Ulrich Schödlbauer
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Versuch über das Ungeschriebene
1.
Das
Geschriebene entsteht aus dem Ungeschriebenen, andernfalls
entstünde es nicht, sondern wäre schon immer da. Was
eben noch immaterieller Gedanke, auftauchende Formulierung,
unwirklicher Drang war, das wird unter dem Kratzen der Feder, dem
Klappern der Tastatur, dem Auftrag von Farbe auf eine leere
Fläche zu etwas, das auf den Schreiber zurückblickt,
als sei er bereits vergangen, und dieser weiß, das ist mein
Gedanke, meine Formulierung, mein Satz (er fühlt aus dem Wort
den ›Sprung‹ heraus): selbst wenn es niemand je
zu Gesicht bekäme, so bliebe noch ich, um an ihm zu ermessen,
wer ich bin. Ich, der Schreibende, ich habe etwas preisgegeben
– was und an wen, das, nun ja, wird sich zeigen.
2.
Unter
der Oberfläche des Geschriebenen besteht das Ungeschriebene
fort. Was ich geschrieben habe, ich kann es ausstreichen, kann eine
andere Wendung an seine Stelle setzen, ich kann es wenden –
die Worte, die Seiten, die Gedanken, die Abenteuer, das Schicksal.
›Ich kann auch anders‹: so lautet das Credo des
Autors, sein einziges übrigens. Das Ungeschriebene hingegen
bleibt immer das Ungeschriebene – man könnte es
›mit sich identisch‹ und ›indifferent
gegen das Geschriebene‹ nennen, sofern man es damit nicht zu
einem Geschriebenen zweiter Ordnung verfälschte. Die
Niederschrift verrät es auf zweierlei Weise, zum einen an
diejenigen, die des Lesens kundig sind und dieses Blatt hier irgendwann
zu Gesicht bekommen, zum anderen aber – und das ist mehr
–, als das, was es ist, an das, was es nicht ist, nicht war
und niemals sein wird. Das Universum des Geschriebenen ist nicht offen
für das Ungeschriebene, es existiert nur in sich selbst. Das
Geschriebene überdeckt das Ungeschriebene und
verdrängt es – ungefähr so, wie die glatte
oder raue Oberfläche eines Gegenstandes sein Inneres
verhüllt, während sie dem Betrachter suggeriert, es
sei so, gerade so, und nicht anders.
3.
Wer
schreibt, sieht das naturgemäß anders. Ich kann auch anders
– dieser Grundsatz, diese Grundlage allen Schreibens
läßt nicht allein den Zufluss offen, sondern auch
das Gemeinte. Die Bedeutung, die ein Satz für den besitzt, der
ihn niederschrieb, enthält eine Erinnerung und einen Vorgriff;
in der Erinnerung haftet, was ungeschrieben blieb, der Vorgriff zielt
auf die Umschreibungen, die da kommen. Dass die Wörter auch
weiterhin zuströmen werden – diese Lust und diese
Unruhe all derer, die schreiben –, dass sie sich in
Geschriebenes zu verwandeln vermögen, ohne dass das
Ungeschriebene deshalb vermindert würde, hebt den Vorgang des
Schreibens in eine Ordnung der Zeit und damit des Raumes, die nur ganz
entfernt derjenigen, in der Menschen sich normalerweise bewegen,
entspricht. Mit der Sprache verflüssigt sich auch die Zeit,
sie wird eindimensional. Die Gegenwart der Vergangenheit schwindet und
mit ihr die der Gegenwart selbst, beide gleiten in das
hinüber, was man normalerweise Antizipation nennt und was nun
eine Quasi-Zeit und einen Quasi-Raum ausbildet, aus dem derjenige
unsanft hinausgestoßen wird, dem aus Versehen der Stift aus
der Hand fällt. In dieser insularen Situation
›ergibt‹ sich das Geschriebene, ein Ausdruck, der
sowohl als Jagd- als auch als Rechenmetapher seine Richtigkeit besitzt.
Wer den Zauber dieser Verwandlung erfahren hat, bleibt ihm verhaftet,
auch wenn die Situation verflacht oder vergangen ist. Er versucht sie
erneut herbeizuzitieren, sobald man ihn mit der Frage nach der
Bedeutung dessen behelligt, was er einmal – in welcher
Ordnung der Zeit? – geschrieben hat.
4.
