Gertraud Sommer
Zeng Mi
1.
Zeng Mi wurde 1935 in der südostchinesischen Küstenstadt Fuzhou
(Provinz Fujian) geboren. Er studierte Landschaftsmalerei an der
Nationalen Akademie der Schönen Künste in Hangzhou (Provinz
Zhejiang). Seine künstlerische Tätigkeit, die ihm rasch
Erfolg gebracht hatte, wurde durch die Kulturrevolution für eine
lange, leidvolle Zeit unterbrochen. 1979 erfolgte seine
Rehabilitation. Auf dieses Ereignis spielt das Siegel auf dem Bild
Im Regen an (»Zweiter Tag
im ersten Monat«). 1980 wurde Zeng Mi an die Zhejiang Malakademie
in Hangzhou berufen. Heute sieht man ihn in seiner Heimat wie in
anderen asiatischen Ländern, in Europa und in Amerika in wachsendem
Maße als einen der bedeutenden Neuerer des freien, expressiven
Zweigs der chinesischen Tuschemalerei.
2.
Zeng Mi ist einer der Meister, die sich noch in langer,
anspruchsvoller Schulung die verfeinerte Technik und die
ästhetischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien der
chinesischen Tuschemalerei angeeignet haben. Die komplexe, in
vielen Jahrhunderten entwickelte Tradition der chinesischen
Tuschekunst nennt er groß und kostbar, er fühlt sich ihr sehr
bewusst und tief verbunden. Gleichwohl lässt er sich von ihren
Gesetzen und Vorgaben nicht einschränken. Behutsam, aber kraftvoll
überschreitet er ihre Grenzen, soweit sie ihn hindern, seine
Eigenart, seinen Gestaltungswillen und seine Offenheit für die
Einflüsse fremder Kulturen zum Ausdruck zu bringen. Aus
kalligraphischen Aufschriften seiner Bilder lässt sich erkennen,
dass er diesen Weg nicht ohne innere Widerstände gegangen ist.
Festgehalten hat Zeng Mi an der »zentralen Möglichkeit des
Ausdrucks durch die Linie, die der Pinsel zieht« (Zeng Mi). Der
raffiniert gebaute chinesische Tuschepinsel ist im Zusammenspiel
mit den Eigenarten von Yuanpapier oder Seide als Malgrund ein
hochsensibles Instrument, das geeignet ist, jeder auch unbewussten
Intention des Künstlers zu folgen. Anders als in der europäischen
Malerei hat der Strich des chinesischen Tuschemalers ein
Eigenleben; er verbreitert oder verschmälert sich, wechselt
zwischen Hell und Dunkel, oder trennt sich in der Technik des
›überflogenen Weiß‹ in mehrere Linien, zwischen denen der helle
Untergrund aufscheint; er kann ›nass‹ oder ›trocken‹ sein, und das
alles in einem einzigen Zug, einem Rhythmus folgend, der, bewusst
gesetzt, in einer eigenständigen Beziehung zum dargestellten Thema
steht.
3.
Wie verfeinert die Handhabung dieser malerischen Mittel ist, lassen
die Bezeichnungen für die 18 Stricharten ahnen, die im
Senfkorngarten, einem berühmten Lehrbuch aus dem 17.
Jahrhundert, aufgezählt sind. Die Striche tragen da Bezeichnungen
wie ›Striche wie kleine oder große Axthiebe, Striche wie ein
aufgetrenntes Seil, Striche wie Wasserstrudel, Striche wie Runzeln
eines Teufelsgesichts‹. Die Aufmerksamkeit, die man auf die
Ausführung der Striche wendet, ist ein Hinweis darauf, dass nicht
der Gegenstand der Bilder im Vordergrund der Hervorbringung steht,
sondern die Qualität der Malweise. Jede Einzelheit - ihre
Virtuosität, Energie, Geschwindigkeit, jedes Heben und Senken des
Pinsels, jedes Verweilen und jeder neue Ansatz - bleibt im
Erscheinungsbild aufbewahrt. Der künstlerische Akt spiegelt den
Charakter, die Energie, die Kunstfertigkeit,die Gefühle,die
augenblickliche Befindlichkeit und die Erkenntnistiefe des
Malenden. Der Betrachter kann den Entstehungsprozess
nachvollziehen. Das dynamische Ereignis der Strichführung, so wie
es auf dem Malgrund Gestalt gewonnen hat, ist der künstlerische
Gegenstand der chinesischen Tuschemalerei.
