Thomas Körner
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I.C.H.
oder
Das Große Verzeichnis der Geheimnisse


Borges hatte sich das Paradies als eine Art Bibliothek vorgestellt.
Andere hielten die ganze Welt für ein Buch.
Inmitten der Bibliothek von Babylon oder Alexandria – wer wusste das – befand sich das Große Verzeichnis der Geheimnisse. Längst nicht mehr vollständig. Weniges nur war noch verzeichnet.
Das Schicksal der Bibliothek wie aller Literatur war eines davon.
Niemand außer das Große Verzeichnis selbst vermochte dessen Geheimnisse zu lösen. Falls sie vorhanden waren.
Fünf Fragen durfte man dem Großen Verzeichnis vorwerfen zur Beantwortung.
Bejahte es die Fragen, war die Zukunft erkennbar. Verneinte es sie, schwieg es erstarrt für alle Zeit.
Nun betrete ich die Teppiche des Clemens von Alexandrien. Zumute ist mir wie dem letzten der Lehrlinge zu Sais. Schon brennt mein Verlangen mir auf der Zunge. Wissen will ich, ob das Ende gekommen ist allem Geschriebenen.
Ich stelle meine Fragen.


Eins               Die Frage nach dem Lesen

Ist das Lesen aufzufassen als Abteilung des Selbsterkenntnisprozesses, als Teil der erweiterten Reproduktion des Denkens.
Lässt sich das Lesen als geistige und körperliche Tätigkeit in Beziehung setzen zum Gelesenen.
Gibt es Arbeitseinheiten des Lesens.

Wie überhaupt sollte gelesen werden.
Grammatiklos. Klanglos. Sprachlos. Über alle Füllwörter hinweg. Das Literarische meidend. Schlagwörter, die als erkannt gelten, auslassend.

Ist das Buchstabieren, das Wort-für-Wort-Lesen nur noch möglich, wenn ein Wort an der Zimmerdecke, das nächste über der Straße steht.
Dem fliehenden Blick die Wörter voraus sind, im dauernden Wechsel von Ort und Zeit, dem nervös flatternden Überfliegen nur durch Stehen, Sitzen, Liegen ein Ausgleich zu verschaffen geht.

Oder muss viel ritualisierter gelesen werden. Beherrschter. Sybillinischer.
In einer die Meditation fördernden Haltung. Mit entsprechender Atemtechnik. Sogar gemeinschaftlich im Chor. Hymnisch begeistert. Ekstatisch verzückt.

Was bedeutet es für das Lesen, wenn je nach dem und wie man liest, das zu Lesende sich ändert. Im sich ändernden Lesegeschehen die Situation des Lesers wechselt, er Protagonist, sein Lesen szenisch wird.

Zu einem derart mitwirkenden Lesen gehörte, außer was wie wo steht auch, wie lange das zu Lesende dasteht, lesbar bleibt.
Die Lesart wird dadurch abhängig von Verweildauer, Beobachtbarkeit und Sichtbarkeit des Erzähl- und Lesepartikels im Diskontinuum des räumlichen Sprachzeichenensembles.

Dem, der so schauend liest, kehren die Buchstaben zurück als Bausteine der Welt und die Realität des Geschriebenen wird ihm zur Wirklichkeit seines Erlesens.
Vielleicht findet er dann bis zur Frühgeschichte der Lesbarkeit zurück, als die Mondphasen als verschiedene Ansichten des Stiergottes dargestellt wurden, mit einer Genauigkeit, die mathematisch war. Und sein Lesen wird wieder Berechnung. Also schöpferische Arbeit, aufbrechend vakuole Strukturen, hermetische Denkweisen, eine Veranstaltung der Freiheit, menschlicher Beweis.
Aber auch Prüfung, Pflicht. Und das Nichtlesen endlich eine Schuld.

Das Große Verzeichnis antwortet

WORTWÄRTS


Zwei               Die Frage nach dem Schreiben

Was ich tue ist alt. Ich schreibe Buchstaben auf Papier. Mir genügt die einfache Lust an der Kunst des Schreibens.

Aber die Überwindung alles Mechanischen, die Einführung des integrierten Schaltkreises hat das Schreiben verändert.
Nun lassen sich seelische Erlebnisse in der Art ihrer Entstehung im Gehirn beschreiben. Neuronale Netze als Modelle der Informationstechnologie sind Analogien für neue Schreibmuster. Cerebrale Strukturen formalisieren die Ebenen und Sphären der Texte. Die Psychoanalyse wird abgelöst von der Psychosynthese.

