Peter Schiffauer
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Res
Publica Europea
Utopie oder aktuelle Herausforderung?
Die
Wahl einer
lateinischen Überschrift für die folgenden
Ausführungen könnte eine Verbeugung vor
ehrwürdiger
akademischer Tradition sein. Sie könnte ein Programmsatz sein,
um
mit der Sprachenvielfalt in Europa umzugehen. Beide Absichten
könnten Sympathie erwecken. Doch geht es hier um etwas
anderes:
Hinter der Wahl eines lateinischen Titels steckt eine inhaltliche
Absicht.
In einer der zahlreichen Debatten
über die Zukunft
der europäischen Integration wurde kürzlich die
Forderung
nach Verwirklichung einer republikanischen Ordnung für Europa
geäussert. Republik bezeichnet in der Sprache der Neuzeit, in
Staatslehre und politischer Wissenschaft eine Form des Staates,
gegründet auf die Souveränität des Volkes,
im Gegensatz
zur Monarchie oder totalitären Formen des Staates: wir
sprechen
von der Bundesrepublik Deutschland, de la République
française, della Repubblica italiana, aber vom Vereinigten
Königreich, dem Königreich Spanien, dem
Königreich der
Niederlande und so weiter. Eine interessante Nuance findet sich im
Griechischen:
Ελληνική
Δημοκρατία.
Die
Europäische Union ist kein Staat, und nach ihrem eigenen
Selbstverständnis will sie es auch nicht werden. Gewiss,
manche
Merkmale eines Staates treffen auch auf die Europäische Union
zu:
in ihr wird im Rahmen einer rechtlich konstituierten Ordnung
Hoheitsgewalt ausgeübt. Sie erzeugt eine eigene Rechtsordnung,
die
die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überwölbt und
auch
direkt in sie hineinwirkt. Dimitris Tsatsos hat gezeigt, dass die
geltenden Grundlagentexte Verfassungsqualität haben, ja dass
es in
Ansehung des Konventsentwurfs und des im Oktober 2004 unterzeichneten
Verfassungsvertrags legitim ist, von einer Verfassungsordnung zu
sprechen, obgleich das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags nach wie
vor ungewiss ist.
Die Europäische Union
tritt nicht an die
Stelle der Mitgliedstaaten, sondern achtet deren Identität.
Die
Unionsbürgerschaft ist lediglich eine Ergänzung zur
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates. In der
Kompetenzordnung
der Union wird deutlich, dass die Europäische Union ihre
Hoheitsrechte nicht direkt von den Bürgern ableitet, sondern
nur
indirekt, vermittelt durch die Mitgliedstaaten, die im Rahmen der
Europäischen Union einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinsam
ausüben. Der Umfang der übertragenen
Hoheitsrechte ist
normativ im Einzelnen bestimmt oder jedenfalls bestimmbar, auf der
Grundlage der geltenden Gründungsverträge ebenso wie
in der
Perspektive des Verfassungsvertrags.
Das politische
Zentrum der
Europäischen Union ist nicht unitarisch organisiert, sondern
in
einer Struktur, für die ich den Ausdruck
›polykephal‹ am treffendsten halte. Gewiss,
es gibt in
der Literatur und in Organisationen der Zivilgesellschaft Utopien und
Wünsche, die Europäische Union in einen
Europäischen
Bundesstaat weiter zu entwickeln. Solche Vorstellungen dürften
jedoch auf absehbare Zeit nicht auf der politischen Tagesordnung stehen.
In
der gegenwärtigen Lage erscheint es deshalb wenig sinnvoll,
von
Europäischer Republik zu reden. Warum also die Rede von
›Res Publica Europea‹? Welche konkrete Aufgabe,
die im
Rahmen der gegenwärtigen Verfassungsordnung der
Europäischen
Union verwirklicht werden kann und sollte, kündigt dieser
Titel an?
In
dem klassischen Text von Marcus Tullius Cicero wird der Titel De
re
publica in der Übersetzung von Karl Büchner
wiedergegeben mit
›vom Gemeinwesen‹. Den Begriff
›Staat‹
verwendet Büchner dort, wo bei Cicero von
›civitas‹
die Rede ist – und natürlich kann damit nicht
›der
Staat‹ im Sinne eines neuzeitlichen Staatsbegriffs gemeint
sein.
