der Hoffnungslosen, die von der Wohlstandssteigerung in den reichen Ländern nicht profitieren, weder automatisch in Lagern lebt noch unter Ausnahmegesetzen steht, die ihre langsame oder schnelle Vernichtung verfügen. Es ist nicht dasselbe, so wie das letztere, wo es geschieht, als das andere gesehen werden muss, gegen das jeder Widerstand geboten ist. Aufrufe zum Widerstand ohne Widerstand, zum Dagegensein ohne Dagegenstehen, zum Kampf der Zitate zitieren nur den Kampf, den sie nicht führen und dienen letztlich dazu, die eine Grenze zu verwischen, an der es unabdingbar wird zu kämpfen. Ein ›Denken der Gegenwart‹, das die Grenze zwischen legitimem und illegitimem Widerstand nicht kennt oder durch willkürliches Verschieben unkenntlich macht, ist nicht nur unterbestimmt, sondern fällt unter die Verfehlungen des Heute, an denen kein Mangel besteht. Die Hoffnung der Hoffnungslosen bedarf, um sich zu ›organisieren‹, der unaufhebbar gedachten Würde, die eine unnachsichtig das Paradigma bedenkende Theorie ihnen entzieht.

18.

»Versuchen wir, Foucaults Analyse weiterzuentwickeln. Die fundamentale Zäsur, die den biopolitischen Bereich teilt, ist die zwischen Volk und Bevölkerung. Diese Zäsur lässt aus dem Schoß des Volkes selbst  eine Bevölkerung hervorgehen, verwandelt also einen im wesentlichen politischen Körper in einen wesentlich biologischen Körper, bei dem es darum geht, Geburten- und Sterberate, Gesundheit und Krankheit zu kontrollieren und regulieren. Mit der Entstehung der Bio-Macht wird jedes Volk durch eine Bevölkerung verdoppelt, jedes demokratische Volk ist zugleich ein demographisches Volk.« Man mag das so sagen. Agamben fährt fort (in Was von Auschwitz bleibt): »Im Nazireich markieren die Gesetze zum ›Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes‹ von 1935 genau diese grundlegende Zäsur.« Nun, es ist guter demagogischer Brauch, die Dinge etwas anzuschärfen. Doch diese ›grundlegende Zäsur‹ ist anders. Sie trennt das, was allenfalls Theorie genannt zu werden verdient, von etwas, das mit den Grenzen des Anstandes spielt, um in der Überschreitung das Opfer-Dasein zu riskieren, das in der Formel vom nackten Leben entrüstet zurückgewiesen wird. Es erstrebt eine Christusförmigkeit der eigenen Existenz, auf die weniger das Wort ›Nachfolge‹ zutrifft als das der ›Parodie‹ – einer Parodie, entfernt vergleichbar derjenigen, der Nietzsche in Ecce homo Gestalt verliehen hat, jedoch unter umgekehrtem – Paulinischem – Vorzeichen. Die Zurücknahme des modernen Intellektuellen in der Parodie des Christós stößt allerdings in der applaudierenden Zustimmung der Kollegen und ihrer journalistischen Helfer auf eine undurchdringliche Mauer. Beati inhabitantes einer biopolitisch gut gerüsteten Zone, verweigern sie dem Emphatiker des ununterscheidbaren Wortes die letzte, die entscheidende Konsekration. Lass es gut sein, heißt das, wir haben verstanden, wir haben das Lager als das Geheimnis unserer Existenz akzeptiert, aber, bitte, sei so gut und spring nicht. Es ist gar nicht nötig und es erfüllt auch gar keinen Zweck. Überhebe dich nicht, denn: Wir haben dich gemacht. Und das ist sogar wahr.

19.

E.T.A. Hoffmann erweist dem – in diesem Fall nicht Schach spielenden, sondern Fragen aus dem Publikum beantwortenden – Automaten in der Erzählung Die Automate seine Reverenz. Sein Erzähler hält sich keinen Augenblick bei Poes Problem des im Inneren der Maschine oder anderweitig verborgenen menschlichen Wesens auf, an dessen Existenz ohnehin kein Zweifel besteht. Ihn beunruhigt die Möglichkeit, dass ein mechanisch gesprochenes Wort, dem kein persönlicher Rapport vorangeht oder entspricht, in seinem Zufallsadressaten tiefe seelische Spuren hinterlassen und zu einer lebensbedrohlichen Macht heranwachsen kann. In der Fixierung der Zeitgenossen auf die Puppe ›historischer Materialismus‹, die immer gewinnen soll, entdeckt Benjamin eine ähnliche Mechanik. Die seitens der Theologie in Aussicht gestellte Hilfe trägt Züge, die sich erst dann erschließen, wenn man die ganze Anordnung in Augenschein nimmt. Hoffmann konnte sich schwerlich eine Welt vorstellen, in der jedes Individuum hundert- und tausendfach in den Zielbereich von Sprechautomaten, menschlichen und unmenschlichen, geraten würde, ohne Chance, ohne Hoffnung, ihnen jemals ausweichen zu können. Sollte Benjamin wirklich dem Geschwätz, das sich in der Rede von der »entscheidenden theoretischen Schlacht« brüstet, verfallen gewesen sein? Das ist schwer vorstellbar. Eine hoffmanneske Lektüre der ersten geschichtsphilosophischen These ›müsste‹ – sofern sie es wollte – die verstörende Banalität der Sätze illuminieren, die aus den geschichtsmächtig gewordenen Sprechautomaten quellen. Sie könnte, immerhin, im ennui der Freunde die erfahrende Kraft aufsuchen, der es hin und wieder gelingt, die schwierigen Energien abzuleiten, die aus den Wörtern vergangener Epochen in die Gegenwart einfließen. Und sie könnte – dritter Gedanke – die Art von Glück bedenken, das den erwartet, der immer Recht behält, weil er der ist, in dem es sich aufhebt. Abseits der Wörter ist es die Trivialität des Geschehens, die dort, wo es blutig zu werden verspricht, den Betrachter beunruhigt – dieselbe Trivialität, die den Alltag unnachdrücklich begleitet und stützt und lebbar gestaltet.

Autor: Ulrich Schödlbauer