Manfred
Riedel: Geheimes Deutschland.
Stefan George und die
Brüder Stauffenberg
Köln Weimar Wien
(Böhlau) 2006, 267 S.
Vom
Geist Georges zur Tat Stauffenbergs – Manfred Riedels Rettung des
Reiches
Dank einem postmodernen Satyrspiel ist
die deutsche Tragödie unversehens ins Bewusstsein
gerückt.
Dem Streit um den Scientology-Anhänger Tom Cruise als
Stauffenberg-Darsteller in einem Hollywood-Filmprojekt ist es zu
verdanken, dass das Gedenken an Claus Graf Schenk von Stauffenberg,
dessen 100. Geburtstag am 15. November 2007 ansteht, zum
öffentlich-medialen Thema geworden ist. Kommt man an
Gedenkveranstaltungen nicht vorbei, so ist Sorge zu tragen, dass der
Hitler-Attentäter aus dem
›nationalistischen‹
Kontext deutscher Geschichte in den übernationalen
europäischen Rahmen gestellt wird. Denn die Erinnerung an den
Mann, der, dem Zeugenbericht zufolge, nach dem Scheitern seiner
Befreiungstat dem Erschießungspeleton »Es lebe das
heilige
Deutschland!« entgegenrief, passt nicht in die ideologische
Landschaft der Bundesrepublik.
Selbst
die Chiffre
›heimliches Deutschland‹, dem sein Ausruf
vermutlich
galt, taugt nicht zur Sensibilisierung der überwiegend
anational
eingestellten ›Eliten‹, schon gar nicht der von
Stauffenberg angeregte Schwur, am Vorabend des Attentats von Rudolf
Fahrner und Berthold Stauffenberg im elitären Geist Stefan Georges verfasst, in dem es
heißt: »Wir glauben an die Zukunft der Deutschen.
Wir
wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die
Gemeinschaft
der abendländischen Völker zu schönerem
Leben zu
führen. [...] Wir wollen eine Neue Ordnung, die alle Deutschen
zu
Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit
verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und
beugen uns
vor den naturgegebenen Rängen.« Der »Schwur«
sollte den inneren Zirkel der Verschwörung nach der
»deutschen Erhebung«, wie sie dem Gneisenau-Urenkel
Stauffenberg vorschwebte, binden, selbst im Falle einer Besetzung
zusammenzustehen und gegenüber der Fremdherrschaft »die
Erneuerungsgedanken« in Deutschland zu verwirklichen.
Von
derlei »vaterländischen Gefühlen«, zu denen
sich der Stauffenberg-Vetter Peter Yorck von Wartenburg vor
Freislers »Volksgerichtshof« bekannte, will die politische
Klasse in Deutschland nichts wissen. Noch
vor wenigen
Jahren konnte die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher
kundtun,
der Fehlschlag des 20. Juli 1944 sei historisch zu
begrüßen,
da er das Aufkommen einer Dolchstoßlegende verhindert habe.
Keine
Reflexion über die Beendigung der NS-Mordpraxis, über
die von
den Verschwörern angestrebte Selbstreinigung, kein Wort der
Trauer
über die unzähligen Opfer (auf beiden Seiten) des
letzten
Kriegsjahres, über die Zertrümmerung der deutschen
Städte, über den Verlust der alten deutschen
Kulturlandschaften im Osten...
Bezüge zur
deutschen Nation
und ihrer Geschichte finden – nach einer kurzen Phase der
Unbefangenheit in den ersten Jahren nach dem Mauerfall –
ungeachtet allerlei verkrampfter Bekenntnisse zu
»fröhlichem
Patriotismus« (Bundestagspräsident Norbert Lammert,
CDU)
grundsätzlich nur ex negativo statt. Als Staatsideologie
dienen
europäische und/oder universalistische Bekenntnisse sowie, in
der
Diktion des Schulabbrechers und Ex-Außenministers Joseph
Fischer,
der »Gründungsmythos Auschwitz«. Die bis
dato
errichteten Geschichtssymbole der ›Berliner
Republik‹
dienen augenfällig dessen Befestigung. Der rituelle Bezug auf
die
NS-Verbrechen impliziert zudem kaum verhüllt den Begriff einer
deutschen Kollektivschuld. Mehr noch: In der radikal säkularen
Gegenwart, genauer: in der vollendeten
»abendländischen
Gottlosigkeit« (Dietrich Bonhoeffer), dient die Phrase von
den
Deutschen als ›Tätervolk‹ als
Sinnsurrogat, nicht
zuletzt der Externalisierung der irritierenden Frage nach der
Realität des Bösen. In scheinbarer Paradoxie
korrespondiert
der instrumentelle Umgang mit den NS-Verbrechen den hedonistischen
Bedürfnissen der liberalen Gesellschaft.