Die Bedeutung von ›Res publica‹
erläutert Cicero
durch eine dem Feldherrn und Staatsmann Publius Cornelius Scipio
Africanus zugeschriebene Definition. Sie lautet:
»Est
igitur res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus
quoque modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensus et
utilitatis communione sociatus«,
oder,
in der Übersetzung von Büchner:
»Es
ist also das Gemeinwesen die Sache des Volkes, ein Volk aber nicht jede
irgendwie zusammengescharte Ansammlung von Menschen, sondern die
Ansammlung einer Menge, die in der Anerkennung des Rechts und der
Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt ist.«
Für
das ›Populus‹, dessen Sache das Gemeinwesen ist,
werden also drei Kernelemente vorausgesetzt:
–
ein
Verband von Menschen, ›congregatio hominum‹,
-
eine
gemeinsame Rechtsordnung, ›iuris consensus‹,
-
ein
gemeinsames Interesse, ›utilitatis communione‹.Diese
Konzeption des Gemeinwesens setzt in keiner Weise ein
Homogenitätskriterium voraus, wie es in neuzeitlichen Exegesen
in
den Begriff des ›Volkes‹ hineininterpretiert
wurde, der
an die Stelle des antiken ›Populus‹ getreten war.
Wurde diese Ergänzung notwendig durch den historischen
Unterschied zwischen antikem Gemeinwesen und neuzeitlichem Staat?
In
der Staatslehre der Gegenwart sind die Bedeutungsgehalte der Begriffe
›Volk‹,
›Souveränität‹ und
›Demokratie‹ eng verknüpft: das Volk
übt seine
Souveränität in den Formen der Demokratie aus.
Für
einige reduziert die Bedeutung von Demokratie sich darauf, dass bei der
Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten die Mehrheit
entscheidet. Sie können sich dabei sogar auf antike Zeugnisse
wie
die Totenrede des Thukydides berufen.
Historische
Vergleiche
zeigen aber, dass das Verständnis von
›Demokratie‹
in der Antike ein ganz anderes war als in der Neuzeit. In diesem Punkte
halte ich die Arbeit von Luciano Canfora über Demokratie in
Europa
für durchaus zutreffend, auch wenn sie im Übrigen
wegen ihrer
Aussagen zur Gegenwart in Deutschland heftig umstritten ist.
Nach
dem Verständnis der Gegenwart kann Demokratie nicht
ausschließlich auf ein binäres System (Ja
– Nein) von
Mehrheitsentscheidungen zurückgeführt werden. Denn
sie
erkennt als integralen Bestandteil das Prinzip des Minderheitenschutzes
an: er durchbricht die ›Ja-Nein‹-Logik der
Mehrheitsentscheidung mit Rücksicht auf eine
Inhomogenität
des ›Demos‹, des ›Populus‹.
Die
Logik der Mehrheitsentscheidung funktioniert nur in einem
konstitutionellen Rahmen, in dem der Minderheit zugemutet werden kann,
die Entscheidung der Mehrheit für sich zu akzeptieren. Eine
Vertiefung dieser Überlegungen ist an dieser Stelle nicht
möglich. Die weitere Entfaltung des heutigen Themas baut auf
der
folgenden Feststellung auf:
Ein homogenes
›Populus‹ ist keine Bedingung der
Möglichkeit von
Demokratie. Wenn das ›Populus‹ inhomogen ist,
kann
demokratische Willensbildung aber nicht nach einer binären
Logik
von Mehrheitsentscheidungen stattfinden, die das
›Populus‹ als Gesamtheit befragen.
Selbstbestimmung eines
inhomogenen ›Populus‹ erfordert, die Prozesse der
politischen Willensbildung nach Maßgabe seiner besonderen
Zusammensetzung auszugestalten. Dies ist der Grund für die
komplexen Strukturen in der Europäischen Union, in
Übereinstimmung mit ihrem Doppelcharakter einer Union der
»Völker und der Staaten«, wie es Tsatsos
zutreffend
formuliert hat.
Entgegen manchen Stimmen, die die
Möglichkeit von Demokratie auf den Nationalstaat
beschränken
wollen, findet in den politischen Prozessen der Europäischen
Union
Demokratie in vielfach gefalteten Formen statt. Doch irgendetwas
erscheint unvollendet in dieser Demokratie. Wenn ›Res
Publica
Europea‹ nicht eine Utopie, sondern konkrete aktuelle
Aufgabe
sein soll, welche Herausforderungen müssen dann in Angriff
genommen werden?
