Christoph Jünke
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Ein bisschen Demokratie, viel Oligarchie
Luciano Canfora, die europäische Demokratie
und die deutsche Linke


Die europäische Demokratie steht nicht hoch in der Gunst ihrer Bürger und Untertanen. Wahlabstinenz und politische Apathie beherrschen große Teile der Bevölkerungen und Politiker gehören zu den am meisten verachteten Berufsgruppen unserer Gesellschaften.

Die europäische Demokratie steht aber auch nicht hoch in der Gunst ihrer ökonomischen und politischen Eliten. Von der Demokratie im Sinne Abraham Lincolns, im Sinne einer Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk wird in der politischen Theorie und Praxis schon lange nicht mehr gesprochen. Demokratie wird heute im Sinne eines Joseph Schumpeter als eine an sich abstrakte Ansammlung von Regeln und Entscheidungsprozeduren verstanden, die unabhängig sind von Zielen und Mitteln. Freiheit und Demokratie sind zunehmend eingeengt auf die formalen Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie und diese parlamentarische Demokratie zudem einem Funktionswandel unterworfen worden. Entscheidungsprozesse sind über Expertenkommissionen und Lobbypolitik nicht selten in einen nichtparlamentarischen und nicht-öffentlichen Bereich verlagert, das Parlament also stückweise entmachtet und die legislative, politisch-parlamentarische Führung mit dem Exekutivapparat und den ökonomischen Führungsstäben verschränkt. Die Eliten haben sich mit und in diesem parlamentarischen System zunehmend verselbstständigt und abgeschottet, und die Zeiten des erklärten Ausbruchs aus diesem Zirkel, die Zeiten, als man mehr Demokratie wagen wollte und damit den gewandelten und politisierten Bedürfnissen der nachdrängenden Schichten und Klassen entgegenkam, sind längst wieder vorbei. In Zeiten des Neoliberalismus, in Zeiten also von Privatisierung und Deregulierung, von nationalen Wettbewerbsstaaten und individuellen Selbstermächtigungsstrategien (»Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!«), ist es zu neuen nachhaltigen gesellschaftlichen Spaltungen und Fragmentierungen gekommen, zu Migrations- und Fluchtbewegungen innerhalb und außerhalb der »Festung Europa«, die sich mit dem neuen Prekariat zu einer neuen, breiten Unterschicht vermengen. Gegen diese neuen »gefährlichen Klassen« wiederum, die von der herrschenden Politik und Demokratie nicht mehr viel erwarten, werden staatliche und zunehmend auch private Kontroll- und Überwachungsagenturen ausgebaut, deren Feindbilder ethnisiert und schließlich, unter den Bedingungen des so genannten »Krieges gegen den Terror«, auch noch internationalisiert.

Internationalisiert wird aber auch – last, but not least – ein Teil staatlicher Funktionen, indem Macht- und Entscheidungsbefugnisse an internationale Institutionen abgegeben werden, die in der Regel nicht, oder nur sehr eingeschränkt nach demokratischen Regeln funktionieren. Die Europäische Union beispielsweise ist eine dieser Institutionen. Und es war deswegen sicherlich kein Zufall, dass sich ein gehöriges Maß an Unmut und Widerstand bei den Beherrschten und Regierten gerade am Versuch der Herrschenden und Regierenden entzündete, sich endlich so etwas wie eine europäische Verfassung zu geben.

Genüsslich schildert der italienische Altphilologe Luciano Canfora zu Beginn seiner Kurzen Geschichte der Demokratie, wie die Verfasser dieses vorerst gescheiterten Verfassungswerkes ihrem Entwurf eine Präambel mit auf den Weg gaben, in der feierlich Bezug genommen wurde auf den alten athenischen Staatsmann Perikles, der von der Demokratie als Volksherrschaft, als Herrschaft der größeren Zahl, gesprochen haben soll. Canfora nun zeigt auf, dass die Präambelschreiber den von Thukydides überlieferten Worten Gewalt antaten und mit Perikles jemanden zum Ahnherr ihrer Demokratie zu erklären versuchten, der gerade die Demokratie mit aristokratischer Verachtung behandelte. Canfora sieht jedoch in diesem Hinweis der Urheber der Präambel mehr als nur einen Missgriff. Ihm offenbart sich hier das wahre Wesen der europäischen Demokratie, denn »die Idee einer ›demokratischen‹ politischen Ordnung, die eng mit etwas verknüpft ist, das man als rassistisch bezeichnen muss, war im europäisch-atlantischen Westen weit verbreitet. Sie lebt bis heute weiter und wird der Öffentlichkeit neuerdings im Zusammenhang mit imperialen Bestrebungen unter dem irritierenden Slogan ›die Demokratie bringen‹ präsentiert« (27).