Die Hirnforscher haben einer Definition des Schreibens sich genähert, die existentiell statt ästhetisch ist. Es besteht kein Grund zu der Befürchtung, dass der Mensch durch die Benutzung elektronischer Werkzeuge seine schöpferischen Fähigkeiten einbüßt.
Doch sollte diesem neuen Schreiben zur Seite stehen eine theoretische Literatur, die nicht die vorhandene wissenschaftlich deutet und aufbereitet, sondern die entstehende sich vorstellt, vorausschauend modelliert, methodisch wie thematisch ausspäht.

Eine solche theoretische Literatur wäre schon mit Gewinn betrieben, wenn durch sie es möglich würde, Fälle zu erörtern, die bisher in ihrer Unbeschreibbarkeit sich behaupteten.

Der Darstellung beispielhaft zugänglich zu machen ist das metaphysische Überleben des Menschen im Raum, in den Zuständen seiner universalen geistigen Freiheit, angesichts des sich unbegrenzt wandelnden Ensembles begrenzter Möglichkeiten den Tod zu erreichen.

Wie also soll ich vorgehen. Soll ich deklarativ schreiben. Oder prozedural. Beides tun. Oder keines. Unter Beibehaltung oder Aufgabe meiner seelischen Eigenschaften, der Entäußerung meines Gedächtnisses, der gesichts- und geschichtslosen Digitalisierung meiner Vergangenheit.

Wenn Grundlage des Moralischen die Suche nach Wahrheit ist, das Schreiben selbst keine moralische Tat, im Verhältnis von Nichtwissen zu etwas weniger Nichtwissen aber katalytisch zu wirken vermag, worin könnte die Katharsis liegen.

Das Große Verzeichnis antwortet

SPRACHWÄRTS


Drei               Die Frage nach dem Buch

Die Rasanz der Entwicklung wird nur überboten von der Ignoranz der Betroffenen.
Die mediale Revolution ist der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar.
Am gedruckten Buch scheiterte Inquisition und Zensur – also das Verbieten von Büchern.
Das elektronische Medium macht die urheberrechtliche industrielle Vermarktung überwindbar – also das Verdienen an Büchern.

Der Autor wird frei, denn es geht nicht mehr um ihn.
Alles ist nun Sache des Lesers als des alleinigen Inhabers des Rechtes auf das Buch.
Aus den Beziehungen der Leser untereinander erwächst dem medialen Buch ein neues soziales Konzept.
Das Buch wird zum fraktalen Ereignisgitter einer medialen Raumzeit.
Es wird selbst zu der Vorstellung, die es während seines Gelesenwerdens erzeugt.
Ein solches Buch wird aufsuchbar, betretbar. Es wird zur virtuellen Behausung des Lesers.
Das aus den Lesern gebildete Buch aktiviert, verändert die Vorgaben des eigenen Modells.
Nicht geschehene Geschichten werden erzählt.
Sondern Geschichte selbst wird entworfen und verworfen, bis das Buch und sein Gegenstand identisch geworden sind.

Aber die poetische Revolution ist ausgeblieben, das neue literarische Medium in einem Programm der Textbe- und -verarbeitung versackt.

Noch gibt es den Leser und Schreiber in mir. Und beide als das Buch vor mir.

Wäre dieses nichts weiter als ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, es wäre unnötig. Bücher sind weit mehr als nur der Ausdruck der sie umgebenden oder hervorbringenden Raumordnungen und deren Insassen.
Traumgemeinschaften, Erinnerungskollektive, Vergesstnichtsbrigaden sind mir zuwider.
Das Buch ist und bleibt die geistige Alternative zum Staat.

Wie könnte es also aussehen, dieses Buch, welches gleichzeitig in uns allen und in jedem für sich entsteht und vergeht.

Das Große Verzeichnis antwortet

DENKWÄRTS


Vier               Die Frage nach der Sprache

O diese immerwährende Litanei.

... alles Wissen ver-sagt. Alle Wörter zer-schwiegen. Seit dem ersten Wort fällt die Schöpfung auseinander. Sprache – der Verfall des einen ersten Wortes. Statt mit nur einem Wort wieder alles zu sagen. Eine Sprachwelt schaffend, in der Menschen wie Wörter sind. Ihre Taten Gedichte. Ihr Schicksal Geschichte.
Aber wir sagen nichts mehr. Denken selbst unser Schweigen nicht.
Verlieren ein Wort aus dem anderen. Mauern mit jedem Wort uns ein.
Jedes Wort ein Stein. Wände reden wir, von unserem Schweigen zusammengehalten. Erstickt. Ohne alle Wörter. Nach Verlust aller Wörter. Im nächsten Anfang wird kein Wort sein. Wenn es ein Wort gab, das die Welt erschuf, muss es eines geben, das sie einstürzen lässt. In die Irre dieses Schrecks gehen wir...