Der Weg, auf den diese
Ausführungen locken
sollen, weist in Richtung auf ein ›Populus
europeus‹, in
seiner Vielfältigkeit und in seinen Gliederungen ein
›Aliud‹ zum homogen gedachten Volk eines
Nationalstaats.
Dieses
›Populus europeus‹ kennt sich selbst noch nicht.
Das hat
die Ablehnung des Verfassungsvertrags in den Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden deutlich gemacht. In einem Punkt
stimmen die Analysen der Ergebnisse dieser Volksabstimmungen
überein. Nicht die Innovationen des Verfassungsvertrags waren
das
überwiegende Motiv der Ablehnung. Die Nein-Stimmen
resultierten
aus einem Konglomerat von innenpolitischen Motiven und Vorbehalten
gegenüber bereits vollzogenen, durch demokratische Verfahren
legitimierten Schritten der Europäischen Integration. In der
Krise, die durch diese Entwicklung ausgelöst wurde, wird ein
Dilemma sichtbar: Der bereits erreichte Entwicklungsstand der
rechtlichen und politischen Integration in der Europäischen
Union
übersteigt bei weitem die Vorstellungen, die eine
große Zahl
ihrer Bürger von ihr hat.
Demokratie
beruht auf einem
Grundkonsens, bei dem die Bürger in den großen
Zügen
kennen müssen, was sie akzeptieren. Europäische
Integration
war aber über lange Zeit das Werk politischer Eliten und der
Diplomatie. Der Umbau in eine demokratische Ordnung ist
möglich
und er ist notwendig, wenn die Konstruktion weiter wachsen und
fortbestehen soll. Die aktuelle Forderung »to reconnect the
Union
with its citizens« bedeutet, die Voraussetzungen zu schaffen,
dass Bürger die politisch-institutionelle Realität
der
Europäischen Union in ihrer Besonderheit wahrnehmen
können
und sie nicht mit Unvergleichbarem vergleichen, wenn sie ihre
Leistungen bewerten.
Um es mit den Worten des
heutigen Themas zu
sagen: Auf dem Weg zu einer ›Res Publica Europea‹
ist es
hier und heute notwendig, für das
›Populus‹ der
Unionsbürger transparent werden zu lassen, in welchem
Maße
es bei den Angelegenheiten der Europäischen Union um ihre
eigene
Sache, um das sie verbindende Gemeinwesen geht.
Wie
kann diese Transparenz, die hier und heute offenkundig nicht in
ausreichendem Maße besteht, erreicht werden? Dazu
sollen im folgenden holzschnittartig einige Gedanken entwickelt werden,
die von sechs Fragen ausgehen und die sämtlich weiterer
Vertiefung
bedürfen:
1. Braucht die
Europäische Union eine Rechtfertigung?
2. Was
sind ihre Leistungen?
3. Auf welchen gemeinsamen
Wurzeln baut sie auf?
4. Hat oder braucht sie ein
Verfassungsprojekt?
5. Welche ist ihre dringendste
Baustelle?
6. Welche Verfassungsstruktur ist ihr
angemessen?
Zur ersten Frage:
Braucht die Europäische Union eine Rechtfertigung?
Die
Leistungen des Staates sind für uns so
selbstverständlich
geworden, dass wir sie nicht mehr in Frage stellen: die Staaten der
Gegenwart durchleben Krisen, spalten oder vereinigen sich zuweilen.
Ihren Untergang identifizieren wir mit Chaos und Anarchie. Die
berechtigte und notwendige Kritik der Bürger an der
Funktionsweise
eines Staates schlägt nicht um in eine grundsätzliche
Ablehnung desselben.
In Angelegenheiten der
Europäischen
Union ist dies anders: Unzufriedenheit mit getroffenen Entscheidungen
oder eingetretenen Fehlentwicklungen wurde zum Anlass für
generelle Ablehnungshaltungen, statt die Kritik in Forderungen nach
Veränderung umzusetzen und ihre Durchsetzung politisch
umzusetzen.
Die Europäische Union steht deshalb unter
einem latenten
Rechtfertigungszwang. Was leistet sie und wofür brauchen wir
sie?