Demokratie und Oligarchie

Canforas Geschichtswerk, dessen deutsche Übersetzung eine der heftigsten Auseinandersetzungen provozierte, die das deutsche Feuilleton der letzten Jahre erlebt hat, zeigt auf, dass die Geschichte der Demokratie nicht so sauber zu trennen ist von undemokratischen Tendenzen. Schon immer, so seine an sich nicht ganz neue These, wurde dem welthistorischen Siegeszug der Demokratie eine gehörige Portion Oligarchie beigemischt. Bereits im antiken Athen, jenem Hort und Bezugspunkt klassischer Demokratietheorie und -praxis, mischte sich die neue Demokratie mit der alten, auf der umfangreichen Ausbeutung von Sklaven im Innern und der kriegerischen Eroberung anderer Völker und Staatsgebilde nach außen beruhenden Klassengesellschaft. Canfora beschreibt, wie in die ursprünglich einzig aus frei geborenen und wehrfähigen, d.h. besitzenden Söhnen athenischer Väter und Mütter bestehende athenische Polis mittels der Ausweitung der Bürgerschaft auf die Besitzlosen »ein neues, dynamisches und explosives Element« (S.44) eingeführt wurde. Doch ganz so explosiv kann ihm dies dann doch wieder nicht gewesen sein. Rassismus, Oligarchie und Demokratie sind für ihn nicht auseinander zu halten, denn »es gab kein Gesetz und keinen Bereich des sozialen und familiären Lebens, in dem die Sklavenwirtschaft keine Rolle spielte« (S.69). Scheinbar zustimmend zitiert er deswegen einen Autor mit der »entwaffnend(en)« Schlussfolgerung, dass nirgendwo in der klassischen Antike »das schöne Spektakel einer echten Freiheit« (S.68) geboten worden sei.

Sahen ältere Autoren (bspw. der von Canfora bemühte Arthur Rosenberg) im Kampf der subalternen Klassen und Schichten, in ihren Bedürfnissen, Erfolgen und Niederlagen das dynamisch vorwärts treibende, weil radikaldemokratisch-autonome, gegen die Herrschaft als solche gerichtete Moment – ohne die strukturellen Begrenzungen und Widersprüche der institutionellen Fassung dieser antiken Demokratie zu verschweigen –, wird die Darstellung und Entfaltung demokratischer Bedürfnisse und Bewegungen bei Canfora immer wieder zurückgenommen, indem ihre Kompatibilität mit der jeweiligen klassengesellschaftlichen Herrschaft betont wird. Demokratie ist bei ihm weniger die (wie auch immer widersprüchliche) institutionelle Fassung eines Kampfes der Klassen und Schichten. Demokratie ist ihm zuallererst und letzten Endes ein formales Mittel der oligarchisch Herrschenden, die nachdrängenden Klassen irre zu führen. Es bleibe »festzuhalten«, so Canfora, »dass die athenische Demokratie nicht die ›Herrschaft des Volkes‹ bedeutete, sondern die Übernahme der Führungsrolle innerhalb der ›Volksherrschaft‹ durch einen kleinen Teil der ›Reichen‹ und ›Herren‹, die dieses System akzeptierten« (S.44).

Denselben Analysefaden benutzt er auch bei der dann folgenden Darstellung der neuzeitlichen Demokratiegeschichte. Die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit können sich nämlich, so Canfora, deswegen zu Recht auf die antike Demokratie berufen, weil auch sie strukturell auf der Ausgrenzung von Rasse/Ethnie, Klasse und Geschlecht beruhe – die löbliche und von Canfora entsprechend goutierte Ausnahme war der radikale Jakobinerflügel um Robespierre und die von diesen vergeblich lancierte Verfassung von 1793. Auch hier also wieder derselbe strukturelle Blick von oben: die Demokratie vor allem als Herrschaftsmittel und weniger als Mittel der Emanzipation.