Oder ist die Sprache das Produktionsverhältnis der Gedankenarbeit, um den literarischen Gegenstand, seine Einfachheit, seine Bedingtheit gedanklich zu erfassen, den Gedanken mit der Sprache ins Verhältnis zu setzen, die Sprache zu Wort kommen zu lassen.

Ist Sprache die Chemie des Alphabets, die Alchemie des Fabets. Das Formulieren die Bindungsfähigkeit – und -geneigtheit von Sprachpartikeln, das Auffinden von Bildungsgesetzen hochpolymerer Strukturen, die Prognose von Reaktionsverläufen. Setzt Sprachenergie unkritische zu kritischen Massen zusammen. Formeln fabelnd.

Wie das narrative Element verstärken, dass die Permeabilität der Prosa für den Gedankentransport erhöht wird. Wie zu elastischeren Formen des Denkausdrucks gelangen und formularisierte Überlegungsabläufe wie Ableitungen in der Mathematik erzählen. Wie das Denktempo der Prosa-Sprache auf Lichtgeschwindigkeit bringen und mit dreihunderttausend Sachen erzählen.

Erzeugt solche Sprache noch das Menschliche oder entfremdet sie sich diesem. Strebt eine Sprache, welche das Subjekt verlassend weiter tätig ist, ihrem eigenen Bilde nach.
Machen computerisierbare leseprogrammierte literarische Weisen, macht das digitale Denken eine andere Sprachweise des Bewusstseins erforderlich beziehungsweise stellen sie diese her. Vervollkommnet sich diese Sprachweise, bis ihr eigentlicher sprachlicher Teil sich abhebt.
Wird da etwas aufgegeben, zerstört, überwunden, etwas Europäisches, etwas Humanistisches.

Das Große Verzeichnis antwortet

GEISTWÄRTS


Fünf               Die Frage nach dem Dichter

Hat man sich zwingend einzulassen auf die Vorstellung einer Kultur ohne Dichter.
Fängt diese andere Art der Kultur schon damit an sie sich vorzustellen.
Ist der Dichter tatsächlich überflüssig, nur weil er sich nicht verindustrialisieren lässt. Oder wäre es nicht gerade seine Verindustrialisierung, die ihn überflüssig machte.

Wie aber soll der Dichter weiter auf dem Grat des Überflüssigen sich erhalten.

Ersteht die geistige Figur des Dichters doch aus seinem ›außerirdischen Bewusstsein‹ nicht im Sinne einer verwirklichten Metaphysik. Eher im Hölderlinschen Sinn des »von der Erde Verlassenen«. Und der soziale Typus des dichterischen Menschen ist Subjekt und Verrichtungsweise einer archetypisch beschriebenen Arbeit, Lebensbeweis einer unfassbaren Wirklichkeit zu sein, gleichnishaft unverständlich in seiner Unmissverständlichkeit, noch hinter allem Bewusstsein das Bild des Lebens entfaltend, seines Ge- und Entborenwerdens.

Der Dichter, nicht so interessant als Beruf des Schreibens, ist interessant als Daseinsweise, als existentielle Form.
Ausgerichtet an der fortgeschrittensten Entwicklung, in die Richtung, die sie nimmt, spähend, also der Komplex aus Seele, Sprache, Wort, Geist.
Der Dichter als die konsequente Berücksichtigung der Einsicht, dass wir dominant geistige Wesen werden müssen, wollen wir überleben.

Insofern scheint dieser Daseinsversuch (überhaupt: Leben – ein Daseins-Versuch) für die Zukunft wichtiger und aufschlussreicher als die zur Zeit praktizierten modischen, also nicht evolutionären Arten und Weisen, die allesamt davon ausgehen, wie man aus einer Masse von über sechs Milliarden für den Bruchteil eines Momentes sich in das mediale Wahrnehmungsraster einpasst, um sofort von der austauschbaren Gleichwertigkeit verdrängt zu werden.

Wenn wir uns vorstellen, dass unsere zukünftige Lebensform damit fertig werden muss, viele Lichtjahre weit allein durch den Raum zu fliegen, scheint d a s im Augenblick die Alternative: entweder ephemerer ›Lichtpunkt‹ über die Länge der Strecke, gleichwertig signalhaft erneuert. Oder das Modell des poetischen Intellekts, also der Dichter, der immer wieder neue geistige Kindheit setzt in jedes materielle Weltalter.

Das Große Verzeichnis

SCHWEIGT

Und Lesen, Schreiben, Buch und Sprache schlagen in einer gewaltigen Synopsis über mir zusammen.