Geistesabwesenheit
ist das Stigma des Schreibenden, der einem anwesenden Publikum oder
Gegenüber Rede und Antwort stehen soll. Wer darin
geübt ist, die Welt schreibend zu erschließen, steht
außerhalb von Rede und Antwort – auch und
vielleicht gerade dann, wenn er sich als gefügig erweist.
Seine Rede, scheinbar offen und auskunftsbereit, besteht aus einer
Abfolge kleiner Inszenierungen, welche suggerieren, die erwarteten
Auskünfte stünden auf eine verquere Weise im Raum und
es liege allein an seinen Zuhörern, sie zu sehen oder auch
nicht. Im besten, dem für ihn entlastenden Fall veranlasst er
sie, sich wie angeregte Betrachter einer unsichtbaren Statue zu
verhalten, deren Sichtbarkeit außer Frage steht: was
bloß heißt, dass nichts gerade die Lektüre
ersetzt, die dem Verfasser verwehrt ist.
5.
Gleichviel:
der Auskunft Gebende ist in seiner Rede ebensosehr bei der Sache wie
bei sich selbst. Sache und Selbst sind im Moment des Schreibens wie des
Erinnerns untrennbar miteinander verbunden. Sie sind es nicht im Modus
der Selbstbewusstheit, sondern der Selbstverlorenheit; die Sache
scheint an das Selbst, das Selbst an die Sache verloren. Bei
näherem Hinsehen wirkt auch diese Auskunft lau. Die Sache wie
das Selbst zeigen sich löchrig, ihre Präsenz ist
lückenhaft und entgleitend. Deutlich wird das im
entscheidenden Moment der Niederschrift, der das Bei-der-Sache- wie das
Bei-sich-selbst-Sein unterbricht, obwohl er doch das Ziel aller
Konzentration darstellt. In ihm gleitet das Erbrütete
hinüber in die mechanisch reproduzierte Reihe der
Wörter und Buchstaben. Kein Schreibender, der nicht gern hier
und da über den Rand des Herbeigedachten hinausgeschrieben
hätte. Tatsächlich ist dieser Rand von irisierender
Schärfe: wer seine Aufmerksamkeit auf ihn richtet, dem
schwindet das Erdachte ebenso leicht wie die augenblickliche
Fähigkeit, Worte zu reihen. Das Ungeschriebene zieht sich aus
einem Denken zurück, das dem scharf artikulierten Gedanken den
Vorrang vor dem gleitenden Aufspüren und Verwerfen von
Wendungen gibt, in dem der Schreibende die Schreibsituation
perpetuiert, insofern er ständig neue Ränder erzeugt
und ignoriert. Es hält sich, so ließe sich
formulieren, in diesem unmittelbar übergänglichen
zweifachen Entweichen der Ränder, der dynamischen Spanne
zwischen dem noch nicht und nicht mehr
›Geronnenen‹, in der die Niederschrift ebenso
mühsam wie spielerisch vorankommt.
6.
Das
Ungeschriebene ist nicht dies oder das, nicht diese oder jene Art des
Bedeutens, nichts, was sich als Vorgedanke objektivieren
ließe oder als symbolisierende Instanz anböte. Es
ist nicht außer als Doppelaspekt eines fortwährenden
Negierens, das nicht als solches, sondern als Suche nach dem Richtigen,
als permanente Berichtigung, Eingang in das
Situationsverständnis des Schreibenden findet: dem richtigen
Gedanken, dem richtigen Ausdruck eines Gedankens, dem richtigen
Satzfluss und dem richtigen Wort. Dass es im Ich kann auch anders
des Schreibenden einen unverzichtbaren Förderer findet, der
von der Freiheit des Willens so weit entfernt ist, dass das eine
möglicherweise dort beginnt, wo das andere endet, bezeugt
seine Hörigkeit gegenüber dem Subjekt, die als
subjektive Hörigkeit, soll heißen
Gehörhaftigkeit, gegenüber und in jener insularen
Schreibsituation fühlbar wird und als lebensfordernde Gewalt
das Subjekt in die Position eines Opfernden rückt, aus der es
sich zwar jederzeit lösen kann, doch nicht ohne ein
Stück seiner selbst aufzugeben und darüber hinaus zu
leugnen.
7.
