Nicoletta Wojtera
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Paul Mersmann –
Einführung in die A.B.C.-Bücher


1.

Eine manieristische Kunst als eine europäische Tradition des Irregulären und als ein »Kult des Disharmonischen« (Hocke, 302) beginnt beim einzelnen Zeichen, bei den Buchstaben als Bildern. Die Kunst problematisiert das Verhältnis von sprachlichem Bild und künstlerischem Bild in der Ambivalenz des einzelnen Zeichens. Dem zu Grunde liegt der Impuls einer Negation, der Negation einer Absolutsetzung äußerer Realität und der Logik der Sprache. Nietzsche lässt diese Negation in der polaren Gegenüberstellung von apollinischem und dionysischem Weltwahrnehmen aufgehen, in der Umwertung aller (sprachlichen) Werte und in der Wahrheit als einem »beweglichen Heer von Metaphern« (KSA I, 880), die eine letzte Bindung an die petit raison, wie Paul Mersmann sie nennt, nicht mehr zulässt. An dieser Stelle setzt der Surrealismus mit einem Bildprogramm an, das sich an dieser Negation orientiert und die Tradition des Irregulären in einer Vereinigung disparater Wort- und Bildelemente fortsetzt: die von André Breton als beauté convulsive bezeichnete Begegnung von nach rationalen Maßstäben unvereinbaren Elementen, um damit das poetisch Neue und das Überraschende schaffen zu können, das Element des stupore der Manieristen. Der Surrealismus sucht eine spezifische Dialogizität des Disparaten, er sucht die Kommunikation an sich getrennter Sphären in Wort und (Wort-)Bild umzusetzen und eine Interferenz des Getrennten zu ermöglichen, ohne dabei die Gegensätze in einer vermeintlichen Synthese zu absorbieren. In Bezug auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Schaffung des poetisch Neuen aus dem rational Irregulären kann Novalis lange vor Breton feststellen: »Es können Augenblicke kommen, wo Abc-Bücher und Kompendia uns poetisch erscheinen.« (Fragmente, 605) Paul Mersmann sucht in diesem Sinne die Kontinuität des Surrealismus in seiner manieristischen Tradition an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert.  

2.

Die A.B.C.-Bücher, die seit den späten achtziger Jahren entstehen, sind entlang dieser Argumentationslinie zu lesen als eine unmittelbare gegenseitige Bezugnahme irregulärer sprachlicher und künstlerischer Bildelemente.

Das manieristisch irreguläre Moment bestimmt sich dabei zunächst am rational Logischen. Die A.B.C.-Bücher sind alphabetisch angeordnet. In dieser Anordnung konstituiert jedes Einzelne eine in sich geschlossene Einheit. Diese spezifische Einheit entlässt die A.B.C.-Bücher überhaupt in den Bereich der Bücher, da sie im Original als lose Einzelblätter entstehen und nicht eingebunden werden. Die Form der losen Einzelblätter bedingt hierbei nicht nur eine spezifische Buchgestaltung. Die Betrachtung setzt eine simultane Wahrnehmung als Buch und als Kunstobjekt voraus. Dabei entziehen sich Mersmanns A.B.C.-Bücher der gängigen Definition eines Künstlerbuches, es sei denn, man folgt den sehr weit gefassten (Künstler-)Buchbegriffen von Dieter Roth –

»bücher soll darunter bzw dabei das heissen was gruppenweise bzw als gesellschaft seinesgleichen aufgeschichtet mit seinesgleichen verklebt oder vernäht herumsteht oder umhersteht bzw eingeklemmt dasteht oder herumliegt (nicht eingeklemmt)«