4.
Das Konzept seines Bildes beschwört der Künstler idealerweise in
meditativer Konzentration und schreibt es dann in einem Zuge
nieder. Man nennt diese Malweise
xie yi - Niederschreiben der Idee, des schöpferischen Konzepts, der
geistig-bildlichen Erkenntnis. Wie ein Seismograph reagiert xie-yi
auf alle Änderungen der geistigen Einstellung, auf alle inneren und
äußeren Impulse in der augenblicklichen Verfassung eines Künstlers.
Ein Grundzug dieser Kunst ist Subjektivität und Abstraktion, nicht
jedoch Gegenstandslosigkeit. Die Linien und Strukturen (Knochen
genannt), daneben die Tuschlavouren (Fleisch genannt) der
chinesischen Tuschemalerei rufen vielmehr im Betrachter Bilder von
Gegenständen hervor - von Bergen, Wasser und Wolken, von Pflanzen,
Tieren, auch von Personen und Dingen. Shitao, ein Meister des 18.
Jh, den Zeng Mi verehrt, beschreibt diesen Vorgang: »Durch einen
flüchtigen Pinselstrich nehmen Berge und Wasserläufe, alle
Lebewesen und die Wohnstätten der Menschen ihre Gestalt und Gebärde
an. Geist und inneres Wesen der Berge und Wasserläufe, Entwicklung
und Wachstum der Schöpfung, die Wirkkraft von yin und yang, alles
wird durch Pinsel und Tusche offenbart, zur Wiedergabe des Kosmos
und uns zur Freude. Man weiß nicht, wie ein solches Bild entstanden
ist, aber der Malvorgang weicht nie von dem erkennenden Geist ab«
(übersetzt von Victoria Contag). Der Sinn dieser Malerei liegt
nicht in der Abbildung der äußeren Wirklichkeit. Das Geschehnis des
Malens ist vielmehr der Augenblick, in dem die geistigen
Strukturen, der Lebensatem und Lebensrhythmus, der
Lebenshintergrund des Malers und der der Erscheinungswelt in eins
gesetzt werden und zur Darstellung kommen. Die Darstellung wird
dabei auf das Wesentliche reduziert.
5.
Wang Caiyong, ein zeitgenössischer chinesischer Philosoph, führt
sinngemäß dazu aus: Der Wahrheitsgehalt des Dargestellten liegt in
der chinesischen Kunst nicht einfach im sinnlich Erfassten, im
Sichtbaren, sondern im geistig Aktivierten, im Unsichtbaren.
Einerseits hebt die Gestaltung die Gegenstandsform hervor,
andererseits verweigert sie die sichtgerechte Qualität der
Darstellung. Die Wahrnehmung der chinesischen Kunst ist auf die
empfangende Aktivität des Geistes angewiesen. Das Dasein der
Gegenstandsform aber untersagt eine bloße subjektive Projektion.
Die künstlerische Qualität richtet sich nach dem gestalterischen
Gleichgewicht zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, das
geeignet ist, im Betrachter einen Rhythmus zwischen Wahrnehmen und
geistigem Ergänzen und schließlich eine Überschreitung sowohl des
Objektbewusstseins als auch des Ichbewusstseins auszulösen. - Das
schöpferische Spiel zwischen Darstellen und Verhüllen ist ein
wesentliches Gestaltungselement der chinesischen Tuschemalerei.