Der
Hermeneuten-Antwort auf die Frage, woraus Literatur entsteht
– variantenreich, wenngleich im Kern stets identisch
–, liegt die oft und unterschiedlich
geäußerte Überzeugung zugrunde, dass die
Literatur aus keinem Ungeschriebenen hervorgeht. Aber damit wird kein
Geheimnis preisgegeben, eher die Situation des Schreibenden, sofern man
sie als »primär«, jedenfalls als
nicht-eigen qualifiziert – was nicht ganz stimmen kann, da
auch die Auslegungspraxis, wenigstens in Teilen, eine Schreibe-Praxis
umfasst. Die ›professionelle‹ Distanz der
Ausleger zum Schreiben und dem, was geschrieben steht, verstellt diesen
Aspekt des eigenen Tuns. Es wirkt daher ganz konsequent, wenn sie ihn
auch an den Gegenständen ausblenden. Der ›gesetzte
Buchstab‹, dieses dem mechanisch hervorgebrachten Druckbild
abgesehene Gaukelbild, verweist stets nur auf seinesgleichen. Texte
verweisen auf Texte, die Verweisungszusammenhänge
konstituieren den Gegenstand der Hermeneutik, und die Hermeneutik
›konstituiert‹ den Text, der nur im weiteren Sinn
dem Buchstaben oder Zeichen, im engeren Sinn der Bedeutung der Zeichen,
den ›intertextuellen Bezügen‹ geschuldet
ist – ein Zirkel, in dem übrigens die bereitwillig
angenommene Macht der Sprache über das Denken eindrucksvoll
ihren Ausdruck findet.
8.
Im
Universum der Texte findet das Ungeschriebene nicht bloß
keine Stelle, es findet nicht statt. Allerdings – ein
zunächst zaghaftes, jedoch bald sich
auswachsendes›allerdings‹- lässt die
hermeneutische Praxis, verstanden als tatsächliche Praxis, als
geräuschlos-geschmeidig auslegender Betrieb, ein Problem
offen, das so einfach ist, dass viele sich scheuen, es zu benennen oder
seine Benennung auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Auslegung
literarisch-ästhetischer Texte lebt – jedenfalls
weitgehend – von dem Geheimnis, das diese Texte umgibt.
Entweder also sind die zum besseren Verständnis herangezogenen
Vorgänger-Texte so schatten- und geheimnislos, dass das
Geheimnis der ästhetischen Produktion sich in ihnen von selbst
verflüchtigt, oder es gleitet in die Vorgängigkeit
zurück, aus der ihm Aufklärung zuteil werden soll. In
beiden Fällen ist es gerecht, von einer optischen
Täuschung zu sprechen, im ersten Fall durch die per se dunkle
Literatur, im zweiten Fall durch ihre interpretative Erhellung. Mit
anderen Worten: Sub
specie des Geheimnisses erzeugt der Ausschluss des
Ungeschriebenen eine schale Unendlichkeit, in der die
Gleichgültigkeit der Auslegungen die Beliebigkeit der Texte
spiegelt. Der Mythos von Sisyphos, darauf kann man sich unter
professionellen Deutern rasch einigen, ist ein Hermeneuten-Mythos, sein
Inhalt die Sinnsuche als Sinn-Deutung (auseinander geschrieben: der
Sinn ergibt sich der Deutung, aber er ergibt sich nicht in ihr, sondern
bleibt ihr transzendent).
9.
Fragt
man, in Bezug auf was oder wogegen die Auslegungen
gleichgültig bleiben, so ist es wichtig, eine Differenz zu
bedenken. Das Ungeschriebene ist nicht identisch mit dem Gesprochenen.
Der Gedanke, Literatur könne in dem geläufigen Sinn,
dass jede literarische Produktion auf einer keineswegs unstrukturierten
Mannigfaltigkeit mündlicher
Lebensäußerungen aufruht und sie reflektiert,
Mimesis von Mündlichkeit sein, rührt nicht an das
Ungeschriebene, welches dem Schreiben zugrunde liegt, ohne dass es in
ihm aufginge. Wenn man mündliche Rede aufschreibt, bezieht man
sich auf sie, das heißt, man transformiert sie durch
Bewahrung, man transfixiert
sie. Das Ungeschriebene hingegen bleibt das Ungeschriebene, es ist
durch die Relation zum Geschriebenen primär bestimmt.
