Coverversion. Giorgio
Agamben und die Seinen
Manche zogen sich plötzlich komplett aus und saßen
nackt da, ohne auf irgendwas zu reagieren.
Hier
spricht Guantánamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge
Die fundamentale Zäsur, die den biopolitischen Bereich teilt,
ist die zwischen Volk und Bevölkerung.
Giorgio Agamben
1.
»Bestimmt erinnern Sie sich an das Bild vom buckligen Zwerg aus der
ersten von Benjamins Thesen
Über den Begriff der Geschichte:
Dieser Zwerg sitzt versteckt unter dem Schachbrett und verhilft mit
seinen Gegenzügen der mechanischen Puppe in türkischer Tracht zum
Sieg. Benjamin gewinnt dieses Bild aus einer Erzählung Poes. Bei
seiner Übertragung auf geschichtsphilosophisches Terrain fügt er
aber hinzu, dass jener Zwerg in der Wirklichkeit die Theologie ist,
›die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin
nicht blicken lassen darf‹. Wenn der historische Materialismus die
Theologie in seinen Dienst nehme, dann könne er das historische
Spiel gegen seinen furchteinflößenden Gegner gewinnen.«
Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt
2.
Agamben fährt fort: »Auf diese Weise legt uns Benjamin nahe, den
Text der Thesen selbst als ein Schachbrett zu betrachten, auf dem
sich eine entscheidende theoretische Schlacht abspielt. Diese
Schlacht, so muss man in diesem Fall vermuten, wird mit der Hilfe
eines Theologen geführt, der zwischen den Zeilen versteckt ist. Wer
ist dieser bucklige Theologe, den der Autor so gut in seinem Text
versteckt hat, dass er bislang unerkannt geblieben ist?« Nun, es
ist der heilige Paulus, wie wir im Fortgang der Untersuchung
erfahren. Was als Seminar-Exegese des
incipit des
Römerbriefs beginnt, endet als Traktat über die zeitgemäße Form des
Messianismus vor dem Hintergrund seiner beiden, wie der Verfasser
darlegt, bedeutendsten Zeugnisse: des Römerbriefs und der
Thesen Benjamins.
3.
»Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so
konstruiert gewesen sei, dass er jeden Zug eines Schachspielers mit
einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie
sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im
Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte.
Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt,
dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein
buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die
Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man
sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll
immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie
kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie
in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist
und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (I)
4.
Poe, der über Maelzels Schachautomaten 1836 im
Southern Literary
Journal berichtete, listet genüsslich die Argumente auf, die
seiner Ansicht nach gegen die Annahme eines
reinen
Automaten, also für die Annahme eines die Bewegungen des Automaten
lenkenden Schachspielers sprechen, der den Augen des Publikums
verborgen bleibt. Dazu zählt er den Umstand, dass der Automat
nicht jedes Spiel gewinnt: »A little consideration will
convince any one that the difficulty of making a machine beat all
games, is not in the least degree greater, as regards the principle
of the operations necessary, than that of making it beat a single
game.« Der menschliche Schachspieler kann geschlagen werden, der
mechanische Spieler
lässt sich, falls überhaupt, so
konstruieren, dass er jede Partie gewinnt. Mit dieser Korrektur
liest man Benjamins Eröffnungssatz ein wenig anders. Dabei bleibt
es gleichgültig, ob Benjamin Poes Text tatsächlich gekannt hat. Poe
irrte, wenngleich nicht sehr, wie moderne Schachprogramme den
Betrachter lehren. Das Programm, das die Unbedachtheit des
menschlichen Schachspielers eliminiert, eliminiert damit eine
vorrangige Quelle möglicher Niederlagen. Mit der ausgesprochenen
Erwartung,
jedes Spiel zu gewinnen, verwandelt Benjamin –
worauf Poes Überlegung aufmerksam macht – den buckligen Zwerg, i.
e. die Theologie, in einen Automaten. Wenn der historische
Materialismus der sichtbare Automat ist, dann ist die Theologie,
die unsichtbar seine Bewegungen lenkt, der Automat
im
Automaten.
5.
Das Bild wird deutlicher, wenn man bedenkt, dass Benjamin beide,
den historischen Materialismus wie seinen unsichtbaren Helfer, im
philosophischen Feld postiert:
hier soll die Puppe
›historischer Materialismus‹ gewinnen – um jeden Preis, wie es
scheint, selbst den der Täuschung, rechnet man das versteckte
theologische Argumentationsmuster darunter. Die Frage,
welche ›entscheidende theoretische Schlacht‹ hier geschlagen
wird, lässt der Interpret offen. Er reicht sie damit an die
Ausgangsfragen des
Kommentars zurück, der sich mit Nachdruck
an Jacob Taubes' nachgelassene Schrift
Die politische Theologie des Paulus
anlehnt: »Was bedeutet es, im Messias zu leben, was ist das
messianische Leben? Und welche Struktur besitzt die messianische
Zeit?« Die ›Konstellation‹, in der sich Benjamins Text mit
dem des Paulus verbindet, bewegt sich um die Gleichung
»christós, d.h. ›Messias‹«. Darüber gerät die Argumentation
der
Thesen ein wenig aus dem Blickfeld. Das Problem,
angesichts dessen es für den historischen Materialisten lohnend
sein könnte, mit der Theologie zu kooperieren, bezeichnet das
Lotze-Zitat am Beginn der zweiten These. Die Unempfindlichkeit der
Lebenden gegen die Genüsse einer künftigen Menschheit darf als
Einwand gegen eine Geschichtsteleologie verstanden werden, die in
der linear gedachten Zukunft den Raum der Verheißung situiert.