Ausführlich beschreibt er mit diesem Blick, wie sich die zur Macht drängenden Bürger aus Angst vor den demokratischen Bedürfnissen und Forderungen der subalternen Klassen und Schichten von einstmals radikalen Demokraten zu modernen Liberalen wandelten, deren Demokratievorstellungen wesentlich elitär waren. So nimmt die neue bürgerliche Demokratie im Laufe des 19.Jahrhunderts abermals einen stark oligarchischen Charakter an und schafft es, das Volk mittels Wahlrechtsbeschränkungen der diversesten Art (vor allem dem auf Einpersonenwahlkreisen beruhenden Mehrheitswahlrecht), mittels Korruption und Elitenherrschaft, mittels Wahlabstinenz und sozialen Zugeständnissen klein zu halten. Ausführlich beschreibt Canfora die Herausbildung des französischen Bonapartismus nach der Revolution von 1848, der eine plebiszitäre Demokratie mit Herrschaftsmethoden mischte, die den Faschismus paradigmatisch vorwegnahmen.

Im Angesicht eines solchen gemischten Systems (halb Demokratie, halb Oligarchie) sieht Canfora die politische Linke und die aufkommende Arbeiterbewegung in klassischer Manier als Erbin und Hüterin einer sozialen Demokratie, polemisiert aber ausführlich gegen deren Illusionen über ein allgemeines Wahlrecht, mit dem man die gesellschaftliche Macht über das Parlament erreichen könne. Vor allem die »naiven« und »willkürlichen« (S.162f.) Vorhersagen des späten Friedrich Engels – wenn es so weitergehe mit den Wahlerfolgen der deutschen Sozialdemokratie, dauere es nicht mehr lange, bis sie mittels der parlamentarischen Mehrheit den Übergang zum Sozialismus beginnen könne – münden ihm wegen dieser Methoden der Entschärfung parlamentarischer Demokratie »strategisch gesehen in eine Sackgasse« (S.163). Entsprechend sei, auch wenn das Wahlrecht seine subversive Seite behalte, der »Mechanismus der unaufhaltsamen und fortschreitenden Integration … die Kehrseite des Marsches in das System« (S.171).

Doch auch hier läuft dieser Prozess weniger in Form einer objektiven Verschleierung von Herrschaft auf dem Wege scheinbarer Freiheit und Demokratie, also nicht als objektiv falsches Bewusstsein im Sinne eines marxistischen Ideologieprozesses ab, in dem sich die für die bürgerliche Gesellschaft spezifische Trennung von Ökonomie und Politik reproduziert, sondern mehr in Form eines geschickt von den herrschenden Eliten benutzten Manipulationszusammenhangs.

Die Demokratie war aber niemals nur die Geschichte ihrer Instrumentalisierung von oben. Sie war immer auch und vor allem eine Geschichte des Aufbegehrens von unten, eine Geschichte der gegen die herrschenden und regierenden Eliten gerichteten demokratischen Bedürfnisse, Forderungen und Bewegungen, in denen es gleichermaßen um Inhalte wie Formen ging. Es fällt auf, dass Canfora hiervon keinen, oder besser: nur einen sehr eingeschränkten Begriff besitzt. Das beginnt bereits, ganz elementar, bei der Frage nach dem, was genau Canfora eigentlich unter Demokratie versteht. Man muss schon bis zum Ende des Buches warten, bis man zu Definitionsversuchen gelangt und die sind reichlich vage. Die Demokratie sei »eine instabile Größe: Sie ist die (zeitweilige) Vorherrschaft der besitzlosen Klassen in einem unablässigen Kampf um Gleichheit – ein Begriff, der sich seinerseits historisch erweitert und stets neue und hart umkämpfte ›Rechte‹ beinhaltet. (S.325.) Und »Tatsache ist: Weil die ›Demokratie‹ eben keine Regierungsform, kein Verfassungstyp ist, kann sie in den unterschiedlichsten politisch-konstitutionellen Formen herrschen, teilweise herrschen, gar nicht herrschen oder sich wieder zur Geltung bringen.« (S.355f., Hervorhebungen im Original.) Die Demokratie war in der Tat niemals nur eine Verfassungs- oder Regierungsform, sie war es aber immer auch – mal mehr, mal weniger.
 