oder von Lucy Lippard –

»It's an artist's book if an artist made it, or if an artist says it is.«

Die A.B.C.-Bücher folgen diesen Definitionen und dennoch bleibt die Zuordnung eine vordergründige. Mersmann gibt den Blättern eine äußere Ordnung, die er just im Moment der Betrachtung wieder negiert. Der Inhalt der Blätter orientiert sich nicht an den ihm vorgeordneten Buchstaben. Das einzelne Zeichen negiert seine inhärente Logik, indem es zwar ein Blatt in einem A.B.C.-Buch bezeichnet, dennoch aber in keinem Zusammenhang mit seinem Inhalt steht. Die Ordnung bleibt eine scheinbare, sie bedingt die Zuordnung in den weit gefassten Bereich des Buches, gibt dem Werk jedoch keine in sich geschlossene Logik. Vielmehr spielt Paul Mersmann mit der vorgeblichen Geschlossenheit des Systems und verschafft den A.B.C.-Büchern eine spezifische Ambivalenz, indem sie inhaltlich ihrer äußeren Systematik nicht folgen. Die Blätter sind in ihrer Reihenfolge austauschbar, sie müssen nicht in der vorgegebenen alphabetischen Folge betrachtet und gelesen werden. Jedes steht innerhalb des Ganzen für sich und verlangt diese spezifische Form der Wahrnehmung von seinem Betrachter.

3.

Wesentlicher als der einzelne Buchstabe, der die scheinbare Ordnung des Buchsystems bedingt, ist die Korrelation von Bild- und Textmaterial, die in diesem Sinne einer frühen Feststellung von Mallarmé folgt: »Tout, au monde, existe pour aboutir à un livre.« (Œuvres Complètes, 304). Diese Forderung an die Bücher und an ihre Wahrnehmung bezeichnet den Ausgangspunkt der A.B.C.-Bücher von Paul Mersmann. Entlang der Feststellung André Bretons, »que tout fait image et que le moindre objet, auquel n´est pas assigné un rôle symbolique particulier, est susceptible de figurer n'importe quoi« (Les vases communicants, 128), werden Bild und Bildlichkeit in ihrer manieristisch-surrealistischen Form einer sprachlichen und gleichzeitig bildkünstlerischen Perspektive für Mersmann zum initiierenden Moment. Das Zitat Bretons spielt auf den von den Surrealisten sogenannten objektiven Zufall an, der das Zusammenspiel von an sich unvereinbaren Elementen beschreibt – Lautréamonts Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch als Idee der »kühnen Metapher«. Paul Mersmann setzt die Idee des objektiven Zufalls in Sprache und Bild und in deren Gegenseitigkeit um. Die Einzelblätter der A.B.C.-Bücher sind als farbige Aquarelle mit teils überlagernden, teils eingefügten Textpassagen gearbeitet. Text und Bild stehen dabei nicht nebeneinander, sondern ineinander und damit in einem direkten äußeren wie inneren Bezug, womit ebenso betont ist, dass es sich nicht um Illustrationen handeln kann. In der Vereinigung von Text und Bild in einem gemeinsamen Bildraum liegt die polare Dialogizität des Disparaten; als an sich getrennte Medien müssen sie vom Betrachter simultan wahrgenommen und gelesen werden: »Wer Mersmann sieht, bekommt es mit Texten, wer ihn liest, mit Bildern zu tun.« (Schödlbauer).

Bild und Text variieren dabei in ihrer jeweiligen Ausformung und Ausarbeitung. Der Bildraum wird vielfach gebrochen und überlagert verschiedene Elemente und Stile der Kunst- und Literaturgeschichte zu einem heterogenen Ganzen. Wer die Kunst beherrscht, kann ihre Regeln punktgenau brechen. Hierin liegt Mersmanns Vermögen. Perspektive und Proportionen lösen sich in surreale Metamorphosen der menschlichen und dinglichen Körper auf und bestimmen damit gleichzeitig das Formenrepertoire. Die Motive entwickeln sich von landschaftsnahen Darstellungen, menschlichen und tierischen Körperformen bis zu Personifikationen. In der figürlichen Ausformung ist der Bezug zur späten neobarocken Schaffensperiode von Giorgio de Chirico unübersehbar. Paul Mersmann ist Bildhauer, Maler und Schriftsteller, und wie der Barock die Idee einer Grenzverschiebung und Verflechtung von Baukunst, Malerei und Bildhauerei erstrebt, dehnt Mersmann diese Grenzverschiebung auf die Sprache aus. Ebenso wie die Bildmotive unterliegt die Sprache einer manieristischen Metamorphose des Irregulären, wobei die Motive der Weltliteratur, ihre Protagonisten und Themen in beeindruckender Präsenz vertreten sind. Auch hier gilt: Paul Mersmann kennt die Literatur. Er ist ihr Leser und ihr Schriftsteller, und er kann aus diesem Grund ihre Regeln und ihre Mechanismen in der Parodie, in der Groteske und im verzerrten Bildraum zu seinen Gunsten auflösen.