Diese plakative Eschatologie, die der Kommentar anhand des
Paulinischen Textes zurückweist, wird in der Geschichtsphilosophie
Hegels – wie zuvor bereits Herders – ›aufgehoben‹ und es ist der
dialektische Materialismus, der die in letzterer gezogene
Trennlinie erneut überschreitet und zur ›objektiv‹ unterfütterten
Naherwartung und einem prophetischen Wissenstypus zurückkehrt.
Benjamins Empfehlung der messianischen Denkfigur erscheint vor
diesem Hintergrund sowohl taktisch als auch sachlich
gerechtfertigt: die »schwache messianische Kraft«, die jedes
»Geschlecht« gegenüber den vorausgegangenen hervorkehrt, bezeichnet
die motivierende Kraft dessen, was man heute cum grano salis
kollektives Gedächtnis nennt: denen, die
in Wahrheit leben,
fallen die Bilder verflossener Leiden und Kämpfe zu, um ihnen ›im
Moment der Gefahr‹ den Sinn, die lange Dauer und die heroischen
Momente der eigenen ›Sache‹ vor Augen zu stellen. Was daran
Paulinisch genannt werden mag, entstammt – so steht zu vermuten –
dem religiösen Motivfundus der vom Historismus – dem anderen Gegner
der
Thesen – radikal verkürzten Geschichtsphilosophie.
6.
»An dieser Stelle muss ich von meiner Entdeckung sprechen, die ich
oben erwähnt habe und die sich auf das Nachleben des Verbs
katargeín im philosophischen Kontext bezieht. Mit welchem
Ausdruck nämlich übersetzt Luther das Paulinische Verb sowohl in
Röm. 3,31 als auch in den meisten anderen Stellen aus den
Briefen? Aufheben – d.h. er benutzt das Wort, auf
dessen doppelter Bedeutung (»vernichten« und »bewahren«) Hegel
seine Dialektik gründet!« Man kann den Stolz des Entdeckers wohl
verstehen, auch wenn es mit der doppelten Bedeutung des Wortes
nicht weit her ist (allein das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet
deren fünfzehn und findet viele davon bei Luther belegt). Das
katargeín bezeichnet die Art und Weise, auf welche der
Messias das ›Gesetz‹ unwirksam macht: durch »Deaktivierung und
Vollendung«. Aufschlussreicher ist jedoch die Pointe, die er der
›Entdeckung‹ abgewinnt: »Dass aber Hegel – nicht ohne Ironie –
gegen die Theologie eine Waffe gerichtet hat, die von ihr selbst
stammt, und dass diese Waffe eine authentisch messianische war, ist
gewiss nicht irrelevant.« Die theologische
Geheimwaffe
scheint hier ihren ›authentischen‹ Ursprung zu finden. Die
Aufhebung des Gesetzes, die Ersetzung des Ausnahmezustandes, »in
dem wir leben«, durch den ›wirklichen‹ Ausnahmezustand (Benjamins
achte These), dieser Kern von Agambens Messianismus, gewinnt seinen
Sinn durch die wohlbekannte Anleitung, die Verhältnisse durch
Verschärfung kenntlich zu machen: »Es ist also möglich, dass der
katéchon« – der ›Aufhalter‹ in Carl Schmitts Deutung des
zweiten Thessalonicherbriefs, die staatliche Macht, die das
Erscheinen des Antichrist und das Ende der Welt ›zurückhält‹ – »und
der
ánomos (Paulus spricht nie wie Johannes von einem
antíchristos) nicht zwei unterschiedliche Figuren
darstellen, sondern eine einzige Macht bezeichnen – einmal vor und
einmal nach der letzten Enthüllung. Die profane Macht – das
Römische Reich z. B. – ist der Schleier, der die grundlegende
Anomie der messianischen Zeit verdeckt.« Möglich,
gut
möglich, es hat einen guten Sinn,
es lässt sich sagen. Auch
das, unter Deutern sei es gesagt, ist eine Anspielung. Wer sie
kennt, bekommt eine Medaille in Bronze, für Gold muss sich einer
schon mehr anstrengen.
7.
Nur – warum? Warum, wenn die gewichtige Miene dessen, der
angestrengt Wörter wie Geldbündel schwenkt, um bei der großen
Versteigerung mitzubieten, die Konkurrenz bereits ausreichend
verwirrt? Zu diesen kostbaren Wörtern, man weiß es, gehört das
»nackte Leben«, das, Benjamins ›bloßem Leben‹ verwandt, zu Zeiten,
in denen Nacktheit mit Lust identifiziert wird, im Deutschen
vielleicht eher als ›bares Leben‹ bezeichnet werden könnte, wäre da
nicht das Motiv der Rettung (›mit dem nackten Leben davonkommen‹).
Im Paulusbuch ist der Platzhalter des nackten Lebens das
Volk, definiert als ›Rest‹. Es erscheint angebracht, die
einschlägige Stelle so zu zitieren, wie man ein Rezept zitiert: als
Anweisung, die immer wieder gelesen zu werden verlangt, bis das
Gericht – so oder so – ›vollendet‹ ist. »Wenn ich ein unmittelbar
aktuelles politisches Vermächtnis in den Briefen des Paulus angeben
müsste, so glaube ich, dass sein Konzept des Rests nicht fehlen
dürfte. Es erlaubt im besonderen, unsere antiquierten und
vielleicht unverzichtbaren Begriffe von Volk und Demokratie aus
einer neuen Perspektive heraus zu überdenken. Das Volk ist weder
das Ganze noch der Teil, weder die Mehrheit noch die Minderheit. Es
ist vielmehr etwas, das nie mit sich identisch sein kann, weder als
Ganzes noch als Teil, das, was unendlich bleibt oder das jeder
Teilung widersteht und das – im Frieden mit jenen, die uns regieren
– nie auf eine Mehrheit oder eine Minderheit reduziert werden kann.