Canforas Demokratieverständnis steht zwar in der hehren Tradition der klassisch sozialistischen Arbeiterbewegung, die die Demokratie nicht wie das liberale Bürgertum konstitutionell versteht, nicht als formalen Verfassungstyp, sondern als eine sozialgeschichtliche, politische Bewegung. Doch die Unschärfen, Spannungen und latenten Widersprüche dieser auch in meinen Augen ehrenwerten und ausgesprochen aktuellen Tradition hat er weder verstanden noch aufgearbeitet. Sie werden deutlich, wenn man versucht, die Demokratie als Verfassungskonstitution mit der Demokratie als politischer und sozialrevolutionärer Bewegung zusammenzudenken. Canfora kann diese, zugegeben komplizierte, Dialektik von Inhalt und Form nicht einmal zur Diskussion stellen. Konsequent verfängt er sich in den Fallstricken der beiden, sich gleichermaßen bedingenden wie widersprechenden Demokratiebegriffe. Aus der einstmals dialektischen Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität macht er antagonistische Gegensätze und fühlt sich entsprechend gezwungen, Freiheit und Solidarität zu streichen, um eine Gleichheit zu propagieren, in der natürlich bei näherer Betrachtung einige gleicher sind als gleich.

Der europäische Bürgerkrieg

Nirgendwo wird dies deutlicher als bei seiner Darstellung des 20.Jahrhunderts, denn von einer Geschichte demokratischer Bewegungen, Formen und Inhalte (wie kritisch auch immer) kann bei seiner auf die sowjetrussische Revolution folgenden Darstellung des »europäischen Bürgerkrieges« gar nicht mehr die Rede sein. Canfora schreibt hier, nun ohne jede weitere Zurückhaltung, die Geschichte einer zunehmenden Abscheu vor der Demokratie. Und in schlechter linker Tradition verabsolutiert er dabei die Idee sozialer Demokratie zur prinzipiellen Absage an demokratische Formen, zur erziehungsdiktatorischen Herrschaft einer Minderheit, die sich um demokratische Formen nicht zu kümmern brauche.

 Für ihn verkörpert sich nämlich die soziale Demokratie im Zeitalter der Systemauseinandersetzung im vermeintlich real existierenden Sozialismus. Während der kapitalistische Westen im Faschismus selbst oder im Bündnis mit demselben versinke, sieht Canfora demokratische Hoffnung einzig im Bündnis von liberalem Bürgertum und Volksfrontkommunismus, und macht sich schließlich zum Anwalt der spätkommunistischen Strategie einer »neuen Demokratie«, einer realsozialistischen »Volksdemokratie«, der er einen echten geschichtsphilosophischen Fortschritt meint entlocken zu können. Mit ihrer Durchsetzung sei nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg etwas »radikal Neue(s)« (S.252), »eine echte ›Revolution‹« (S.259) in der Geschichte der Verfassungstheorie verbunden. Von der sowjetrussischen Verfassung von 1936 zieht er hier eine Linie zu den neuen Nachkriegsverfassungen in Italien, Frankreich und sogar der BRD und bettet diese in den Kontext der Weimarer Verfassung und des US-amerikanischen New Deal ein. Die volksdemokratische Strategie sei »das beste politische Programm, das die Arbeiterbewegung hier und heute vorlegen könne«, »das Projekt einer politisch und wirtschaftlich komplexen Gesellschaft, einer ›fortschrittlichen Demokratie‹ auf der Basis einer neuartigen, fortgeschrittenen Verfassung, fähig und willens, radikale ›Strukturreformen‹ einzuleiten« (S.251). Bürgerliche Demokraten und Volksfrontkommunisten teilen sich hier die politische Macht in einem »ganz neuartigen Rahmen«, in einem offensichtlich gemischten Verfassungssystem, um einen Prozess gesellschaftlicher Transformation einzuleiten, der über die bürgerlich-kapitalistischen Grundlagen hinaus weise und, wie er am italienischen Beispiel sagt, in der Lage sei, »aus ihrer Eigendynamik heraus die italienische Gesellschaft in progressivem Sinn [zu] transformieren« (ebd.).