Näher kommt ihm das Wort ›Suche‹, falls
damit nicht die Sinnsuche der Interpreten, sondern die Suchbewegung des
Schreibenden gemeint ist, wie sie der Proustsche Romantitel
festhält. Der Ausdruck ›Suche‹ fixiert
den Unterschied zwischen Schreiben und Aufschreiben – sei es
als Diktat oder als ›Wiederspiegelung‹
–, der für das Schreiben konstitutiv ist. Dadurch,
dass er alle Aufmerksamkeit auf das Ziel lenkt, allegorisiert und
travestiert er in einem Zug die Grundbewegung des Schreibens. Er
allegorisiert sie, indem er ihr die Suche nach einem bestimmten,
vorgängig gegebenen und interpretativ zu ermittelnden Ziel
unterlegt. Er travestiert sie, weil die Implantation des Ziels in die
Schreibbewegung diese dahingehend verändert, dass sie schon
immer am Ziel ist, ohne es eingestehen zu dürfen. Darin
besteht die Komödie des Berufsschriftstellers, der sich mit
derselben Regelmäßigkeit auf die literarische
Gralssuche begibt, mit der ein Fernfahrer seine Routen abspult, weil es
das Konto befiehlt.
10.
Unter den
nicht-hermeneutischen Zugängen zur Literatur steht das
Schreiben bekanntlich an erster Stelle. Literatur ruft Literatur
hervor, die Situation des Schreibenden wird durch Schreibende
weitergetragen. In einem strengen – und keineswegs
angestrengten – Sinn weiß nur der um die Probleme
des Schreibens, der selbst schreibt. Das schmälert nicht das
Verdienst der Philologen und Interpreten, aber es rückt sie in
eine bestimmte Distanz. Wer schreibt, lässt sich von ihnen die
Stichworte geben, aber er denkt nicht daran, sich ihrer
Autorität zu unterwerfen. Auf der anderen Seite wendet sich
die Autorität der Interpretation immer nur gegen
konkurrierende Deutungen, niemals gegen den zu interpretierenden Text,
der die eine, absolute und unverzichtbare Autorität bleibt,
der man sich beugt. Die Autorität der Texte etabliert die
Autorität der Deutungen. Daran ändert sich nichts,
wenn Interpretationstexte in die Position des zu interpretierenden
Textes einrücken: das Autoritätsgefälle
bleibt stets das gleiche. Allerdings – und dies ins
Bewusstsein gehoben zu haben bezeichnet ein wirkliches Verdienst der
dekonstruktivistischen Schule – ist die Autorität
des interpretierten Textes eine supponierte: es kostet die
Interpretation nichts, die Mechanik der Bedeutungen auszustellen und so
den Text zu pulverisieren – dieses Nichts aus Worten bedarf
der Interpretation nicht, um zu wirken, sondern um zu sein. Die
Interpretation ›bringt heraus‹, was an dem Text
ist, sie stellt es dar, nicht in der Art einer szenischen Inszenierung,
sondern im Sinn der ›Darstellung Jesu im Tempel‹,
der ohnehin dem Schreiben im christlich grundierten Kontext
eingeprägt ist. Das Geschriebene findet seinen Ort unter den
Schriftgelehrten – nicht seinen wahren, seinen definitiven
Ort, wohl aber den Ort, an dem seine wirklichen Proportionen sichtbar
werden und die Scheidung des Profanen und des Sakralen greift. Der
sakrale Raum der Auslegung umschließt die ›rein
intentionierte Gestalt‹, welche die Figur des Autors mit
einbezieht, der selbstredend nichts begreift, aber staunend das Wunder
der Transsubstantiation vollzogen sieht, das ihm keineswegs so
wunderbar erscheint, sobald es sich nicht um den eigenen Text handelt.
Das ist, aus gehöriger Distanz betrachtet, komisch, aber diese
Komik hat es in sich. Die Blendung des Autors in eigener Sache
löscht seine Instanz nicht aus, aber sie macht ihn
bewegungsunfähig: der eigene Text ist hier und jetzt nicht der
eigene, soll heißen der hervorgebrachte und weiterhin
hervorzubringende, sondern ein Mittel, das ebenso Auskunft
über ihn verheißt wie über etwas, von dem
er nichts weiß, weil es in sein Schreiben in keiner Weise
eingeht, es sei denn durch den Gebrauch der Wörter als eines
aus vorgängigen Fixierungen stammenden und in immer neu
fixierter Gestalt als der sicht- und hörbare Aspekt des
Geschriebenen hervortretenden Allgemeinen. Das Allgemeine tritt nicht
aus dem Ungeschriebenen in das Geschriebene über, es tritt als
notwendiger Aspekt des Schreibens am Geschriebenen hervor.
11.