Und dieser Rest ist die Figur oder die Konsistenz, die das Volk in
der entscheidenden Instanz annimmt – und als solche ist er das
einzige reale politische Subjekt.« Berückender – und benebelnder –
wurde das Konzept der Avantgarde selten formuliert. Wie der wahre
Alkoholiker seine Vorräte im Verborgenen auffrischt, so verschweigt
der Theoretiker der Avantgarde die Herkunft seiner Begriffe dort am
nachdrücklichsten, wo er sie offenzulegen verspricht – im Frieden
mit jenen, die uns regieren.
8.
Um noch einmal zu Benjamins erster These zurückzukehren: Dass der
theologisch nachgerüstete historische Materialismus
immer
siegt, verheißt nichts Gutes: es darf als Hinweis darauf
durchgehen, dass seine Argumente ›gezinkt‹ sind und er dort, wo es
eng wird, sich unbemerkt durch die Vertauschung von Ebenen rettet –
argumentationslogisch ein schwerer Vorwurf. Der historische
Materialismus, das besagt die These, ist nicht zu retten
und
seine Vertreter wissen das: es sei denn, sie erklären sich
bereit, die theologischen Denkfiguren, deren sie sich
mechanisch – ›unhinterfragt‹ – bedienen, zu nehmen als das,
was sie sind, i. e. als kleine, bucklige Helfer, die in der Zunft
nicht viel gelten. Wenn eine materialistische Geschichtsphilosophie
ohne Theologie nicht zu haben ist, dann bietet umgekehrt eine
Theologie, die nur dadurch erträglich bleibt, dass sie sich ihren
Feinden als Helfer andient, einen Anblick, der die Paulinische
Formel von der Potenz, die sich in der Schwäche vollendet,
›vollendet‹ in Zeitgenossenschaft übersetzt. Das Entzücken, das der
Exeget angesichts der taktischen Formeln seiner Vorlage empfindet,
entspricht weitgehend der Einstellung dessen, der sich selbst
erniedrigt, um erhöht zu werden.
9.
Das Christentum – plakativ gesprochen – hat vielleicht mehr für die
Herausbildung des Staates geleistet, den man den modernen nennt,
als jede andere Instanz. Dennoch wäre er wohl so nicht entstanden,
hätte man nicht den Schnitt gewagt, der seither das
Erlösungsverlangen der Gemeinde von den ›Schalthebeln der Macht‹
trennt – inklusiv/exklusiv, wie immer man das Verhältnis beider
zueinander definieren mag. Mit dem europäischen Bürgerkrieg im
Rücken und angesichts der beunruhigenden Aussicht auf den Eintritt
in einen religiös unterfütterten Weltbürgerkrieg mit ungewissem
Ausgang erstaunt die Seelenruhe, mit der hier einer aufs neue zu
zündeln beginnt – mit neuen
Erwählten, die sich ihrer
Stellung im Weltprozess bewusst werden könnten. Das Erstaunen wäre
allerdings größer, wenn nicht der kluge Mix aus Seminarsprache,
verhaltener Emphase und rechtzeitig abreißender, sich in Floskeln
und Zweideutigkeiten verflüchtigender Rede die Berechnung anzeigte
und auf die Klientel verwiese. Es gibt ein positives
Ausgestoßensein, zu dem sich nur die Ausgestoßenen selbst verstehen
können. Das wirft die alte Frage auf, wer
sich, wenn die
Verschärfung greift, dazuzählen mag. Nach dem Ende der Kritik,
angesichts der Leere des zeitgenössischen Intellektualismus,
versteht sich die Antwort fast von selbst.
10.
Es gibt an den Wörtern Benjamins (›Messias‹, ›Erlösung‹, ›Aura‹,
auch der ›Chok‹ zählt dazu) ein Moment, das sich aufdrängt,
dringlich und nahezu handgreiflich wird, um letztlich
innezuhalten und mit einem träumerischen oder schulterzuckenden
›Was geht's mich an?‹ den Dienst an der Allgemeinheit und der
allgemeinen Verständlichkeit zu verweigern. Alle
Benjamin-Interpreten haben sich diesem Punkt konfrontiert gesehen
und unterschiedliche Schlüsse für ihr Vorgehen daraus gezogen.
Agamben ist nicht der erste, der sich den Texten als Sancho Pansa
andient, aber vielleicht der erste, der die Mimikry des
Schildknappen so weit treibt, dass er, wie einst Scholochows
sozialistischer Held, mit der Divination des Getreuen den Ritt ins
offene Gelände des vorauseilenden Gehorsams wagt. Seine Welt ist
vollgestellt mit Wegweisern, denen er heißblütig folgt, wo andere
nur ein Silbenrätsel, ein Ratewort, einen Würfelwurf Mallarméscher
oder Nietzschescher Provenienz zu erkennen vermögen. Man versteht,
dass ein solcher Interpret früher oder später mit einem anderen,
aus anderem Grund Berufenen zusammenstößt. Die Art und Weise, wie
Agamben mit Scholem die Klinge kreuzt, erinnert an ökumenische
Rituale, in denen freundliche ältere Herrschaften einander
unbemerkt die Luft abzudrücken versuchen. In
Die Zeit, die
bleibt ist es die Formel des äußersten, in die Gemeinsamkeit
zurückschlagenden Gegensatzes, mit der er ihn umarmt: »Scholem
selbst«, so heißt es dort, habe möglicherweise von der Nähe des
Denkens Benjamins zu dem des Paulus gewusst: »Scholems Haltung zu
Paulus, den er als Autor sehr gut kennt und den er als
›hervorragendstes Beispiel eines revolutionären jüdischen
Mystikers‹ definiert [...], ist gewiss nicht frei von
Zweideutigkeiten. Jedenfalls dürfte es ihn beunruhigt haben, in
mancher Hinsicht in den politischen Spekulationen seines Freundes
eine paulinische Inspiration zu entdecken, und gewiss hätte er
nicht gern darüber gesprochen. Und doch gibt es in einem seiner
Bücher eine Stelle, wo er sogar, wenn auch kryptisch und mit
derselben Vorsicht, mit der er im Buch über Sabbatai Zewi eine
Verbindung zwischen Paulus und Nathan von Gaza herstellt, die
Vermutung vorbringt, dass sich Benjamin mit Paulus identifizieren
könnte.« (161) Dazu muss man wissen: die Paulinische Auffassung der
messianischen Zeit als »Zeit, die bleibt«, als Zeit, »die wir
benötigen, um die Zeit zu beenden«, steht für Agamben
gegen
die von Scholem vertretene (hier ›aporetisch‹ genannte) Deutung der
jüdischen Existenz als
»Leben im Aufschub«, d.h. innerhalb
einer Figur, die Agamben in anderem Zusammenhang als »blockierten
Messianismus« bezeichnet. Auch der Terminus ›zweideutig‹ ist nicht
so unschuldig, wie er sich gibt (»gewiss nicht frei von
Zweideutigkeiten«) und um Scholems »Vermutung« zu finden, muss man
sie schon zwischen den Zeilen aufsuchen. Und doch... und doch...