Es stellen sich hier jedoch – ganz immanent gedacht – weitreichende Nachfragen. Wie vermittelt sich denn diese Volksfrontkonzeption, um nur den schreiendsten Widerspruch zu benennen, mit der von Canfora im ersten Teil seines Buches so ausführlich dargestellten Kritik an den linken Illusionen über den parlamentarisch-evolutionären Weg? Ist hier nicht auch, als Kehrseite des Marsches in das System, die unaufhaltsame und fortschreitende Integration in dasselbe zu thematisieren? Canfora scheint sich diese Frage nicht einmal aufzudrängen. Es ist ihm auch kein zu stellendes Problem, dass solcherart (Volks-)Demokratie bekanntlich weder vom Volk, noch von den subalternen Klassen und Schichten von unten erstrebt und erkämpft, sondern von den in Moskau Herrschenden inauguriert wurde. Einmal mehr kommt hier die Demokratie von oben, also gerade auf jenem Weg zu den Menschen, den Canfora im ersten Teil seines Buches als Hauptargument gegen die Demokratie als ganze entfaltet hat. Die antike und bürgerliche Demokratie ist ihm nicht mehr als schöner Schein, weil sie als Herrschaftsmittel von oben kommt. Die sozialistische Demokratie dagegen kann und muss sogar als Herrschaftsmittel von oben kommen. Die antike und bürgerliche Demokratie ist ihm keine, weil sie unentwirrbar mit der Sklaverei verwoben ist. Die sozialistische Demokratie ist dagegen eine solche, auch wenn sie, wie im Falle des historischen Stalinismus, mit modernen Formen der Sklaverei (dem Gulag-System) daher kommt.

Dass sich Luciano Canfora als geschichtswissenschaftlicher wie politisch-theoretischer Anwalt des so genannten Volksfrontkommunismus in den Fängen der Stalinismusapologie verfängt, hat seine Logik. Schließlich ist dieser Volksfrontkommunismus ein originäres Kind des Stalinismus. So wird auch Canfora gleichsam gezwungen, buchstäblich jede Wendung von Stalins politischem Zick-Zack-Kurs mitzumachen und für jede dieser Wendungen geschichtsphilosophisch überhöhte Rechtfertigungen zu liefern. Und konsequent belegt er auch jede Form linker wie rechter, theoretischer wie praktischer Kritik am historischen Stalinismus mit dem stalinistischen Bann, dass diese dem bösen Klassenfeind erst die Munition für ihren dreckigen Krieg gegen den Hort sozialer Demokratie geliefert hätten.

Wie auch immer: Die von Canfora präferierte neue Volksdemokratie habe sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges leider nicht halten können. Dieser Kalte Krieg habe radikale Rechte – zu denen er nicht zuletzt die US-amerikanischen Regierenden – und radikale Linke – also all jene, die den »real existierenden Sozialismus« und seine volksdemokratische Theorie und Praxis von links kritisierten – beflügelt und dazu geführt, dass die soziale Demokratie im europäischen Osten ausgehöhlt und im europäischen Westen einmal mehr sich, wie im Gaullismus, mit Elementen des modernen Bonapartismus gemischt habe. Durchaus treffend und überaus aktuell ist hierbei Canforas Darstellung, wie sich das alte gemischte Verfassungssystem (»ein bisschen Demokratie und viel Oligarchie«; S.308) in Theorie und Praxis in Westeuropa wieder durchsetzte. Vor allem die zunehmende Rückkehr des Mehrheitswahlrechts sowie die Mechanismen einer Mediendemokratie spielen ihm hierbei eine zentrale Rolle. Doch abermals mischen sich dabei wichtige Einsichten mit jener problematischen Tendenz, die Demokratie lediglich als personalisierten Manipulationszusammenhang, als Verschwörung der Herrschenden zu betrachten, und nicht auch als Verschwörung der Gleichen, als Kampf um soziale, politische und kulturelle Freiheit. Canfora behandelt die vor sich gehende Aushöhlung der Demokratie, als ob sie bereits faktisch abgeschafft sei. Und eine seiner Schlussweisheiten ist deswegen auch, »dass ›absolute‹ und letzten Endes hohle Worthülsen wie Freiheit und Demokratie die Form und den Inhalt angenommen haben, die heute üblich sind« (S.331; Hervorhebung: CJ).

Die Canfora-›Debatte‹

Eine solch stalinistische Sicht auf die Geschichte setzt sich nicht zu Unrecht vielfältigen Anfeindungen aus, von ›links‹ wie von ›rechts‹. Und in der Tat hat Canforas Buch heftige Auseinandersetzungen im deutschen Feuilleton ausgelöst.