In
solcher Atmosphäre erscheint Manfred Riedels Buch mit
dem Titel Geheimes Deutschland
auf den ersten Blick wie ein geistiger Befreiungsschlag. Wer sich von
dem expressionistischen Gemälde Erich Heckels – der Meister
mit drei Jünglingen in Nietzscheanischer Gebirgswelt – auf dem
Umschlagbild nicht unmittelbar angesprochen fühlt, der liest
auf
der Rückseite folgende Sätze: »Was wir von
der
absonderlichen theologischen Erfindung einer deutschen Kollektivschuld
– wann hätte es in 5000 Jahren Weltgeschichte
dergleichen
gegeben – zu denken haben, darauf geben die Blutzeugen der
deutschen Erhebung eine Antwort. Darum sind nicht hunderte der edelsten
Deutschen für die Freiheit ihrer Heimat und Europas
ungebrochen in
einen grauenhaften Tod gegangen, damit wir uns in flagellantenhafter
Selbstbezichtigung ergehen. Als Deutsche tragen wir mit an der
Kriegsschuld und dem Blute, das eine verbrecherische deutsche Regierung
mit tausenden ihrer Satelliten sehr gegen unseren Willen auf sich
geladen hat. Und wir tragen die Folgen, einem Gesetze der Geschichte
gemäß, wie es von jeher gegolten hat.« Die
Worte
entstammen einer 1948 gehaltenen Gedenkrede von Alexander Stauffenberg,
dem Überlebenden der drei Brüder.
Derlei Zitate wirken als heilsame Provokation. Riedels Buch ist einerseits getragen
von der Verehrung der Protagonisten des 20. Juli und dem Schmerz
über die sich in ihrem Scheitern vollendenden deutschen
Tragödie, andererseits vom Bekenntnis zu Stefan George als
Künders eines »europäischen
Deutschland«, dessen
Dichtung, wegen ihres »hohen Tones« von der
Germanistenzunft zu Unrecht außer Kurs gesetzt,
längst
der Aktualisierung offen stehe. Unter diesem Doppelaspekt
zerfällt
das Buch in zwei Teile: in vier historische Kapitel über die
Beziehung der drei Stauffenbergs zu Stefan George und dem George-Kreis
sowie vier Kapitel mit Interpretationen von Schlüsselgedichten
als
Zugang zur Ideenwelt des ›Geheimen Deutschland‹.
Prolog
(»Sage und Ruf von einem geheimen Deutschland«) und
Epilog
(»Nur durch die Klage wird das rühmen
wahr...«)
umschließen die aus Vorträgen über das
zentrale Gedicht
Geheimes Deutschland sowie der Abschiedsvorlesung
an der Universität Halle-Wittenberg hervorgegangenen Essays.
Die Rahmenkapitel fesseln durch einprägsame biographische
Details.
Nach seiner Befreiung erfuhr Alexander Stauffenberg vom Tode
seiner – einer deutsch-jüdischen
Emigrantenfamilie aus
Russland entstammenden – Frau Melitta. Als
Versuchspilotin
der Luftwaffe aus Gestapo-Haft entlassen und für den Dienst
reaktiviert, nutzte sie ihre »kriegswichtige«
Funktion, um
die über das ganze Reich in »Sippenhaft«
zerstreute
Stauffenberg-Familie ausfindig zu machen. Bei dem Versuch, ihren Mann
aus dem KZ Schönberg im Bayerischen Wald zu befreien, wurde
sie
Anfang April von einem amerikanischen Jagdflugzeug abgeschossen. Im Juni 1945
hielten die Amerikaner Alexander für Monate zu Vernehmungen im
Frankfurter Hauptquartier in fest, wo sie ihn am gleichen Tisch mit
einem Generalfeldmarschall (Gerd von Rundstedt), der als Vorsitzender
von Hitlers »Ehrengerichtshof« seine
Brüder als
»ehrunwürdig« aus dem Heer
ausgestoßen hatte,
platzieren wollten. Seiner Professur als Althistoriker beraubt, fand er
sich mit Georgeanern um den Germanisten Rudolf Fahrner in
Überlingen am Bodensee zusammen. Sowohl Alexander (Offa)
als auch Fahrner litten in jenen Jahren unter Depressionen, was sie
hinderte, selbst ein historisches Werk über den 20. Juli zu
verfassen. Auf Bitten Alexanders übernahm der seit 1944
befreundete Mediziner Eberhard Zeller, wie die Stauffenbergs Absolvent
des Stuttgarter Eberhard-Ludwig-Gymnasiums, diese Aufgabe.