erfährt man aus dieser Stelle so manches über die Kunst der
unterstellenden Vermutung und vermutenden Unterstellung, nach der
dieser auslegende Überwinder des Gesetzes gesetzmäßig verfährt.
11.
Soziologen ist die in den Schriften Agambens wiederkehrende Figur
der Einschließung durch Ausschließung (inclusio per exclusionem)
wohl vertraut: als positive oder negative Stigmatisierung von
Einzelnen oder Gruppen innerhalb der Gemeinschaft oder der größeren
Gruppe, als Konsekration und als Ächtung. Die partielle oder
tendenziell vollständige Entrechtung willkürlich selektierter
Bevölkerungsteile durch den Staat auf der Basis von Notstands- und
Ausnahmeregelungen erzeugt vielleicht etwas, das dem
homo
sacer der römischen Rechtspraxis zu entsprechen scheint.
Unverkennbar bleiben die Unterschiede, insofern die Selektion nicht
die simple Entrechtung, auch nicht die bloße ›Tötbarkeit‹ der
Einzelnen zum Ziel hat, sondern erstere als Instrument benützt, um
durch eine Praxis verschärfter Bestimmungen – die bis ins Lager und
und die Liquidation hinein
gelten – den Ausgegrenzten ein
bestimmtes Schicksal zu bereiten. Die Opfer des NS-Staates und der
Stalinschen Säuberungen sind offenkundig nicht einfach auf ›das
nackte Leben‹ zurückgeworfen wie die Opfer einer Naturkatastrophe,
die ›alles‹ verloren haben und vor dem sozialen und rechtlichen
›Nichts‹ stehen, sondern Objekte ausgeklügelter Verfolgungen, in
denen körperliche und seelische Torturen die Persönlichkeit
verstören, beeinträchtigen, auslöschen und der physischen
Vernichtung überlassen, ohne sie jedoch von der Matrix aus Recht,
Unrecht, Hoffnung auf Restitution oder Verzweiflung vollständig zu
trennen. Das gilt auch für den von Levi, Bettelheim und anderen
beschriebenen ›Muselmann‹ der Todeslager, den Menschen, der im
durch Misshandlung und Mangel herbeigeführten Vortod eine Phase
irreversibler Entkräftung durchlebt: ihn mit dem Tier-Menschen, der
außerhalb der ›Satzungen‹ lebt, zu vergleichen heißt, den Hohn der
Mörder parodistisch zu überhöhen. Allein das Wissen, dass das, was
einem hier geschieht, an anderen Orten des Planeten – wenngleich
für den Einzelnen unerreichbar – als Verbrechen gilt, dass die
Möglichkeit, an solchen Orten zu leben, wenngleich abstrakt,
besteht, dass Befreiung, auch wenn sie einen selbst nicht erreicht,
möglich ist, verweist den
homo sacer in die Rumpelkammer
einer abgesetzten Überlieferung. Es ist dieser Gedanke, ›dass
Befreiung möglich ist‹, der die Flüchtlingsströme in Bewegung
setzt. Angesichts dessen, was als ›Migration‹ das Gesicht der Erde
verändert, verliert auch das Exil seine klassisch-antiken Züge,
wird verwechselbar und fällt unter Regelungen, in denen der ›Bann‹
oder das ›Verdikt‹ als bedauernswerter Unfall überlebt.
12.
Man hatte gedacht, die Zeiten, in denen einer mit lateinischen oder
griechischen Vokabeln bemalte Spickzettel herumreichen und rufen
konnte: ›Ursprung, Ursprung!‹, seien endgültig hinter dem Horizont
gegenwärtiger wissenschaftlicher Studien verschwunden. Entsprechend
unbehaglich kann einem werden, wenn unser Autor aus jeder Ecke
seiner Lektüren den Ursprung hervorlugen lässt. Was Kantorowicz in
The King's Two Bodies entdeckt zu haben glaubte, die
Bedeutung des Sterberituals der französischen Könige, lässt sich
nicht einfach mit dem Hinweis auf die heidnische Kaiserapotheose in
eine andere Bedeutungsreihe überführen. Agamben unterbietet hier
das Wissen um die Interpretierbarkeit von Ritualen: ein
Übergangsritual
hat keine ›ursprüngliche‹, allein durch
seine Iterierbarkeit gesicherte Bedeutung, sondern
bewirkt
einen Übergang und stellt ihn aus. Kantorowicz' Weigerung, im
christlichen Ritual den wesenhaften Fortbestand eines heidnischen
Rituals mit seinen spezifischen Konnotationen zu diagnostizieren,
ist weder paradox noch als Unvermögen zu betrachten, einer
›beunruhigenden‹ Wirklichkeit ins Auge zu sehen, sondern dem
einfachen, jedem Historiker geläufigen Umstand geschuldet, dass der
radikale Wechsel des Deutungsrahmens die Sache selbst sehr wohl zu
modifizieren vermag, auch wenn einige Merkmale einer älteren Praxis
dabei übernommen werden. Agambens Behauptung, die Spurenlese im
kaiserzeitlichen Rom sei geeignet, die ursprüngliche und damit
grundlegende juridische Bedeutung des Zeremoniells ans Licht zu
bringen, bleibt den Beweis schuldig, als der sie sich ausgibt.