Hieran bemisst sich die enge mediale Verknüpfung von Wort und Bild in den A.B.C.-Büchern. Der gegenseitige Bezug ist dabei ein übergeordneter, er liegt in der detailreichen Kenntnis des Künstlers und in seiner Fähigkeit, diese Kenntnis im Bildraum als Ganzes und in einer Auflösung der detailreichen Einzelmotive umzusetzen. »Tout, au monde, existe pour aboutir à un livre« – entsprechend weit ist die Variation der Themen. Benannt sind sie in den Titeln der A.B.C.-Bücher: Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper, Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst, Das tautognomische A.B.C., Das ikonographische A.B.C., La doux Marmelade, Sechsundzwanzig Blätter zur Förderung der Legendenbildung um Gutenberg.

4.

Die Wasserlöslichen Zwischenstufen der Baukörper »sollen in der Reihenfolge des Alphabets Kenner und Freunde des Bauwesens mit einigen bemerkenswerten Forschungsergebnissen bekannt machen, die zum größten Teil mehrdeutigen Vorstufen der Realität angehören«, denn, »wenn wissenschaftliche und technische Erkenntnisse in Folge einer allzu raschen Entwicklung so oft korrigiert werden, daß sie zur Hälfte schon nicht mehr wahr sind, wenn die Fachwelt sie endlich begriffen hat, wird die freie Phantasie, die auf solche Zustände nur wartet, gereizt werden, ihre eigenen Erfindungen in die Lücken zu streuen.« (Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper, Vorwort). Paul Mersmann konfrontiert die Idee der absolut gesetzten und vermeintlich exakten Wissenschaft der Architektur mit einem Spiel ihrer Elemente. Die Frage nach dem Messbaren, nach Perspektive und Proportion, die sich in Formeln ausdrückt und gleichzeitig immer in einer spezifischen Relation zur äußeren Realität steht, ist Gegenstand dieses A.B.C.-Buches. Die Messbarkeit wird dabei in Bild und Text aufgelöst und eröffnet eine neue Dimension von wissenschaftlicher Wirklichkeit. Durch Bild- und Sprachmetaphorik, durch Neologismen und einen aufgesplitteten Bildraum entstehen neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. In surrealer Verzerrung entstehen so landschaftliche Darstellungen, geometrische Körper und menschliche Figuren in unterschiedlichem Bezug zueinander. Paul Mersmann will an die Grenze äußerer Realität (und darüber hinaus) führen, er will Nietzsches Feststellung »Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind« (KSA I, 880f.) in Sprache und Kunst bildhaft machen und aufzeigen, dass messbare Wahrheiten immer nur ein begrenzter Teil unserer Wahrnehmung sein dürfen: »›Die Bemühung, durch eine ornamentale Wandsprache indirekt auf das Mauerwerk einzuwirken, gelingt sehr selten. Wenn aber einmal der Lockerungsprozeß eingetreten ist, nützt natürlich ein verspäteter Bildersturm nichts.‹ Diese Bemerkung Bretons zu den Bildern, die Max Ernst in der Wohnung Eluard´s auf die Wände gemalt hatte, spiegelt eine Macht der Unlogik wider […].« (Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper, »O«).