Aus
der mühseligen Überlinger Existenz heraus suchte
Alexander
die Freundschaftsbande mit den in alle Welt versprengten
jüdischen
Gefährten zu erneuern. Nach zwei unbeantworteten Briefen mit
beigelegten Gedichten antwortete Ende 1947 Ernst Kantorowicz (Eka)
aus Berkeley, Kalifornien: »Alexander, mein
Lieber...«.
Kantorowicz, der sich im Exil aus der georgeanischen Gedankenwelt
seiner Staufer-Biographie Friedrich II. (1927)
gelöst
hatte, ermutigte den Freund zur dichterischen Verarbeitung der
»epischen« und »mythischen« Tat
des 20. Juli.
Aus Auckland im noch ferneren Neuseeland antwortete der erblindete Karl
Wolfskehl, ungeachtet einer unbedachten Kränkung durch Zeilen
in
Alexanders George-Nachruf (»Der Tod des Meisters«,
1943),
mit einem Gedicht Zu Schand und Ehr, in dem die
Bitternis
über die zerbrochene deutsch-jüdische Symbiose sich
der
Achtung vor der Befreiungstat nicht verschließt, sondern in Georgescher Diktion in einen Hymnus mündet:
[…]
Dass
Edle waren, nicht bloß Fugversessne,
Hell-Hellasäugige,
nicht nur Wahnbesessne-
Wenige?
Scharen? Zählt nicht! Ehrfurcht beugt
Mein
Knie, wenn nur mit Blut fürs Ewige gezeugt.
Vom Berg der Stauffer leuchtender Zwillingsturm,
Im
Dichter ragst, trotz Mobs und Moiras Murrn,
Ja,
trotz kurzgriffiger Eifrer Überschwang,
Die
nichts sehn als was eignem Beet entsprang,
.......Durch dich ist Geist und Reich und Zeit geweiht,
.......Vom Rhein bis Mittmeer atmen wir befreit.
.......Ein Lorbeerforst von Ruhm und Weh gedeiht
.......Um dich Harmodios, dich Aristogeit.
Gegenüber
seiner Frau Nina äußerte Claus Stauffenberg einmal,
er
betrachte es als die Gnade seines Lebens, »den besten Freund
in
meinem Bruder (Berthold) gefunden zu haben und dem
größten
Mann meiner Zeit (George) verbunden zu sein.« Die Bedeutung
Stefan Georges im Leben der Brüder Stauffenberg wird von
Riedel
anhand manch neuer Dokumente eindringlich herausgearbeitet. Bei den
bündischen »Neupfadfindern« wurde die
Begeisterung
für den von der Jugendbewegung zum Propheten erkorenen Dichter
des
Stern des Bundes (1914) erweckt. Der
15jährige Claus sandte
George seine Gedichtversuche (in denen er sich als Nachfahre der
Ottonen und Staufer apostrophierte). Wenig später wurden die
Brüder in Heidelberg und Marburg in den George-Kreis, in den
von
Platon inspirierten »Staat« des Dichters
aufgenommen. Um Ostern 1924 legten Freunde aus dem George-Umkreis
darunter Berthold Stauffenberg, auf einer Italienreise am Sarkophag
Friedrich II. im Dom zu Palermo einen Kranz mit der Inschrift nieder:
SEINEN KAISERN UND HELDEN / DAS GEHEIME DEUTSCHLAND. Wie
alle Georgeaner pflegten die Brüder den Schreibstil des
»Meisters« mit Kleinschreibung sowie
idiosynkratischer
Orthographie und Interpunktion. Den letzten Gedichtband Das
Neue Reich (1928) mit dem bereits 1922 entstandenen Geheimes
Deutschland widmete George Berthold Stauffenberg, dem
Zwillingsbruder Alexanders.