Insofern ist auch die Verbindung, die er an dieser Stelle zwischen
dem
homo sacer, dem aus der Rechtsgemeinschaft
Ausgestoßenen, und dem neuzeitlichen Souverän und Inhaber der
absoluten Macht herstellt, willkürlich und gegriffen. Die absolute
Macht des allerchristlichsten Herrschers ist eine andere als die
eines antiken Gottkaisers. Weil sie von Gott verliehen ist, kann
sie auf den Nachfolger übergehen und muss nicht als göttlicher
Überschuss der Person ›neutralisiert‹ werden. Der
homo sacer
bleibt eine Figur der römischen Rechtsgeschichte. Man müsste die in
den christlichen Jahrhunderten ausgebildeten Formen der Verstoßung,
der Vogelfreiheit, des Banns, der Acht etc. etwas genauer
untersuchen, um zu entscheiden, inwieweit in ihnen Denkfiguren am
Werk sind, die erlauben, die Funktionsweise moderner Herrschaft
genealogisch an die Freisetzung von etwas zu binden, das man
ansatzweise das bare Leben – die durch das Recht geschaffene Zone
der Ununterscheidbarkeit von Mensch und Tier – nennen könnte.
Agambens eigener Vorschlag, den Wolfsmenschen des altgermanischen
Rechts über die volkstümliche Figur des Werwolfs der Hobbesschen
Formel
homo homini lupus zu inkorporieren, erscheint da
ebenso unernst wie das Unterfangen, das
Corpus X der
Habeas-Corpus-Akte umstandslos mit dem
homo sacer zu
identifizieren und so seinen Neueintritt in die Politik im
Gründungsdokument der modernen Demokratie zu behaupten.
13.
Der Illegale ist nicht vogelfrei, er ist nicht jedermanns Willkür
ausgeliefert, er ist nicht ›tötbar‹, wie der schreckliche Ausdruck
lautet – es sei denn, der Staat hat sich selbst von den Satzungen
verabschiedet, in denen die leichtfertig zur Disposition gestellten
Menschenrechte normierende Funktionen besitzen. Dass es solche
Staaten gibt, darunter ausgesprochen mächtige und ebensolche, die
sich in einer Art fortgesetzter Agonie befinden, darüber besteht
gewiss kein Zweifel, doch selbst letztere achten, wo sie es können,
darauf, das Tötungsmonopol dort, wo sie es auf Dritte übertragen –
Todesschwadronen, Privatarmeen –, nicht vollständig aus der
Hand zu geben. ›Tötbar und nicht opferbar‹ – es ist ein eigen Ding
um diese Formel für den
homo sacer, die vordergründig das
nackte Leben bestimmt. Fragt sich, was hier Vorder-, was
Hintergrund ist. Es war Girard, der die ›moderne‹ Entkräftung des
Opferrituals an das Evangelium zurückband und Jesus zum ersten
historischen Menschen stilisierte, dessen Leiden und Sterben sich
nicht der Form des Opferberichts fügte. Wenn für irgendjemanden,
dann gilt die Formel ›tötbar, nicht opferbar‹ für ihn. Nimmt man
diese Genealogie ernst, dann versteht sich von selbst, warum
Agamben der Auffassung der ›Endlösung‹ als ›Holocaust‹ nicht nur
die Zustimmung verweigert, sondern ihr mit Entrüstung begegnet. Das
biblische Brandopfer – ›holocaustum‹ nach dem Text der Vulgata –
bezeichnet ein Tier-, kein Menschenopfer. Dass diese Bezeichnung in
der – christlichen – Nachkriegswelt zur stehenden Formel für die
Judenvernichtung werden konnte, verrät eine in Wahrheit heidnische
Deutung des Geschehens, in der – die Formel vom
homo sacer
deutet es an – die ›Zone der Ununterscheidbarkeit von Mensch und
Tier‹ sichtbar wird. Die Verweigerung der Formel, die mit
liturgischer Monotonie dagegengehaltene Parole ›tötbar, nicht
opferbar‹ dient der Entkräftung des heidnischen Paradigmas, seiner
Neutralisierung im Licht der frohen Botschaft von der
»Nichtopferbarkeit der Existenz«. So lautet der Ausdruck, der für
Agamben die Zurückweisung der »Doppeldeutigkeit« – Girard lässt
grüßen – von Batailles »Opferdenken« und »jede[r] Opferversuchung«
durch Jean-Luc Nancy besiegelt.
14.