Sind ihre Kosten nicht zu hoch? Weshalb ist eine
Rückkehr zu
einem System unverbundener Nationalstaaten keine Alternative
für
den europäischen Kontinent? Es ist eine Besonderheit der
Verfassungsordnung der Europäischen Union, dass sie sich
Fragen
dieser Art stellen muss.
Historische Rechtfertigung
für die
europäische Integration war die Schaffung einer dauerhaften
Friedensordnung. Der Integrationsprozess ist ein Wendepunkt in der
Geschichte des europäischen Kontinents, die nach dem Zerfall
des
antiken Römischen Reichs kaum längere Friedenszeiten
kannte.
Der Rückgang der Bedrohung durch Kriege führte aber
auch
dazu, dass diese Rechtfertigung nicht mehr für jedermann
evident
ist.
Neue Elemente der Rechtfertigung lassen sich
gewinnen, wenn
die europäische Integration als Antwort auf die Globalisierung
– und nicht als ein Teil dieses Problems –
verstanden wird.
Auch die größten unter den europäischen
Staaten haben
für sich allein nicht mehr genügendes Gewicht, um auf
globaler Ebene die Interessen ihrer Bürger wirksam zu
vertreten,
wenn es um Themen wie Konfliktverhütung und -beilegung,
Umweltschutz und Klimaänderung, Überwindung der Armut
und
Bewältigung von Migrationsbewegungen, Bekämpfung von
Terrorismus, organisiertem Verbrechen und Schutz des geistigen
Eigentums geht.
Mit 490 Millionen Bürgern,
die 22% des
globalen Bruttosozialprodukts erwirtschaften und 20% des Welthandels
treiben, verfügt die Europäische Union über
ein
relevantes Gewicht, wenn und soweit sie gemeinsame Positionen vertritt.
Deshalb werden bei Belangen von globaler Bedeutung nationale Interessen
auch dann noch wirkungsvoller durch die Union vertreten, wenn zur
Erreichung einer gemeinsamen Position nationale Forderungen
abgeschwächt werden müssen.
Der
Ort für die
Debatte über diese Themen ist die politische
Öffentlichkeit.
Ihre Entfaltung kann den Rechtfertigungsbedarf des
Integrationsprozesses befriedigen.
Zur
zweiten Frage: Was sind die Leistungen der Europäischen Union?
Der
Grundgedanke des europäischen Einigungswerks war, die
Völker
Europas auf dem Wege der wirtschaftlichen Integration miteinander zu
versöhnen und Krieg unter ihnen unmöglich zu machen.
Die
Kontrolle einer supranationalen Behörde über die
(seinerzeit)
militärstrategischen Schlüsselindustrien zielte auf
die
Eliminierung jeglichen Bedrohungspotentials.
Das
Konzept hatte
Erfolg: Während noch vor kurzem in Südosteuropa
militärische Auseinandersetzungen geführt wurden,
waren diese
im Geltungsbereich der Gemeinschaftsverträge schon seit langem
undenkbar geworden. Wirtschaftliche und sonstige
Interessengegensätze zwischen den Staaten werden in einem
institutionellen System verarbeitet, das sich als stark genug erwiesen
hat, um ihnen Stand zu halten. Überspitzt gesagt: Meldungen
über »Streitigkeiten in Brüssel«
sind Meldungen
über verhinderte Kriege. Es ist ein Raum individueller und
wirtschaftlicher Freiheiten entstanden, der die zu Beginn des Prozesses
formulierten Erwartungen bei weitem übertrifft. Wer
hätte
1960 eine gemeinsame europäische Währung für
möglich gehalten?
Die Gesetzgebung der
Europäischen
Union ist besser als ihr Ruf. Sie wird in politischen Prozessen
beschlossen, die in Übereinstimmung mit der
Verfassungsstruktur
einer Union von Staaten und von Bürgern demokratisch
legitimiert
sind. Sie vereinfacht das Leben in einem Raum, der über die
Grenzen der Europäischen Union hinausgreift. Eine
Gemeinschaftsverordnung ersetzt heute mehr als 30 unterschiedliche
Rechtstexte einzelner europäischer Staaten. Und das ohne
große Bürokratie: die gesamte europäische
Verwaltung
ist kleiner als die einer deutschen Großstadt. Sie arbeitet
unter
der wachen Kontrolle eines Parlaments, in dem die Mehrheit nicht unter
einem ständigen politischen Druck steht, die Handlungen der
Exekutive zu verteidigen. Damit braucht die Leistungsbilanz der Union
keinen Vergleich mit anderen Trägern von Hoheitsgewalt zu
scheuen.