Diese Kunst zwingt sich nicht auf, sie öffnet Wege für den, der
sich auf sie einlässt. Sie macht den Betrachter zum Mitschaffenden
bis an jene Grenze, wo er sein enges Ich überschreiten darf und
Freiheit spürt, ohne dass er den Schutz der gemeinsamen
Wirklichkeit verlassen muss. Die alle Menschen umgreifende
Wirklichkeit aber ist für Chinesen der Kosmos. Die chinesische
Welterklärung kennt keine Gegenübersetzung von Welt und Mensch. Der
Mensch ist hier ohne Sonderrolle Teil alles Gewordenen. Die
kosmischen Gesetze, die die Natur durchwalten, wirken gleichmäßig
in allen Erscheinungen, im Großen wie im Kleinsten, im aufragenden
Berg wie im Stein, im Menschen wie im Insekt. Von den Kräften,
Strukturen und Gesetzen des Kosmos, wie sie in den Erscheinungen
der Natur erfahrbar werden, fühlt der chinesische Künstler sich
selbst bestimmt und gedeutet. Wie alle anderen Naturerscheinungen
ist nach dieser Anschauung der Mensch entstanden aus dem
Namenlosen, das heißt aus der Fülle des Ungestalteten, die auch das
Nichts genannt wird.
6.
Der erste Satz des Tao Te King lautet: »Das Tao, das man
benennen kann, ist nicht das wahre Tao.« Der Weg zur Annäherung an
das Tao ist das intuitive Erfassen auf dem Weg der Meditation. Ein
Weg dorthin ist das Bemühen um die Meisterschaft über Pinsel und
Tusche. Diese Grundhaltung ist durch den Zusammenprall mit
westlichen Lebensentwürfen nicht unangetastet geblieben. Sie ist
jedoch zu tief verankert, um in kurzer Zeit ausgelöscht zu werden.
China entwickelt seine eigene Moderne, die durch das Gewicht der
eigenen Tradition mitbestimmt ist. Zeng Mi weigert sich aus dieser
Grundhaltung heraus, den Schritt zu ausschließlich westlichen
Gestaltungsweisen zu tun. Er unternimmt die schwere und mutige
Arbeit, die Grenzen der traditionellen Tuschemalerei zu erweitern,
ohne Bruch, ohne Zerstörung, ohne Preisgabe ihrer bis heute
lebendigen Wirksamkeit. Gleichzeitig sucht er Antwort auf den
unerhört schnellen und tiefgreifenden Wandel in Weltbild und
Lebensführung, den die chinesische Gesellschaft seit dem Ende des
19. Jahrhunderts erfahren hat. Zeng Mi beschreibt diese
Gratwanderung so: »Um die chinesische xie-yi-Malerei wirklich
weiterzuentwickeln, gilt es zunächst, die der traditionellen
chinesischen Malerei innewohnende Spiritualität zu verstehen. Sonst
kann man die eigene Kreativität nicht kanalisieren. Das Vertiefen
geht dem Überwinden voran. Nur dann können gute Arbeiten aus der
Gewissenhaftigkeit der neuen Zeit geschaffen werden. Mit klaren und
einfachen Mitteln komplizierte und tiefe Sinnzusammenhänge
darzustellen, aus dem Leben schöpfend Stil zu bilden - diese solide
künstlerische Tradition bietet heutigen und kommenden Malern
breitesten expressiven Raum«. Diesem Anspruch korrespondieren seine
technischen und gestalterischen Mittel. Sein Pinselstrich ist
virtuos und kraftvoll, expressiv und gelegentlich direkt bis zur
Grobheit. Die Faszination seiner Bilder erwächst aus der
durchgehaltenen Spannung zwischen dramatischer Intensität des
Ausdrucks und suggestiver Hintergründigkeit, zwischen tiefer
Sammlung und vibrierender Dynamik. Ästhetischer Reiz entsteht durch
Verdichtung und Verfremdung des Sichtbaren. Mit wenigen Strichen
erfasst er komplexe Inhalte. Die Darstellung ist ganz ins
Vordergründig - Flächige gezogen. Die Tiefe in diesen Landschaften
ist nicht räumlich, sondern spirituell. Es gibt bei ihm
Landschaften in dichter, herber Schraffur. Viele sind dunkel -
gelegentlich bis zur Unkenntlichkeit. Diese Dunkelheit aber steht
in intensivster Wechselwirkung mit den - manchmal winzigen -
unbemalten Teilen der Bilder, die mit explosiver Leuchtkraft
zwischen den schweren Rhythmen der schwarzen Striche aufstrahlen.