Die seltsame Zusammenstellung von
Exil, Lager, volk – das
›kleine Volk‹ –,
Corpus X, Marxschem
Proletariat und
Paulinischem ›Rest‹, mit der Agamben seine Leser frappiert, erhellt
sich erst, wenn man sie in den Kontext einer Wiedergewinnung
stellt. Für Girard hat sich die Kirche am Mythos infiziert. Allein
der Umstand, dass sie die dem erneuten Unverständnis
anheimgefallenen Evangelientexte durch die Zeiten transportiert hat
– ›aufgehoben‹, wie man das Geschehene mit einer bitteren Volte
bezeichnen könnte –, bietet so etwas wie eine Rechtfertigung ihrer
Existenz. Die Aufdeckung des Opferskandals liegt in den Händen
einer Intelligenz, die, selbst durch und durch korrupt, in ihren
Spielen nur allzu genau den Regeln der Opfergesellschaft Folge
leistet. Agamben unterbricht diese Spiele nicht, er stellt sie in
einen Horizont, den er ›messianisch‹ nennt. »Die Zeit, die bleibt«,
ist ablaufende Zeit, in der sich unter dem Druck
staatlich-ökonomischer Aussonderung und Verfolgung diejenigen
sammeln, in denen Nah- und Fernerwartung zustandsbedingt ineinander
übergehen. Sie – entgegen dem Usus, der sie als ›Opfer‹ bezeichnet
– als
nicht opferbar zu kategorisieren, hat die Gebärde des
Schutzes, meint aber das Gegenteil. An ihrem unaufhaltsamen
Geschick vollzieht sich das Schicksal einer Welt, die durch kein
Opfer mehr den rettenden Aufschub gewinnt. Die
disiecta
membra einer in Umrissen aufscheinenden ›Kirche‹ der Berufenen
– der Ausgesonderten, der vom System Aufgegebenen, für die sich
›Gesellschaft‹ und ›Vernichtung‹ gleich deklinieren –, erinnern
entfernt an die zerstreuten frühchristlichen Gemeinden, an die sich
Paulus in seinen Briefen wendet. Der Brief an die Römer ist dabei
in mehrfacher Hinsicht ein Brief
pro domo: das gilt für den
Verfasser ebenso wie für den Exegeten, der Wert auf seine römische
Abstammung und sein
Römertum legt.
Das Opfer findet nicht
statt, es hat niemals stattgefunden, es wird seine Opfer
nicht finden: mit dieser Formel bettet der Römer die
opferkultische Deutung einer Vergangenheit, die nicht vergehen
will, und einer Gegenwart, die den Anblick der von ihr
ununterbrochen produzierten ›Ausfälle‹ nicht erträgt, zurück in das
Paulinische Heilsgeschehen. Daher das Flüstern, durch die Finger
Reden und
hic et nunc nicht thematisierbare Weiterungen
andeutende Händespreizen in diesen Texten: das Seminar ist die
Bühne, auf der sie spielen, aber nicht spielen dürften, es ist ihr
Exil. Den Automaten der ›herrschenden Diskurse‹ bedienen heißt sich
in Mimikry üben. Das hat seinen Preis.
15.
Der ›Naturalismus‹ der Evangelien, die den Opferbericht verweigern,
holt auch Bataille ein: Agamben macht ihn zum
unwissentlichen Entdecker des ›nackten Lebens‹. Das ist eine
aus der Geschichte der
post-mortem-Bekehrungen vertraute
Figur. Der Umschlag geschieht in dem Brief, den Bataille am 6.
Dezember 1937 an Kojève schreibt und in dem er sein eigenes Leben
als ›Wunde‹ bezeichnet: »Ich gebe zu (als wahrscheinliche
Hypothese), dass die Geschichte von jetzt an vollendet ist (mit
Ausnahme des Epilogs). [...] Wenn die Tätigkeit (das ›Tun‹) – wie
Hegel sagt – die Negativität ist, so möchte man wissen, ob die
Negativität desjenigen, der ›nichts mehr zu tun hat‹, verschwindet
oder als ›Negativität ohne Beschäftigung‹ bestehen bleibt [...]
(ich kann mich nicht genauer fassen). Ich anerkenne, dass Hegel
diese Möglichkeit vorgesehen hat, er hat sie aber nicht ans Ende
des Prozesses gestellt, den er beschrieben hat. Ich stelle mir vor,
dass mein Leben – oder dessen Abtreibung, die offene Wunde, die
mein Leben ist – von sich aus die Widerlegung des geschlossenen
Systems Hegels darstellt.« Agamben bezieht diesen Brief auf das von
Kojève ins Auge gefasste Verschwinden des historischen Menschen –
des »Menschen im eigentlichen Wortsinn« – im Posthistoire. Das
Bekenntnis rückt Bataille in die Nähe der Gerechten »am letzten
Tag«, deren tierisches Antlitz auf einer Miniatur aus dem
dreizehnten Jahrhundert Agamben in
Das Offene geschickt zum
programmatischen Spiel der
Acéphale-Gruppe mit dem
Menschenhaupt in Verbindung setzt. Unwissend bleibt Bataille, weil
er im Opferdenken verharrt. Mit praktischen Folgen, wie Agamben,
eine angebliche Sentenz Benjamins zitierend, in
Homo sacer
festzustellen nicht unterlässt: »Vous travailler pour le fascisme.«
Auf der anderen Seite steht dasjenige, »womit er nicht zu Rande
kommt, [...] (wie das die Faszination zeigt, welche die Bilder des
gemarterten Chinesenjungen auf ihn ausübten, die er in
Die
Tränen des Eros ausführlich kommentiert)«, und das Agamben an
dieser Stelle mit der ›vollen‹ Doppelformel bedenkt: »das nackte
Leben des
homo sacer, das der Begriffsapparat des Opfers und
des Eros nicht auszuloten vermögen.« Das ist bekanntlich die Formel
des ›Ecce homo‹.
16.
»Erst der Messias selbst«, schreibt Benjamin im
Theologisch-politischen Fragment, »vollendet alles
historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen
Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet,
schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf
Messianisches beziehen wollen.« Wie die Andeutungen Sancho Pansas
über die »Zeit, die bleibt«, über die messianische Spanne der
»Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden«, sich mit diesen
Sätzen vereinbaren lassen, mag als sein Geheimnis durchgehen.