Die Wasserlöslichen Zwischenstufen der Heilkunst beginnen mit dem »Vorwort eines Sophisten« – der Künstler als Sophist im Dialog mit der exakten, der medizinischen Wissenschaft: »Wenn man mit aller Realität nichts mehr ausrichten kann, stände man doch mit dem Unsinn der Kunst in Händen eigentlich ganz passabel in der leeren Gegend herum.« (Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst, Vorwort) Die Eindimensionalität schulmedizinischer Wissenschaft und die Mehrdimensionalität des menschlichen Seins stehen sich in diesen Bildräumen polar gegenüber: »Leben als nichtmedizinischer Verwandlungsprozeß im Gegensatz zum Stoffwechsel.« (Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst, »L«) Dies ist das Thema des Buches, figuriert in Form polyvalenter surrealer Körpermetamorphosen. Auf diese Weise entsteht qua menschlichem Körper das, was Paul Mersmann die »zweite Natur« nennt, ein freier Raum des Irregulären im Text und im Bild. Der Text kommentiert dabei nicht das Bild, sondern das Thema selbst in einer eigenen Form. Die Sprache parodiert das akademische Sprachverhalten von Sach- und Handbüchern, um analog zu den Wasserlöslichen Zwischenstufen der Baukörper eigene (schein)wissenschaftliche Neologismen zu bilden und in einer gezielt beschreibenden metaphorischen Form den Sprachraum zu verzerren. Die Sprache wird hierbei selbst zum Thema der Heilkunst: »Gehen wir davon aus, daß es nach den Möglichkeiten der Sprache und des Denkens keineswegs schwerfällt sich vorzustellen, daß es ein Wachstum geben könnte, das nicht nach unseren bisherigen Erfahrungen aus seiner schweigsam-unbekannten Vor- und Frühentwicklung auftaucht, um an uns und der Gegenwart vorbei in die Zukunft zu wachsen, sondern aus der Zukunft in die Vergangenheit seiner Auflösung entgegenstrebt. […]. Wobei neusprachliche Ausdrucksansätze im Rahmen einer Umkehr des Zeitbegriffs nicht nur grammatikalisch auf Schwierigkeiten stoßen, sondern erwogen werden muß, ob überhaupt mit einer von links nach rechts geübten Schreibweise Denkvorgänge dieses Zuschnitts bewältigt werden können.« (Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst, »Z«) Die Umkehrung des vermeintlich Offensichtlichen und die Verzerrung rationaler, äußerer Realitäten im sprachlichen und im künstlerischen Bild ist das Thema von Paul Mersmann.

»Die augenblickliche Entwicklung der Tautognomie wirft ihre Schatten auf das gesamte Verhalten der raumlosen Kunst […].« (Das tautognomische A.B.C., »M«) Das tautognomische A.B.C. wählt kein einheitliches Thema für die einzelnen Blätter. Innerhalb der beiden Medien Bild und Text spielt die Kunst mit den Elementen des menschlichen Lebens, der Geschichte und der Natur. Die Umkehrung des rational Logischen ist auch hier die Summe der Einzelblätter: »Die auf den Kopf gestellte Natur«, »Die Opferung einer Hausfrau« durch »Jimmi Birth« und »Der Triumph des Salzes über die Sahara«. Wesentlich ist nicht die Themenfindung im Einzelnen, sondern die Umsetzung der jeweiligen Text-Bild-Komponenten im heterogenen Bildraum: »Der Tautologe und Freudschüler Erwin Weiger kam bereits 1923 zu dem Schluß:  ›Tautognomie ist streng genommen keine Krankheit sondern die still auf sich selber bezogene Maskerade des sich in der eigenen Libido zurechtfindenden Egos.‹ Der Forscher und Freund Weigers Ludwig Tischvogel […] begann bereits um 1902 die seltenen Objekte tautognomischen Schaffens zu sammeln. […]. Als er seine Sammlung 1912 unterstützt durch den Wiener Bankier Nathan Geldstuhl in Schloß Blindenstatt in Kärnten der erstaunten Öffentlichkeit vorwies war Giorgio de Chirico einer der ersten unter den Besuchern.« (Das tautognomische A.B.C, »M«) Text und Bild wollen auch hier keine äußeren Wahrheiten oder direkten Bezüge erschließen. Der Text ebenso wie das Bild spielt mit den Möglichkeiten von Wirklichkeit und Irrationalität, wobei immer wieder Überblendungen in die Literatur- und Kunstgeschichte und in die Philosophie erfolgen. Dies geschieht niemals in eindimensionaler Zitatform, sondern immer in einem Raum des Möglichen, in der Interferenz von realem Bezug und irregulärer Umsetzung im Bildlichen.

Auch Das ikonographische A.B.C. spielt mit den kulturellen Stereotypen der Bildlichkeit. Konventionelle Darstellungen lösen sich auf in neue Formen des Irregulären. Es geht um das von Hocke benannte Spiel mit dem einzelnen Zeichen und seiner Ikonizität und damit um die Medialität des Bildes in der Sprache und im künstlerischen Bild: »Die Weihe des Buchstaben E als Wortwaffe« und »Das D als chaotische Versuchung« (Das ikonographische A.B.C., »E«, »D«).