Zur dritten Frage: Auf welchen
gemeinsamen Wurzeln baut die Europäische Union auf?
Was
verbindet die Menschen in Europa? Ist es die Vorstellung des freien,
mit unveräußerlichen Grundrechten ausgestatteten und
gegenüber dem Gemeinwesen verantwortlichen Menschen, die auf
gemeinsamen Wurzeln aufbaut?
Die Präambel
zum Verfassungsvertrag formuliert das so:
»Schöpfend
aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe
Europas,
aus dem sich die unverletzlichen und
unveräußerlichen Rechte
des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und
Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben«.
Hätte
die Präambel auch spezifisch auf das christliche Erbe Bezug
nehmen
sollen? Die Debatte hierüber ist noch nicht zur Ruhe gekommen.
Die
Bedeutung des Christentums in der Geschichte Europas ist evident. Ein
Beitrag aus der Wissenschaft, der einen nützlichen Aspekt in
diese
Debatte einführen könnte, stammt von Hans Blumenberg,
der die
Geistesgeschichte des Christentums und ihre Verflechtungen mit dem
antiken griechischen und jüdischen Gedankengut kennt wie kein
anderer. In seiner erstmals im Jahre 1983 veröffentlichen
Arbeit
Die Legitimität der Neuzeit identifiziert Blumenberg die
Überwindung des »theologischen
Absolutismus« als einen
der bedeutsamsten Schritte der europäischen Geistesgeschichte
auf
dem Wege aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Mit dieser Bezeichnung
charakterisiert Blumenberg theologische Schulen, die das Konzept der
Allmacht eines einzigen Gottes durch rationale Ableitungen bis in alle
Verästelungen entfalten und deren Systeme deshalb für
die
Freiheit des Humanen keinen Raum mehr lassen.
Die
Überwindung von ›theologischem
Absolutismus‹ ist
eine der Voraussetzungen von Religionsfreiheit im Sinne eines
neuzeitlichen Grundrechtes. Es gibt interessante Verbindungslinien
zwischen dem mittelalterlichen ›theologischem
Absolutismus‹ im Sinne Blumenbergs und dem in der Gegenwart
auftretenden ›theologischen Fundamentalismus‹,
der
gemeinsame europäische Werte negiert. Eingedenk der dunkleren
Perioden der europäischen Religionsgeschichte und der in ihren
lichteren Phasen geübten Zurückhaltung in
säkularen
Dingen könnte es eher als ein Akt der Weisheit erscheinen,
dass
die Präambel sich darauf beschränkt, auf das
kulturelle,
religiöse und humanistische Erbe Europas zu verweisen:
Wurzeln, in
denen jeder Bürger sich wieder finden kann.
Zur
vierten Frage: Hat oder braucht die Europäische Union ein
Verfassungsprojekt?
Menschliche
Erwartungen sind an die Zukunft gerichtet. Die Rechtfertigung durch
vollbrachte Leistungen und gemeinsame Wurzeln trägt nur, wenn
sie
gleichzeitig das Fundament für das bildet, was in und mit der
Union in Zukunft gemeinsam verwirklicht werden soll.
Braucht
das
europäische Gemeinwesen als ›Res
publica‹, die die
Bürger als ihre eigene begreifen, zusätzlich zu dem
Verfassungsentwurf, der in dem von 18 Mitgliedstaaten gebilligten
Verfassungsvertrag bereits vorliegt, ein politisches
›Verfassungsprojekt‹, in dem deutlich gemacht
wird, was
gemeinsam erreicht werden soll? Die Inhalte der feierlichen gemeinsamen
Erklärung, die zum 50. Jahrestag der Römischen
Verträge
beabsichtigt ist, könnten ein solches Projekt beschreiben. Es
wird
die durchaus nicht widerspruchsfreien Erwartungen
berücksichtigen
müssen, die Bürger an die Ausübung von
Hoheitsgewalt
richten:
– einerseits einen
möglichst weit gespannten Raum individueller Freiheit zu
ermöglichen,
– anderseits das Individuum
gegen die individuellen und kollektiven Gefahren der Existenz so gut
wie möglich zu sichern,
–
schließlich nicht zum Objekt des Geschehens zu werden,
sondern es in freier Selbstbestimmung mitzugestalten.