Über
alle Trennungen und Spaltungen des George-Zirkel gehörten die
Stauffenbergs zum inneren Kreis der Jünger. Neben Robert
Boehringer, der 1939 die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm,
wurden Berthold und – nach dem Soldatentod des
Freundes Frank Mehnert 1943 – Claus als Erbverwalter
eingesetzt. Mit
der Rezitation von George-Gedichten, nicht zuletzt Der
Widerchrist
(»Der Fürst des Geziefers verbreitet sein
reich·«), bewegte Stauffenberg, seit Herbst 1943
Motor der
Verschwörung, Offizierskameraden zum Handeln gegen den
Verderber
Deutschlands. Noch in den Julitagen vor dem Attentat nahmen Claus und
Berthold in langen nächtlichen Lesungen (in der Wohnung
Tristanstraße 8, Berlin-Wannsee) die Endredaktion des von
Alexander
verfassten Poems Tod des Meisters vor.
Eingebettet
in
die biographischen Kapitel präsentiert der Philosoph Riedel
sein
leidenschaftliches Plädoyer für die Geisteswelt
Georges.
Seine Hoffnung, so die einleitende Erläuterung, sei, dass der
Leser in den als Geschichtsbuch zu lesenden Gedichten die Grundvision
des »geheimen europäischen Deutschland«,
sich selbst
»als deutscher Europäer und europäischer
Deutscher« wiedererkenne, »dass er erfahre, warum
Europa
›mehr‹ ist als ›der Westen‹
und dass seine
geistige Urstiftung auf Kapitalien einer Geschichte von langer Dauer
beruht, die der westliche Kapitalismus aufzulösen in Gefahr
steht.«
Das Bemühen, George und die Helden des 20.
Juli vor dümmlichen
›Nationalismus‹-Attacken zu
bewahren, ist verständlich und berechtigt. Warum dann die
Einfügung des Attributs
›europäisch‹ in die
Formel des ›geheimen Deutschland‹? Der Leser
spürt,
dass der Autor seine George-Exegese vor Angriffen zu schützen
bedacht ist.
Riedel
verweist auf die poetische
Nähe zum
französischen Symbolismus, den sich George im Kreis um
Stéphane Mallarmé in den 1890er Jahren aneignete.
Die
Pariser Lehrjahre weckten im Rheinländer George die
Wertschätzung für das geistesverwandte Nachbar- und
Schwesterland (»Franken«), immunisierten ihn gegen
engstirnigen Nationalismus und begründeten seine Distanz zur
preußischen
Reichsgründung, zum
»öffentlichen« Deutschland.
Georges
Denken stand im Banne Nietzsches, des
Preußen-Verächters und
Zertrümmerers der Hegelschen Metaphysik. Über
Nietzsche
zurück zu Hölderlin – ihn feierte er im Neuen
Reich
in der 1914 entstandenen Trias (»Hyperion I · II
·
III«) – gelangte George zu einer
»katholischen«
Synthese von Heidentum und Christentum, von Hellas und Germanien.
Riedel betont zudem die Bedeutung der alttestamentarischen Propheten
für Georges Dichtergestus. Georges Ideenwelt, befestigt durch
Platons Metaphysik und Gegenbild des idealen Staates, mündete
in
die Vision des ›Neuen Reiches‹. In Riedels
Interpretation
handelte es sich um einen spezifisch deutschen, aber
unverfänglichen Begriff von Europa, um
»Hesperien«, um
das erstmals von Hölderlin dichterisch beschworene Abendland
aus
hellenischem, christlichen und deutschen Geist.
Bis
dahin gibt
es an der Explikation der Georgeschen Gedankenwelt wenig zu deuteln.
Von dem Philosophen Riedel hätte man sich, über die
bloße Apologie des Dichters und Sehers hinaus, eine
schärfere Analyse der philosophischen Kategorien des
Georgeschen
Geistes erhofft. Wie steht es nach der Antimetaphysik Nietzsches mit
Georges platonischem Gottesbegriff, wie nach den antichristlichen
Invektiven ›Zarathustras‹ mit dem christlichen
und den
heidnischen Elementen in Georges Bewusstsein? Dem Schüler
Edgar
Salin zufolge war George »nicht deutscher Katholik,
sondern...der
erste katholische Nicht-Christ.« Wie stand es um das
Verhältnis von Athen und Jerusalem bei dem – nach
Riedel
– »reinen Nietzscheaner« George, der
indes »vor
dem Abgrund«, dem Sturz in atheistischen Nihilismus
zurückschreckte? Welche Art von Metaphysik – nach
Nietzsche
und Heidegger – hält Riedel für
tragfähig? Welche
Substanz lag dem im »Schwur« beschworenen
»Göttlichen« zugrunde?