Profan betrachtet bleibt jede Aussage über ein Danach und Davor der
Geschichte, über den baldigen oder bereits erfolgten Eintritt ins
Posthistoire, eine Aussage im Raum der Geschichte, eine leere
Spekulation, die das, was sie herbeiwinkt, so zuverlässig vergrault
wie ein losstürmendes Kind das Reh am Waldrand, das es umhalsen
möchte. Aber das versteht sich von selbst. Die profane Ordnung, das
»Glückssuchen der freien Menschheit«, so steht es bei Benjamin,
befördert das »Kommen des messianischen Reiches« dadurch, dass es
von ihm
fortstrebt, und eifrig spricht ihm
Das Offene
nach: »Die Rettung, die hier auf dem Spiel steht, betrifft nichts
Verlorenes oder wieder Herzustellendes, das vergessen wurde und das
wieder erinnert werden muss, sondern vielmehr das Verlorene und
Vergessene als solches, d.h. als Unrettbares.« In dieser
»einzigartigen Gnosis«, in der die Natur »überbewertet« werde,
besteht Hoffnung in dem Maß, in dem die Hoffnungslosigkeit
fortschreitet. Man sieht, die via negativa besitzt einen
Hintereingang, durch den der Philosoph so behende schlüpft wie der
Begüterte durchs Nadelöhr.
Nur um der Hoffnungslosen willen ist
uns Hoffnung gegeben. Es wäre an der Zeit, sich an den Gedanken
zu gewöhnen, dass auch diese Formel im historischen Raum ihre
Unschuld verloren hat. Die Instrumentalisierung des Glücksstrebens
durch Ideologien, die ›nur‹ in der Vernichtung den Sinn der
Geschichte und die Hoffnung auf eine
restitutio in integrum
anzusetzen vermögen, fällt in die mörderische (Vor-)Geschichte
Europas und es besteht kein Anlass, sie dort aufzusuchen, als
stelle sich in ihnen das Wort des Herrn in zeitgemäßer Verfassung
dar. Der Riss in der Geschichte, der die Zeitgenossen von ihnen
trennt, lässt sich nicht mit wohlfeilen Formulierungen kitten. Was
allerdings von der Instrumentalisierung der Instrumentalisierung zu
halten ist, die ihre Schäfchen sammelt, um unter dem Gebimmel von
Friedensglocken, die keinen der Kombattanten je erreichen, die
Universalität des Unheils ein weiteres Mal zum Angelpunkt
gegenwärtiger Politik zu erheben, wüssten die am ehesten zu
kommentieren, die sich nicht äußern, weil sie rechtzeitig
erschlagen wurden und nur als stumme Zahlenkolonnen in den
Schwarzbüchern des universalhistorischen Wahns ein eher
unscheinbares Nachleben führen.
17.
Mag sein, dass Agamben im Buch über den Ausnahmezustand ein wenig
die Pferde durchgegangen sind, dass die Versuchung, eine Rolle zu
spielen und damit zwangsläufig das Opfer von Missverständnissen zu
werden, mit denen der politische Raum bis zum Bersten gefüllt ist,
seine Intention in eine Richtung gelenkt hat, die ein wenig abseits
der bisher analysierten liegt. »Ich habe die moderne
Demokratie nicht mit einem Konzentrationslager verglichen«, sagt er
im Spiegel-Interview vom 25. Februar 2006. »Ich arbeite mit
sogenannten Paradigmen: das sind konkrete, historisch vorgefundene
Phänomene, mit deren Hilfe wir andere Problemfelder besser
verstehen können. In den Konzentrationslagern war das Gesetz
vollständig außer Kraft gesetzt, insofern bieten die KZ ein
perfektes Beispiel für den Ausnahmezustand.« Das mag zutreffen,
aber selbst dann enthält es allenfalls die halbe Wahrheit. Der
Ausnahmezustand, so steht es in
Die Zeit, die bleibt,
ist der Paulinische Zustand, in dem das Gesetz aufgehoben und der
Messias im Kommen ist. Man mag das Zerbrechen des biopolitischen
Dispositivs, das Verlangen nach einem Recht ohne Bezug auf das
Leben und einem Leben ohne Bezug auf das Recht, für eine legitime
politische Formel oder für den verzweifelten Versuch halten, der
Hoffnungslosigkeit zu entrinnen, die sich an das weitgehend
stillgestellte Projekt einer zweiten, das Herrschaftsparadigma
aufkündigenden Moderne geheftet hat. Doch eine Diagnose, die in der
radikalen Verrechtlichung des Lebens den Ursprung politischer
Willkür und irreversibler Depravierung des Einzelnen ortet
und
Diagnose bleibt, muss sich keineswegs mit den Preziosen des
»Ausnahmezustands, in dem wir leben« und der Behauptung von
Kontinuitäten behängen, die die Unterschiede zwischen
Regierungssystemen sowie die Möglichkeit, gut oder weniger gut
regiert zu werden, zu unwesentlichem Firlefanz degradieren. Es ist,
um Heideggers Beispiel aufzugreifen,
nicht dasselbe, ob ein
Land Erntemaschinen produziert oder Menschen ins Gas schickt, auch
wenn, wie hinreichend bekannt, der Einsatz von Erntemaschinen
massenhaft Existenzen vernichten kann und vernichtet hat. Es ist
nicht dasselbe, so wie der ›Rest‹ der Hoffnungslosen, die von der
Wohlstandssteigerung in den reichen Ländern nicht profitieren,
weder automatisch in Lagern lebt noch unter Ausnahmegesetzen steht,
die ihre langsame oder schnelle Vernichtung verfügen. Es ist nicht
dasselbe, so wie das letztere, wo es geschieht, als das andere
gesehen werden muss, gegen das jeder Widerstand geboten ist.