Die
Verwirklichung eines Raums bürgerlicher Freiheiten im Horizont
der
Europäischen Union erscheint in greifbarer Nähe.
Die
Sicherung europäischer Bürger gegen kollektive
Gefahren wie
militärische/terroristische/kriminelle Bedrohungen oder die
Sicherung der Nachhaltigkeit in Bezug auf Umwelt, Energieversorgung und
Weltwirtschaftsordnung sind, wenn überhaupt, nur durch
gemeinsame
Aktionen auf Unionsebene erreichbar.
Die Sicherung
des
Einzelnen gegen individuelle Not dürfte die in ihrer
Architektur
angelegte Leistungsfähigkeit der Unionsebene
übersteigen.
Ziel der Union könnte es sein, einen gemeinsamen
Entwicklungsrahmen für nachhaltig leistungsfähige
soziale
Sicherungssysteme abzustecken und durch Instrumente der Wirtschafts-
und Strukturpolitik Sorge zu tragen, dass individuelle Notlagen wieder
zu Ausnahmefällen werden.
Die
Verwirklichung eines in
diesem Sinne gestalteten Raumes der Freiheit in Sicherheit
könnte
zu einem für Bürger glaubhaften
›Verfassungsprojekt‹ der Union werden.
Zur
fünften Frage: Welche ist die dringendste Baustelle der
Europäischen Union?
Auf das Thema
der ›Res Publica Europea‹ bezogen, lässt
sich die Frage wie folgt zuspitzen:
Wie
kann bewirkt werden, dass die Entscheidungen der Union von ihren
Bürgern als eigene wahrgenommen werden, an deren Gestaltung
sie in
einem demokratischen Prozess teilhaben? Die Baustelle, um die es geht,
ist die Entfaltung einer politischen Öffentlichkeit auf der
Ebene
der Europäischen Union. Frühzeitig hat das deutsche
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Maastrichtvertrag darauf
hingewiesen, dass zum Funktionieren von Demokratie nicht nur
Institutionen und Verfahren, sondern auch deren Gegenüber im
gesellschaftlichen Leben gehören, die politischen Parteien und
ihr
Umfeld, die Medienlandschaft und die vielfältigen Formen
organisierter Zivilgesellschaft.
Auf der Ebene der
Europäischen Union befinden sich diese Elemente im Werden: der
Aufbau europäischer politischer Parteien und eines sie
begleitenden Umfelds von Organisationen mit bildungspolitischem
Auftrag; die Entstehung transnationaler Medienstrukturen wie Arte
oder Euronews; die im Verfassungsvertrag
vorgesehene
Stärkung der
partizipativen Demokratie. Diese Vorhaben bergen das erforderliche
Potential, um über die Fragen, die auf Unionsebene anstehen
und
den nationalen Horizont überschreiten, eine
öffentliche
Debatte zu entfalten. Wenn sie gelingen, kann für jeden
Einzelnen
erkennbar werden, in welchem Maße in der
Europäischen Union
seine eigene Sache verhandelt wird.
Zur
sechsten Frage: Welche Verfassungsstruktur ist der
Europäischen Union angemessen?
Nach
all dem kann ich die Beantwortung kurz machen. Von allen Optionen, die
in der aktuellen Reflexionsphase über die Zukunft Europas
präsentiert werden, enthält der Globalkompromiss des
Verfassungsvertrags die besten Voraussetzungen, um in naher Zukunft
konkrete Schritte in Richtung auf eine ›Res Publica
Europea‹ zu vollziehen. In der Option des Globalkompromisses
ist
die Möglichkeit von Ergänzungen oder punktuellen
Korrekturen
stillschweigend mitgedacht, soweit diese sich im Laufe des kommenden
Jahres als erforderlich erweisen sollten, um die
Ratifizierungsverfahren wieder in Gang zu setzen. Die von manchen
befürwortete Option einer Vorwegnahme der dringendsten
Reformen in
einem Mini-Vertrag wie auch die einer umfassenden Neuverhandlung
würden vermutlich beide den Zeithorizont für eine
Aktualisierung der ›Res Publica Europea‹
beträchtlich hinausschieben.