Als
Dichter war der Nietzscheaner George ein Eklektiker, kein
eigenständiger Philosoph. Widersprüche ragen in
Georges Denken hervor – er changierte zwischen Bekenntnis und
Ablehnung der Aufklärung, er zeigte anfangs gewisse Sympathien
für die Oktober-Revolution, ursprünglich genährt von
Wertschätzung für Alexander Herzen, den vom russischen
»Westler« zum »Volkstümler« gewandelten
Revolutionär. Nicht zufällig erkoren elitär (und
sozialromantisch) gestimmte Revolutionäre der Münchner
Räterepublik – Riedel verrät uns nicht, ob es sich um
Gustav Landauer und Erich Mühsam handelte –, Georges Gedicht
Einzug (»Voll ist die zeit · / Weckt das gefeit / schlief mit gegrolle«) ohne sein Wissen zum Marschlied.
Eine
Auseinandersetzung mit
Stefan Breuer,
der Stefan George als Protagonisten des
Ȋsthetischen
Fundamentalismus« und des »deutschen
Antimodernismus«
abgewertet hat, wäre wünschenswert gewesen. Es
hätte
Gelegenheit geboten, die Kategorien des Soziologen Breuer als der
Thematik des Sinnverlusts in der Moderne nicht minder unangemessenen
›psychologischen Fundamentalismus‹ abzuweisen.
Riedels
Ausführungen über die Beziehungen Georges zu Wilhelm
Dilthey,
insbesondere zu Max Weber, dessen Protestantismus-Thesen samt
Kapitalismus- und Amerikakritik unmittelbar in Georges Dichtung
einflossen, widerlegen das Bild eines simplen Antimodernismus. Die
Heidelberger Jahre im Austausch mit Max Weber hätten George,
so
Riedel, vor »Romantik« bewahrt. Dem steht ein
Bericht Edgar
Salins über Georges Aversion gegen Modernisierungstechniken des Industriezeitalters –
wie
den Ausbau des Neckar oder die Verwendung von Kunstdünger in
der
Landwirtschaft – entgegen. Georges Seele war gespalten wie im
Gefolge Rousseaus bei so manchem Intellektuellen: angezogen von
der pulsierenden Modernität der Großstadt – Berlin
bildete einen jährlich aufgesuchten Schwerpunkt seines
»Staates« – und verlangend nach der Anschauung von unverbrauchter Natur und bäuerlicher Kultur.
Dass
Riedel im Anschluss an den
– nicht erwähnten – Eric Voegelin die von
George aus
seiner Sicht eindeutig abgewiesenen totalitären Ideologien
–
Nazismus und Bolschewismus – als gnostische Verirrungen
charakterisiert, gehört nicht zu den Stärken seiner
Argumentation. Im Gegenteil: Stecken im Georgeschen Gestus des Sehers
eines ›Neuen Reiches‹ nicht allein vom Begriff
her
›gnostische‹ Elemente? (Die Frage ist im Hinblick auf das
heilsgeschichtliche Grundmotiv des ›Dritten Reiches‹, dem
Ursprung nach das »Reich des Geistes« bei Joachim von
Fiore, auch an Eric Voegelin zu richten, der noch 1944 im
amerikanischen Exil sich zu George als beispielhaftem platonischen
Nietzscheaner bekannte.) Last but not least: Bei
Hölderlin wie bei George wären Reflexionen
über die
Legitimität – oder den Fluchtcharakter –
dichterischer
(»romantischer«) Imagination gegenüber der
eindimensionalen Aufklärung angebracht.