Aufrufe zum Widerstand ohne Widerstand, zum Dagegensein ohne
Dagegen
stehen, zum Kampf der Zitate zitieren nur den Kampf,
den sie nicht führen und dienen letztlich dazu, die eine Grenze zu
verwischen, an der es unabdingbar wird zu kämpfen. Ein ›Denken der
Gegenwart‹, das die Grenze zwischen legitimem und illegitimem
Widerstand nicht kennt oder durch willkürliches Verschieben
unkenntlich macht, ist nicht nur unterbestimmt, sondern fällt unter
die Verfehlungen des Heute, an denen kein Mangel besteht. Die
Hoffnung der Hoffnungslosen bedarf, um sich zu ›organisieren‹, der
unaufhebbar gedachten Würde, die eine unnachsichtig das Paradigma
bedenkende Theorie ihnen entzieht.
18.
»Versuchen wir, Foucaults Analyse weiterzuentwickeln. Die
fundamentale Zäsur, die den biopolitischen Bereich teilt, ist die
zwischen
Volk und
Bevölkerung. Diese Zäsur lässt aus
dem Schoß des Volkes selbst eine Bevölkerung hervorgehen,
verwandelt also einen im wesentlichen politischen Körper in einen
wesentlich biologischen Körper, bei dem es darum geht, Geburten-
und Sterberate, Gesundheit und Krankheit zu kontrollieren und
regulieren. Mit der Entstehung der Bio-Macht wird jedes Volk durch
eine Bevölkerung verdoppelt, jedes
demokratische Volk ist
zugleich ein
demographisches Volk.« Man mag das so sagen.
Agamben fährt fort (in
Was von Auschwitz bleibt): »Im
Nazireich markieren die Gesetze zum ›Schutze der Erbgesundheit des
deutschen Volkes‹ von 1935 genau diese grundlegende Zäsur.« Nun, es
ist guter demagogischer Brauch, die Dinge etwas anzuschärfen. Doch
diese ›grundlegende Zäsur‹ ist anders. Sie trennt das, was
allenfalls Theorie genannt zu werden verdient, von etwas, das mit
den Grenzen des Anstandes spielt, um in der Überschreitung das
Opfer-Dasein zu riskieren, das in der Formel vom nackten Leben
entrüstet zurückgewiesen wird. Es erstrebt eine Christusförmigkeit
der eigenen Existenz, auf die weniger das Wort ›Nachfolge‹ zutrifft
als das der ›Parodie‹ – einer Parodie, entfernt vergleichbar
derjenigen, der Nietzsche in
Ecce homo Gestalt verliehen
hat, jedoch unter umgekehrtem – Paulinischem – Vorzeichen. Die
Zurücknahme des modernen Intellektuellen in der Parodie des
Christós stößt allerdings in der applaudierenden Zustimmung
der Kollegen und ihrer journalistischen Helfer auf eine
undurchdringliche Mauer.
Beati inhabitantes einer
biopolitisch gut gerüsteten Zone, verweigern sie dem Emphatiker des
ununterscheidbaren Wortes die letzte, die entscheidende
Konsekration. Lass es gut sein, heißt das, wir haben verstanden,
wir haben das Lager als das Geheimnis unserer Existenz akzeptiert,
aber, bitte, sei so gut und spring nicht. Es ist gar nicht nötig
und es erfüllt auch gar keinen Zweck. Überhebe dich nicht, denn:
Wir haben dich gemacht. Und das ist sogar wahr.
19.
E.T.A. Hoffmann erweist dem – in diesem Fall nicht Schach
spielenden, sondern Fragen aus dem Publikum beantwortenden –
Automaten in der Erzählung
Die Automate seine
Reverenz. Sein Erzähler hält sich keinen Augenblick bei Poes
Problem des im Inneren der Maschine oder anderweitig verborgenen
menschlichen Wesens auf, an dessen Existenz ohnehin kein Zweifel
besteht. Ihn beunruhigt die Möglichkeit, dass ein mechanisch
gesprochenes Wort, dem kein persönlicher Rapport vorangeht oder
entspricht, in seinem Zufallsadressaten tiefe seelische Spuren
hinterlassen und zu einer lebensbedrohlichen Macht heranwachsen
kann. In der Fixierung der Zeitgenossen auf die Puppe ›historischer
Materialismus‹, die immer gewinnen
soll, entdeckt Benjamin
eine ähnliche Mechanik. Die seitens der Theologie in Aussicht
gestellte Hilfe trägt Züge, die sich erst dann erschließen, wenn
man die ganze Anordnung in Augenschein nimmt. Hoffmann konnte sich
schwerlich eine Welt vorstellen, in der jedes Individuum hundert-
und tausendfach in den Zielbereich von Sprechautomaten,
menschlichen und unmenschlichen, geraten würde, ohne Chance, ohne
Hoffnung, ihnen jemals ausweichen zu können. Sollte Benjamin
wirklich dem Geschwätz, das sich in der Rede von der
»entscheidenden theoretischen Schlacht« brüstet, verfallen gewesen
sein? Das ist schwer vorstellbar. Eine hoffmanneske Lektüre der
ersten geschichtsphilosophischen These ›müsste‹ – sofern sie es
wollte – die verstörende Banalität der Sätze illuminieren, die aus
den geschichtsmächtig gewordenen Sprechautomaten quellen. Sie
könnte, immerhin, im
ennui der Freunde die erfahrende Kraft
aufsuchen, der es hin und wieder gelingt, die schwierigen Energien
abzuleiten, die aus den Wörtern vergangener Epochen in die
Gegenwart einfließen. Und sie könnte – dritter Gedanke – die Art
von
Glück bedenken, das den erwartet, der immer Recht
behält, weil er der ist, in dem es sich aufhebt. Abseits der Wörter
ist es die Trivialität des Geschehens, die dort, wo es blutig zu
werden verspricht, den Betrachter beunruhigt – dieselbe
Trivialität, die den Alltag unnachdrücklich begleitet und stützt
und lebbar gestaltet.
Autor: Ulrich Schödlbauer