Wie das tautognomische A.B.C. wählt auch das ikonographische A.B.C. kein einheitliches Thema als Grundlage. Die Motive variieren die Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte, wobei surreal übersteigerte Landschaften und Landschaftsbeschreibungen das Motivrepertoire dominieren: »Nur wenige deutsche Dichter haben den Tanz der Pflanzen gekannt und darüber geschrieben. Möglicherweise ist er überhaupt ein Phänomen ohne poetische Erfindung (wenn man vielleicht von Arno Schmidt absieht).« (Das ikonographische A.B.C., »P«) Die surreale Poetik Mersmanns liegt dabei in der souverän beherrschten Klaviatur der literarischen Tradition seiner Bildbeschreibungen. Der Text kommentiert nicht das vorgelagerte Bild. Es entsteht ein eigenständiges Sprachbild, das dennoch in einem inneren Bezug zum künstlerischen Bild steht, wobei an dieser Stelle mit Breton offen bleibt, »si l´on a jamais «évoqué» les images. Si l´on s´en tient, comme je le fais, à la définition de Reverdy, il ne semble pas possible de rapprocher volontairement ce qu´il appelle «deux réalités distantes».« (Manifestes du surréalisme, 48) Paul Mersmann nähert die verschiedenen Dimensionen von Wirklichkeit nicht an, er überlagert sie. Die manieristische Kunst der Kombinatorik erschließt hier die polyvalente Struktur der Wirklichkeit und leitet neue Sinnebenen ab. Eine detailbeladene Bildersprache im Text und im Bild verzerrt die Grenzen zwischen der Wahrnehmung der Einzeldarstellung und dem heterogenen Ganzen des Bildraumes.

Das 2004 entstandene La doux Marmelade nimmt das Spiel mit der Polarität des Disparaten in einer anderen Dimension auf, das einzelne Zeichen in seiner Ambivalenz zwischen Rationalität und Irregularität spielt hier mit der Interferenz des Göttlichen und des Irdischen, des Lebens und des Todes: »Wer anders als Gott hat auf G einen Anspruch? Mag jener Demiurg den Nietzsche gemeint auch gestorben sein in Jerusalem. Gott bleibt ein großer Begriff.« (La doux Marmelade, »G«).

Nietzsches Gott ist tot ist nur eine Seite der Medaille. Paul Mersmann konfrontiert sie mit ihrer Kehrseite, der Seite des Lebens, in den Grenzverschiebungen zwischen Leben und Tod und zwischen dem Anspruch auf Wahrheit und ihren Möglichkeiten des Irregulären: »Das alt-grausige Gott ist tot lautet in Mersmanns Übersetzung La doux Marmelade, das süß' Marmelad.« (U. Schödlbauer). Mersmann, der »Pseudo-Nietzsche Paul von Lichtel«, zieht dabei Nietzsches Konsequenz: die Kunst wird in dieser Konfrontation des Disparaten zum entscheidenden Reflexionsmoment. Hierin liegt das Thema und der Anspruch von La doux Marmelade. Bild und Text variieren dabei phantastische Motive aus den Bereichen der Natur und der Mythologie: »Indessen also der Mond die spirituelle Größe der Eingebungen bestimmt, verbrennt die Sonne nicht nur das Wasser sondern erfindet auch die ›trockenen Teile‹ nämlich die Stoffe und führt den Verstand zum wohlgeordneten Tod der Dinge. Das Wasser hingegen gehört zur unbesiegbaren Materie der Träume die über den Tod hinaus existieren. Übrigens geht die Sonne auf Stelzen.« (La doux Marmelade, »S«).

Die Sechsundzwanzig Blätter zur Förderung der Legendenbildung um Gutenberg machen sich in Art und Ausformung als lose Einzelblätter mit ineinander gelagertem Bild und Textmaterial selbst zum Thema. Das mehrfach reproduzierbare Buchwerk, die »Bücherschwemme« (Gutenberg-Blätter, »B«), und das als Handwerk erstellte singuläre Kunstwerk stehen sich hier in einer Apostrophierung von Gutenbergs »B 42«, der Gutenberg-Bibel, gegenüber: »Ganz leise sagt unser Gutenberg ›Amen‹ wenn er des Morgens aufsteht und ›Salve‹ wenn er den ersten Druck in die Hand nimmt. Das bedeutet, daß Öl ins Feuer zu gießen keinesfalls seine Sache ist, denn zwischen beiden Größen liegt eine schattige Langeweile von enormer Gleichmäßigkeit. ›So geht es‹, sagt Stephane Mallarmé dessen Prosa ich hier nachahme, ›mit dem Handwerk des Igitur‹. Ich jedoch füge, bezwungen von meinem eigenen Versmaß feinfühlender Verblödung (ich bin 75) hinzu: ›Gutes Handwerk zu jeder Zeit braucht Zwischenstufen der Langweiligkeit.‹ Amen.« (Gutenberg-Blätter, »I«)