Kritik
verdient
Riedel dort, wo er, aus Verehrung für den Dichter, der
Interpretation des ›Geheimen Deutschland‹ zuliebe
die
historischen Fakten glättet. Das beginnt mit dem Begriff. Als
Urheber des ›geheimen Deutschland‹ –
Gegenbild
des George-Kreises zur deutschen politischen Realität
–
nennt er Karl Wolfskehl, der ihn 1910 in den Jahrbüchern
für die geistige Bewegung
einführte. Die Assoziation mit der Nationalromantik eines Paul
de
Lagarde und dessen »verborgenem Deutschland« weist
Riedel
(S.252, F.n. 436) unter Bezug auf die George-Schülerin Edith
Landmann (»Gespräche mit Stefan George«,
1916) ab. Der
Stauffenberg-Biograph Peter Hoffmann sieht die Vorgeschichte des
Begriffs durchaus anders: von Hölderlin
über Heine
und Lagarde zu George.
Riedel will den
›europäischen‹ Dichter von allem
›nationalistischen‹ Verdacht befreien,
insbesondere von
dem Vorwurf, zu den Wegbereitern des ›Dritten
Reiches‹ zu
gehören. Anders als manche Georgeaner und die Vielzahl von
deutschen Intellektuellen, erlag George nicht der Kriegsbegeisterung
von 1914. Zu Recht zitiert Riedel aus dem im Epochenjahr 1917 verfassten,
nüchtern-visionären
Gedicht Der Krieg (»Am streit wie ihr ihn
fühlt nehm
ich nicht teil.«). Dass George nach dem Versailler Vertrag
sich
zu bösen Ausfällen gegen die Franzosen
hinreißen
ließ, findet keine Erwähnung, ebenso wenig
Hassausbrüche gegen die USA als »Feinde aller
Kultur«.
Lässt sich die im George-Kreis gepflegte Symbolik des
Hakenkreuzes
nicht umgehen, so versucht Riedel, Passagen, in denen
völkisch-nationales Pathos den Dichter inspiriert,
interpretatorisch zu neutralisieren. Ein Hinweis auf ein von
Stauffenberg zur Inspiration des Widerstands rezitiertes Gedicht, im
Kontext seiner Entstehung (1928) eindeutig als Aufruf gegen die
Demütigung von Versailles zu lesen, (»Wenn einst dies
geschlecht gereinigt von schand / Vom nacken geschleudert die
fessel des fröners /...« ) fehlt. Das 1921 publizierte Poem Der
Dichter in Zeiten der Wirren wurde 1928 in den Zyklus des Neuen
Reiches aufgenommen.
Georges Führervision von der Zeit, die »Den Einzigen
der
hilft den Mann gebiert ...« und »das
völkische
Banner« auf dem Weg in »das Neue Reich«
erheben
lässt, interpretiert Riedel als eine der Tagespolitik abholde
Jeremiade, ein Klagelied mit der Hoffnung auf Rettung. Er verteidigt
das Gedicht ungeachtet des »missbrauchbaren
Vokabulars«
gegen »jene 68er Generation..., die selber statt des
Dichterischen nur Politisches gelten ließ und im Gefolge
ihrer
Anpassung an jeweils Korrektes (»antifaschistisch«
oder
anti- oder proamerikanisch) verspießertes
Spaßgehabe
hinterließ, das dem Technowahn immer neu erzeugbarer Lust
ohne
Pein huldigt.«
In
derlei Vehemenz
übersieht Riedel
den jugendbewegten Strang in der 68er-Bewegung. In der Art und Weise,
wie er jegliche Kritik an George abweist, die edle Geisteswelt des
»Meisters« vom »Proto-Nazismus«
der
Münchner »Kosmiker« um Alfred Schuler und
Ludwig
Klages – denen George und Karl Wolfskehl zugehört
hatten
– scheidet, macht es sich Riedel zu leicht. Die
anfänglichen
Sympathien des jungen Claus Stauffenberg – schon 1932
erklärte er sich im Offizierskreis für Hitler
–
für die »nationale Erhebung«, der
Übergang einer
bemerkenswerten Anzahl von Freunden zur siegreichen NS-Bewegung,
darunter Ernst Bertram, Ludwig Thormaehlen, der Stauffenberg-Vetter
Woldemar Graf von Üxküll-Gyllenband und Rudolf Fahrner,
bedürften
der Erklärung statt eines einfachen Scheidemessers. Der Freund
Frank Mehnert (Viktor Frank) schuf
außer einer
Stauffenberg-Büste mit Zustimmung des Meisters
Hitler-Büsten,
die sich als durchaus lukrativ erwiesen. (Die
Stauffenberg-Büste
ist zu sehen im Deutschen Historischen Museum im Berliner Zeughaus.