Nach seinen eigenen Worten malt Zeng Mi in der Freiheit zur
Verformung und Übertreibung, um seinen Eindruck von der
Wirklichkeit zu steigern. Er weigert sich jedoch, Fratzenhaftes,
Verzerrtes, Brüchiges zu malen oder Bilder, die nicht unmittelbar
visuell erkannt und in ihrer ästhetischen Wirkung empfunden werden
können. Seine Sprache ist die Sprache der Form. Er verzichtet nicht
auf die Erinnerung an Gegenständliches, aber er schafft kein
Abbild. Es gibt bei ihm mehr zu erkennen, als zu sehen. Seine
Bilder folgen der Idee der Kreisform, die Zeng Mi Mutter des Kosmos
und der zehntausend Dinge nennt. Diese Grundgestalt ist nicht
formalistisch konzipiert. Sie kann auch durch s-förmige Schwenkung
oder durch Ausgewogenheit erfüllt werden.
7.
Zeng Mis Bilder sind trotz aller Kompromisslosigkeit und
gelegentlichen Heftigkeit von einer wesenseigenen Harmonie. Die
Geschmeidigkeit in Konzept und Technik des xie-yi erlaubt ihm,
Impulse aus fremden Kulturen aufzunehmen. Er erwidert diese
Begegnungen mit intensiver Aneignung und Durcharbeitung der fremden
Gestaltungsweisen. So hat er nach dem ersten Blick auf afrikanische
Kunst etwa ein Jahr lang Bilder gemalt, die in Thematik und
Ausführung afrikanischem Vorbild folgen. Nach einer Tibetreise
folgte ein ›tibetanisches Jahr‹. Spätere Bilder spiegeln die
Eindrücke einer Ägypten- und Türkeireise. Nach solchem
eindringlichen Durchleben fremder Kulturen ist Zeng Mi jeweils mit
neuer Freiheit zu den Prinzipien der xie-yi-Malerei zurückgekehrt.
Er nützt diese Freiheit mit Mitteln, die uns oft nicht auffallen,
weil sie unseren Augen vertraut sind, die jedoch für den
traditionsliebenden chinesischen Künstler einen schmerzhaften
Tabubruch bedeuten. So hat Zeng Mis expressives Spiel mit Licht und
Dunkel keine Entsprechung in der überkommenen Tuschemalerei.
Traditionelle Themen treten bei ihm in ungewöhnlichen Kompositionen
auf, Strukturen ergeben sich aus eigenwilliger, kraftvoller
Lineatur, die sich auch auf die kalligraphischen Aufschriften
erstreckt. Seit einigen Jahren strukturiert Zeng Mi den Hintergrund
von Bildern, indem er in einer Technik des gelenkten Zufalls das
Blatt von der Rückseite her mit verschieden abgetönter Tusche
tränkt. Mit zusätzlichen Pinselstrichen auf der Vorderseite schafft
er dann Bilder von starker atmosphärischer Wirkung. Der Hintergrund
ist hier nicht mehr verborgen, sondern wird selbst Gegenstand der
Darstellung. Gelegentlich überschreitet Zeng Mi das Verbot der
Gleichbehandlung aller vier Ecken eines Bildes oder er stellt
vorübergehende Zustände dar, etwa die Nacht durch Dunkelheit statt
durch Symbole wie Mond oder schlafende Menschen, oder die
Lichteinwirkung durch Schattenwurf. Gelegentlich stellt er
Gegenstände als Objekt der Betrachtung in die Mitte eines Bildes.
Sein ausgeprägtes Selbstgefühl erlaubt ihm, fremde Einflüsse
anzunehmen, ohne sich ihnen auszuliefern. Seine Bilder sind ein
fremder Spiegel und ein starker Widerpart der westlichen Kunst.
Literatur
Zeng Mi, Entwurf zu einem Vortrag an der Universität München, 1993,
Übersetzung Violetta Zhang
Senfkorngarten, Lehrbuch der chinesischen Malerei, Einführung in
die Malerei durch Qing Zaitang (Übersetzung: Emilie Sun-Madden)
Lin Yutang, Chinesische Malerei, eine Schule der Weisheit,
Stuttgart 1967, übersetzt von Liselotte Eder
Brücken und Brüche. Chinesische Malerei im 20. Jahrhundert, München
1998 (Reihe Orientierungen, hrsg. von Berthold Damshäuser und
Wolfgang Kubin)