Als der liberale Beck-Verlag die Veröffentlichung des bestellten Manuskriptes nach Begutachtung durch namhafte deutsche Historiker ablehnte, erntete Beck im deutschsprachigen Feuilleton weitgehendes Verständnis. Hatte vor allem der Gutachter Hans-Ulrich Wehler zahlreiche historische Fehler und Verdrehungen bei Canfora ausgemacht, konnte man Ende 2005 in der Süddeutschen Zeitung lesen, dass der Beck-Verlag »jede Unterstützung« verdiene, wenn er sich das Urteil gebildet habe, das Buch des »Salonkommunist(en)« »verharmlose den stalinistischen Terror in unerträglicher Weise«. Ein Autor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung konnte zur gleichen Zeit dem Buch zwar auch positive Seiten abgewinnen – »Auf einem Auge blind«, nehme Canfora »mit dem anderen historische Sachverhalte besonders scharf wahr, über die wir uns meist angewöhnt haben, hinwegzusehen« –, doch auch er fand Becks Entscheidung schließlich »schade, aber verständlich«, weil der »schnoddrig(e) … hegelianische Vereinfacher« mit seinem »Schönreden der kommunistischen Massaker« »über komplexe Vorgänge hinweggehe, die immerhin das Leben und Sterben von Millionen Menschen beeinflussten«.

So einhellig die Kritik des etablierten Feuilletons, so einhellig war daraufhin auch die Verteidigung durch das linke Feuilleton. Der Vorwurf des Stalinismus sei unverschämt und undenkbar, echauffierten sich Anfang 2006 namhafte Vertreter des linken deutschen Geistes, allen voran Georg Fülberth und Otto Köhler in Konkret und Freitag. »Der Stalinismus-Vorwurf … greift deutlich daneben«, ließ auch Jürgen Harrer, der Verlagsleiter jenes kleinen linken PapyRossa-Verlages verlauten, der nun statt Beck die Veröffentlichung des Buches vorbereitete. Hatte der FAZ-Korrespondent Schümer treffend die neudeutsche Konsenshistoriografie zum verantwortlichen Spaßverderber erklärt, fuhren Canfora und seine Verteidiger in der Motivsuche ganz andere Geschütze auf. Sie alle sahen darin nicht nur einen Rufmord an dem vermeintlich großen Gelehrten, sondern auch den neuerlichen Akt eines quasi faschistoiden deutschen Revanchismus in der Tradition der1950er und 1960er Jahre. Und sie wurden in dieser Einschätzung von fast allen Presseorganen der deutschen Linken, von der Jungen Welt wie dem Neuen Deutschland, von den Blättern für deutsche und internationale Politik über die Marxistischen Blätter bis zu Ossietzky, in einer Weise massiv unterstützt, dass sich Beck-Lektor Detlef Felken wahrscheinlich zu Recht von einer Kampagne betroffen fühlte.

Immerhin lässt sich die Canfora-›Debatte‹ als ein kurioses Postscriptum zu Canforas Buch lesen: In den Antinomien seines stalinistischen Geschichtsbildes gefangen, provoziert dieser auf ein politisch-historisches Bündnis mit den Liberalen setzende Volksfrontkommunismus gerade diese linken Liberalen zu heftigen antistalinistischen Reflexen und reagiert wiederum darauf mit der maßlosen Beschimpfung der vermeintlich in der Wolle gefärbten Neofaschisten. Der alte Schoß ist fruchtbar noch – auch bei großen Teilen der nie wirklich entstalinisierten und nun gesamtdeutschen Linken.

Doch wie immer gibt es auch hier Ausnahmen. Eine erste linke Kritik Canforas erschien im August 2006 in der Zeitschrift Analyse & Kritik – Canforas medial umstrittenes Werk konnte nun endlich auch von Unbeteiligten auf deutsch gelesen werden – und zog sich prompt eine scharfe Zurückweisung von Canforas fleißigstem Adjutanten, von dem Politikwissenschaftler und führenden linken Politikkommentatoren Georg Fülberth ein. Der meinte gegen den kritischen Rezensenten feststellen zu müssen, dass es auch auf der Linken wohl »noch Klärungsbedarf zu geben (scheint)«: »Nachdem die Liberalen sich an Canforas Buch die Zähne ausgebissen haben, müssen also die Linken aufpassen, dass ihnen nicht auch so etwas passiert.« Im Dezember 2006 veröffentlichte meine Wenigkeit eine umfangreiche Auseinandersetzung in den Sozialistischen Heften für Theorie und Praxis und Anfang 2007 erschienen mehrere kürzere Kritiken des Buches in der Wochenzeitung Freitag.