Dort wird sie – ohne Bezug auf den George-Kreis – dem
»russischen Künstler Viktor Frank«
zugeschrieben.) Der
am 5. Februar 1933 in die SA (bei den »braunen
Knechten«)
eingetretene Fahrner bereute dies alsbald und trat bereits 1935 als
Hitler-Gegner hervor. Für die Mehrzahl der vom »Neuen
Reich« angezogenen George-Jünger kam der Bruch mit
ihren
Illusionen erst durch das November-Pogrom 1938. Thormaehlen und Mehnert
zerschlugen ihre regimefrommen Werke.
Unerwähnt
lässt Riedel Georges mehrfach geäußerte
Hochschätzung Mussolinis. Die Haltung des Meisters im Jahre
1933,
der die Figur Hitlers wohl durchschaute, aber das neue Regime
keineswegs vorbehaltlos ablehnte, rückt er in reines Licht.
Richtig ist, dass George sich dem Ansinnen der Nationalsozialisten, in
die ›gesäuberte‹ Preußische
Dichterakademie
einzutreten, versperrte. Über seinen jüdischen
Jünger
Ernst Morwitz ließ er eine abschlägige Antwort an
den
NS-Bildungsminister Bernhard Rust übermitteln. In dem Brief an
Morwitz verknüpfte George die Ablehnung der späten
Berufung
mit einem zweideutigen Bekenntnis: »die ahnherrschaft der
neuen
nationalen Bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schieb auch meine
geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte
habe
ich getan die jugend die sich heut um mich schart ist mit mir gleicher
meinung... das märchen vom abseitsstehn hat mich das ganze
leben
begleitet – es gilt nur für das unbewaffnete auge.
[...] Ich
kann den herrn der regierung nicht in den mund legen was sie
über
mein werk denken und wie sie seine bedeutung für sie
einschätzen. Es läge mir daran · lieber
Ernst ·
dass dies wortgetreu der betreffenden stelle mitgeteilt werde · es
ist
durchaus überlegt.«
Nach
Georges Tod (4. Dezember 1933) ordnete Claus Stauffenberg in der
Friedhofskapelle von Minusio die Totenwache unter den Freunden,
darunter Kantorowicz, Wolfskehl und Ernst Morwitz. Als die Jünger
vom Bahnhof aus Locarno abfuhren, grüßten drei der
fünfundzwanzig mit dem Faschistengruß. Die Affinität
mancher George-Jünger zum Nationalsozialismus ist
unübersehbar. Sie resultierte einerseits aus der Zerrissenheit der
Weimarer Republik, andererseits aus der von George geweckten Sehnsucht
nach dem »Neuen Reich«.
Eine
Vorstellung von der
ideologischen Brisanz des »Geheimen Deutschland« vermittelt
der Brief des einstigen Freikorpskämpfers Ernst Kantorowicz an
George, in dem er bedauerte, vom »nationalen Aufbruch« im
»allein rassisch fundierten Staat ausgeschlossen« zu sein,
sowie der Auszug aus seiner im Dezember 1933 wegen Pressionen der
Nationalsozialisten abgebrochenen (letzten) Frankfurter Vorlesung:
»Das ›geheime Deutschland‹ ist gleich einem
Jüngsten Gericht und Aufstand der Toten stets unmittelbar nahe ja
gegenwärtig...« Der Kommentar Riedels, damit habe
»sich Kantorowicz im Spektrum messianischer Sprechweisen der
neueren deutschen Geistesgeschichte und ihrer politischen
Aktualisierung während der Weimarer Republik (verfangen)«,
setzt ein Werturteil anstelle der Analyse des affektiv aufgeladenen
»Geistes« des »Geheimen Deutschland«. Was
unterschied im Kern in jenen Jahren die beiden Leitfiguren der
Jugendbewegung, den Nietzscheaner George und den Nietzscheaner Ernst
Jünger?
Riedels
Lobpreis auf ›Hesperien‹ unterschätzt
– aus
übertriebener Rücksicht auf die post-nationalen
Kritiker
– das deutsche Element in Georges Reich
des Geistes. In
dem Maße, wie das ›Reich‹ zum Leitmotiv
einer
Generation wurde, träumten die Jünger Georges
– in
unzweifelhaft europäisch-humanistischen Begriffen –
von der
Führungsrolle der Deutschen in Europa. Zu erinnern ist an den
eingangs zitierten »Schwur«. Riedel scheut sich,
die
tragische Verfehlung des vom George-Kreis auf das ›Dritte
Reich‹ ausstrahlenden nationalen Selbstbildes zu benennen.