Das hindert
die Wissenschaft
freilich nicht, über Verfassungsprobleme nachzudenken, die
noch
nicht auf der politischen Tagesordnung stehen. Zum Beispiel die Frage
nach einer Zusammensetzung der Exekutive, die einer Union der
Bürger und der Staaten angemessen wäre. Die
Rotationsformel
des Verfassungsvertrags wird nicht selten als unbefriedigend empfunden,
und die Formel eines Kommissionsmitglieds je Mitgliedstaat vermindert
die Handlungsfähigkeit des Kollegiums und generiert
Ungleichgewichte eigener Art.
Nachvollziehbar ist,
dass in der
Exekutive der Europäischen Union jede der in der Union
zusammenlebenden Identitäten und Traditionen
repräsentiert
sein und ihre Anliegen zu Gehör bringen können muss.
Nachvollziehbar ist weiterhin, dass nur ein
zahlenmäßig
begrenztes Kollegium zu diskursiver Interaktion fähig ist, in
ihr
ein gemeinsames Interesse formulieren und nach dessen Maßgabe
beschließen kann. Könnte es nicht Schlüssel
für
eine Lösung sein, sich vorzustellen, dass in der
Unionsexekutive
zwei verschiedene Kategorien von Trägern politischer
Verantwortung
zusammenarbeiten:
- einerseits von den Regierungen
eines jeden
Mitgliedstaates benannte und ihnen rechenschaftspflichtige
›Emissare‹, die deren jeweilige Interessen und
Belange zu
Gehör bringen;
- andererseits ein kleines, politisch
nur dem
Europäischen Parlament verantwortliches Kollegium von
›Kommissaren‹, dessen Sache es ist, im Lichte
aller
verfügbaren Informationen Entscheidungen nach
Maßgabe des
von ihnen zum Ausdruck gebrachten gemeinsamen Interesses zu treffen.
Es
müsste deshalb ausgeschlossen werden können, dass die
Mitglieder dieses Kollegiums bestimmten Mitgliedstaaten zugeordnet
werden. Ließe sich dieses Ziel vielleicht durch die
Voraussetzung
erreichen, dass ein jeder dieser ›Kommissare‹ vor
seiner
Wahl durch das Parlament Führungsverantwortung in mehr als
einem
Mitgliedstaat ausgeübt haben muss? Diese Voraussetzungen
werden
heute nur von sehr wenigen erfüllt. Wenn und soweit Europa
künftig mehr Persönlichkeiten von der beschriebenen
Statur
hervorbringt, könnten solche Überlegungen von einer
akademischen Spekulation zu einer politischen Option heranreifen.
Zusammenfassend
lässt das Dargelegte sich in einer einzigen These zuspitzen:
Ein
demokratisches europäisches Gemeinwesen – ›res
publica europae‹ – wird zur
Wirklichkeit, wenn seine
Bürgerschaft – ›populus
europeus‹
– sich als solche wahrnimmt und in der Europäischen
Union
ihre eigene Sache wieder erkennt.
Die
vorstehenden Ausführungen geben die persönlichen
Auffassungen
des Verfassers wieder und können nicht dem Organ zugerechnet
werden, dessen Beamter er ist.
Festvortrag
am 8. Dezember 2006
in der
Fernuniversität Hagen
Literatur:
BLUMENBERG
HANS, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Auflage, Frankfurt/M.
2002, insb. S, 205 ff.
MARCUS
TULLIUS CICERO, De re publica, (Hrsg. und Übersetzung ins
Deutsche
von Karl Büchner) insbesondere Liber primus 25(39),
Zürich/München 1973
GRÖSCHNER
ROLF, Die Republik,
in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hgg.), Handbuch des Staatsrechts der
Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2, 3.Aufl. 2004, S. 369-428
SCHIFFAUER
PETER, Versuch über die Transformation des Staates in der
Europäischen Union, in: Häberle P./ Morlok
M./ Skouris
V. (Hgg.), Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos,
Baden-Baden
2003, S. 592-608
SCHIFFAUER PETER, Leviathan oder Hydra,
Versuch
über Staatlichkeit und Europäische Integration, in:
Müller F., Burr I. (Hgg.), Rechtssprache Europas –
Reflexion
der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht,
Berlin 2004, S. 23-62
TSATSOS DIMITRIS, Die
Europäische Grundordnung, EuGRZ 1995, S. 287 ff.
TSATSOS
DIMITRIS, Die Europäsche Grundordnung, Baden-Baden 2002, insb.
S. 17 ff.