Doch dieser Schlagabtausch blieb kurz und heftig, und ohne jede Antwort von Canfora, Fülberth oder den anderen Angegriffenen. Derselbe Fülberth, der noch im Sommer 2006 die Einseitigkeit der Debatte großspurig beklagt und mehrfach kundgetan hatte, dass dieselbe nun erst, mit der deutschen Veröffentlichung des Buches, richtig beginne, nutzte im März 2007 die Einladung zu einer abschließenden Stellungnahme im Freitag zur x-ten Nacherzählung dessen, was seiner Meinung nach im Buch stehe und schwieg zu buchstäblich allen vorgebrachten Gegenargumenten.

Zur selben Zeit veröffentlichte die Zeitschrift Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung in ihrer Märzausgabe einen nichtssagenden Originalbeitrag von Canfora selbst und einen Beitrag von Uwe-Jens Heuer über »Luciano Canfora und der Fortschritt [sic] der Demokratietheorie«, in der dieser theoretisch zu begründen versucht, warum man als Linker von Demokratie nicht mehr reden sollte, allenfalls von »Demokratisierung«. Seiner Weisheit letzter Schluss – Canfora sei Dank –: »Im Interesse der Demokratisierung … kann es auch liegen, Gewalt anzuwenden, Freiheiten einzuschränken. Die Behauptung, dass jeder Schritt allseitig demokratisch sein muss, ist eben nichts anderes als eine Phrase. … Aber totale Freiheit aller auf jeder Entwicklungsstufe dürfte für absehbare Zeit unmöglich sein.« Eine Ausgabe später folgte schließlich ein ausführliches Gespräch mit Domenico Losurdo, Canforas italienischem Bruder im neostalinistischen Geiste, das den Bogen zwischen den beiden Denkern herstellte und den stalinistischen Kommunismus zum Geburtshelfer nicht zuletzt der modernen westlichen Demokratie verklärte. Und zur gleichen Zeit erschien nun die mittlerweile vierte Auflage – versehen mit einem Nachwort von Oskar Lafontaine, der auf die vielfältigen Kritiken nicht eingeht und Canforas Werk ausgerechnet als Plädoyer für mehr direkte Demokratie missversteht…

Das Ausmaß des in dieser Canfora-›Debatte‹ zu Tage tretenden intellektuellen Bankrotts und die vorherrschende Diskussionsverweigerung im Milieu dieser Linken haben jedoch durchaus ihre Logik. Große Teile der deutschen Linken haben, wie einstmals Rudi Dutschke nicht müde wurde zu betonen, nie gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen und aufrecht zu gehen. Und da scheint sich in den letzten 30 Jahren nicht viel geändert zu haben. Im Angesicht einer bürgerlichen Demokratieaushöhlung in Theorie und Praxis und einer im bürgerlich-liberalen Geiste vorgetragenen Stalinismuskritik von Seiten der gewendeten PDS, sowie als Reflex auf deren zunehmende Integration in die Institutionen bürgerlicher Demokratie, formiert sich ein Teil der deutschen Restlinken, gleichsam als ›Kraft der Negation‹, neu und meint, den ehemals realen Sozialismus sowohl historisch wie auch politisch-strategisch verteidigen zu müssen. Sie verliert damit jedoch nicht nur die Kommunikationsfähigkeit, sondern auch den Schlüssel zu ihrer politisch-intellektuellen Erneuerung. Denn glaubwürdig neu beginnen kann die deutsche Linke nur, wenn sie die schwierige, aber notwendige Dialektik von Demokratie und Sozialismus erneuert. Die Halbheiten der bürgerlichen politischen Emanzipation überwindet man nicht mit den Halbheiten realsozialistischer Emanzipation.

Literatur

LUCIANO CANFORA, Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur Europäischen Union, Köln: PapyRossa 2006, 404 Seiten; vierte, verbesserte und um ein Nachwort von Oskar Lafontaine erweiterte Fassung 2007.
LUCIANO CANFORA, Vom Auge des Zeus. Deutsche Geschichtsschreibung zwischen Dummheit und Demagogie. Antwort an meine Kritiker, Hamburg: KVV Konkret, 91 Seiten.
Ausführlich habe ich mich hiermit an anderem Ort auseinandergesetzt:
CHRISTOPH JÜNKE, Luciano Canforas Demokratieverständnis, in: Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Nr.12, Dezember 2006. Online unter www.linksnet.de/artikel.php?id=3028. Der Beitrag ist in erweiterter Fassung auch erschienen in Christoph Jünke, Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute. Köln (Neuer ISP-Verlag) 2007