Die
absonderlichen Riten des George-Kreises – Max Weber
klassifizierte ihn als »Sekte« – sind für Riedel
kein Stein des Anstoßes, ebensowenig die Verachtung des
»Meisters« für unbotmäßige und
ausgestoßene Jünger wie Stauffenbergs Mentor Max Kommerell
(»die Kröte«). Anzumerken sind einige
interpretatorische und historische Ungenauigkeiten: Jeremiahs Warnungen
und Klage über den Untergang Jerusalems galten den
(Neu-)Babyloniern,
nicht den Assyrern. Das »Heilige Römische Reich«, die
gegenüber dem populären Barbarossa-Mythos des 19.
Jahrhunderts abzugrenzende, von Nietzsche inspirierte
»europäische« Geschichtsvision des Stauferreichs
Friedrichs II. entbehrte – entgegen dem von den Georgeanern
gepflegten Idealbild – des Zusatzes »Deutscher
Nation«. Der Stauffenberg-Verwandte und George-Schüler
Bernhard Victor von Üxküll-Gyllenband erschoss sich im Juli
1918 nicht »aus Gram über den Wahnsinn
der ›Materialschlachten‹«, sondern aus
unglücklicher
Zuneigung zu seinem durch Medikamentenmissbrauch zerrütteten
Freund Adalbert Cohrs, der nach Urlaubsüberschreitung Selbstmord
begangen hatte. Im Juli 1944 stand die sowjetische Armee an den Grenzen
Ostpreußens, noch nicht an der Weichselmündung. Churchills
Würdigung des deutschen Widerstands erfolgte erst nach Ende des
Krieges und entsprang somit keineswegs reinem Edelmut. Nach dem
Scheitern des 20. Juli waren aus London andere Worte zu vernehmen. Als
formales Monitum sei die unübersichtliche Anordnung des
Anmerkungsapparats vermerkt.
Conclusio:
Manfred Riedels
George-Buch bietet Angriffsflächen für alle, die im
›deutschen Geist‹ nur Verstiegenheit und
Fragwürdigkeiten wittern. Georges Vision des »Reiches«
eignet sich schwerlich zur Überhöhung der heutigen
EU-Realität. Andere, die wie der Autor selbst, am
Unglück der deutschen Geschichte leiden, werden mit Genugtuung
Sätze wie die folgenden aus einem Brief Alexander
Stauffenbergs an
Kantorowicz lesen: »Wir haben nicht für eine
deutsche
›Eschatologie‹ gekämpft, ich und die
Meinen (oder
höchstens in dem Sinne, in dem jede hohe
Opfertat in den
Grenzen zwischen Rhein und Oder zwischen Nordmeer und Alpen seit 700
Jahren nicht für die recht fragwürdige
Realität des
Reiches sondern für ein Geheimes Deutschland geschehen ist),
nein,
sondern für die bittere Wirklichkeit: für die Ehre
statt der
Schmach, die Würde statt der Fratze eines geschlagenen Volkes,
in
dem wir vielleicht gebrandmarkt gewesen wären, wenn die
Brüder und die ihren überdauert
hätten.«
Herbert Ammon
Literatur:
BREUER, STEFAN, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995
BREUER, STEFAN, Stefan George als Erzieher?, in: Neue Zürcher Zeitung v. 2.10.2006
FINKER, KURT, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Köln 1977 (erstmals Ost-Berlin 1967)
HOFFMANN, PETER, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, Stuttgart 1992
HOFFMANN,
PETER, Rezension des Buches von Robert Norton (Secret Germany, 2002),
in: www.h-net.org/reviews/showrev.cgi?path=311051056065348, S. 4
INTERVIEW:
Manfred Riedel, Autor von »Geheimes Deutschland. Stefan George
und die Brüder Stauffenberg«, im Gespräch mit Bruno
Pieger, in Castrum Peregrini 276-277 (2006)
RIEDEL, MANFRED, im Gespräch mit Steffen Dietzsch, in: Iablis (2005), S. 171-178
SALIN,
EDGAR, Um Stefan George (erstmals 1954), George 6, S. 5, in: Studien
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