Kontrapunktisch zu der »frommen Unsterblichkeitsmaschine« (Forster, 179), der Bibel-Druckpresse, steht hier die Frage nach der Absolutsetzung von Wahrheit in der Form des Gedruckten: »In der hier dargestellten ersten beweglichen Feldpresse nach Gutenberg begegnet uns die erste Kriegslügenpresse Europas. Sie gilt als unverwüstlich, steht heute im Pentagon und wird ausschließlich für vertrauliche Mitteilungen an den Präsidenten genutzt, wenn sie der alten wohlerprobten Unwahrheit dienen.« (Gutenberg-Blätter, »L«). Paul Mersmann überträgt die Ambivalenz einer Wahrnehmung von Wirklichkeit und Irregularität auf die Frage nach dem Wirklichkeitscharakter des gedruckten Wortes. Die alphabetische Zuweisung ist dabei austauschbar geworden, das einzelne Zeichen, der jeweils zugeordnete Buchstabe, steht in keiner Beziehung mehr zu Text und Bild.

Der Legende, wonach Gutenberg »eine Maschine erfunden [hat], mit der man zum ersten Mal drucken konnte« und die außerdem die »Schriftkultur revolutioniert und damit die Neuzeit vom Mittelalter geschieden« hat (Stein, 179), setzt Mersmann eine eigene Wahrnehmung entgegen, welche die Folgen einer reproduzierbaren Kunst in den Fokus der Betrachtung rückt: »Gutenberg im Traum von Entsetzen  über die Auflagenhöhe seiner Bücher erfasst. Das die Vernichtung eines einzelnen Buches aus der Serie der gedruckten Bücher zum Zwecke der Vernichtung aller Bücher durch ein einziges Symbol unmöglich wurde offenbarte Gutenberg die materiellen Folgen seiner Auflagendrucke. Nie zuvor war das Original einer Schrift auf diese Weise unantastbar gewesen und der Schrecken Gutenbergs als er dies entdeckte war unbeschreiblich. Es war der erste Schrecken modernen Ursprungs in der Literatur. Er schrieb den Gedanken auf und um ihn an die alte Zerstörbarkeit zu erinnern verbrannte er ihn.« (Gutenberg-Blätter, »V«).

Literatur

BRETON, ANDRÉ, Les vases communicants, Paris 1955.
BRETON, ANDRÉ, Manifestes du surréalisme, Paris 1962.
FORSTER, E. M., zitiert nach: Stein, Peter, Schriftkultur, Darmstadt 2006.
HOCKE, GUSTAV RENÉ, Manierismus in der Literatur, Hamburg 1959.
HOCKE, GUSTAV RENÉ, Die Welt als Labyrinth, Hamburg 1957.
LIPPARD, LUCY, New Artist's books, in: Lyons, Joan (Hg.): Artist's Books. A Critical Anthology and Sourcebook, Layton (Utah) 1985.
MALLARMÉ, STEPHANE, Œuvres complètes. Poésie-Prose, Paris 1945.
MERSMANN, PAUL, Wasserlösliche Zwischenstufen der Baukörper (Aquarelle und Kommentare), Wiesbaden 1988
MERSMANN, PAUL, Wasserlösliche Zwischenstufen der Heilkunst (Aquarelle und Kommentare), Wiesbaden 1989
NIETZSCHE, FRIEDRICH, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KSA I, München 1999.
NOVALIS, Fragmente. Kunstfragmente. Poetik, Dresden 1929.
ROTH, DIETER, Gesammelte Werke, Bd. 20. Bücher und Grafik.
STEIN, PETER, Schriftkultur, Darmstadt 2006.
SCHÖDLBAUER, ULRICH, Paul Mersmann, Europäer, 2007. http://www.fernuni-hagen.de/EUROLIT/US/pub/ldf/pme.html