Die
Auslegung ficht das nicht an, da der ›gesetzte
Buchstab‹ den Bereich ihrer Aktivitäten bezeichnet
und umreißt; sie bewegt sich ›schon
immer‹, um ihre unverwüstlichste Formel zu
zitieren, im Allgemeinen und auf ein Allgemeines zu, das als
gemeinsamer Horizont ihrer Aktivitäten die Verschmelzung der
Einzel-Sinne in einen synthetischen Sinnzusammenhang
verheißt. Anders geht es dem Autor, der sich der
Wörter bedient, um den Fluss der Gedanken
›lebendig‹, soll heißen, in Gang zu
halten, der ihm als ›eigener‹ so wenig bewusst
ist, dass die Innigkeit des Hervorbringens das Selbst als fixe
Größe nicht zulässt: nicht weil er sich in
ihm den anonymen Bewegungen oder Gewalten seines Inneren (vulgo:
Unterbewusstseins) überlässt, sondern weil das Spiel
der Gedanken den ›Stoff‹ oder das
›Material‹ des Schreibens, die Klänge,
Wörter, Sätze weder aus der Position des sich
Aussagenden noch aus der des sich Nachgehenden oder Findenden
gebraucht, sie vielmehr dilatorisch hin- und herwendet, um
über sie hinwegzugehen. Das Selbst ist dabei nicht mehr als
ein Mantel, eine Schutzvorrichtung, die verhindert, dass das Spiel
mangels Anteilnahme vorzeitig versandet; Innigkeit und Selbst sind nur
um das Minimum der Differenz von Schreiben und Schreibendem
unterschieden.
12.
Aber ist
Schreiben nicht dies: Selbstfindung im Sinne der Delphischen Formel
›Erkenne dich selbst‹? Und ist der Interpret
nicht genau dann im Recht, wenn er die Schlinge um das, was da
geschrieben steht, zuzieht, um das Selbst des Schreibenden als eines,
das der gleichgültigen Menge des
›Gemeinten‹ entsteigt wie Botticellis Venus dem
Meerschaum, ›in Relation‹ zu setzen? Wenn die
Aufgabe der Interpretation im In-Relation-Setzen besteht, dem sie durch
das Auffinden immer neuer Relationen Genüge leistet, bedarf
sie dann nicht des geheimnisvollen Selbst des Autors, um den Faktor
›Beliebigkeit‹ zu kontrollieren? Erst der
verortete Sinn macht Sinn, erzeugt jenes wohlige oder schneidende
Gefühl, verstanden zu haben; dazu bedarf es der Namen, die als
Eigennamen die Stigmata des Konkreten tragen, dem dann in
Tagebüchern und intimen Berichten ebenso wie in
zeitgeschichtlichen Verstrebungen nachgegangen werden kann.
13.
Das
mag so sein, doch die Verortung des Sinns ist nichts, was den
Schreibenden – immer im Sinn der Differenz von Schreiben und
Aufschreiben verstanden – in irgendeiner Weise tangiert. Ganz
im Gegenteil: nichts verhindert zuverlässiger den Fluss der
Gedanken, soll heißen, die Bewegung des Ungeschriebenen, in
welcher sich die Silben, die Wörter und Sätze
›bilden‹, wie dies gelegentlich genannt wird, um
den eigentümlichen Umstand hervorzuheben, dass sie einerseits
ihre genaue Relation erst hic
et nunc erhalten, andererseits in einer Weise
gegenüber der alltäglichen Praxis ihrer Verwendung
›freigestellt‹ werden, dass neben ihrer
semantischen und mimetischen Funktion an ihnen etwas Drittes
›zum Vorschein‹ kommt oder
›aufblitzt‹ oder ›sich bemerkbar
macht‹. Ich schlage vor, dieses Dritte sowohl als das Ungeschriebene als
auch als das Funktionslose
des sprachlichen Ausdrucks zu begreifen. Beide gehören auf
eine verschlungene Weise zusammen. Es sei gestattet, diesen
Zusammenhang ansatzweise nachzuzeichnen und damit das produktive
Momentum in der Schreibe-Situation des Autors ins Zentrum der
Aufmerksamkeit zu rücken.
14.
Ein
Ausdruck wie ›das Ungeschriebene‹ klingt, als
handle es sich um eine Abstraktion – und zwar, um genau zu
sein, um eine Abstraktion jenseits der Grenzen legitimer
Begriffsbildung, weil das Etwas, das einem Begriff zugrundeliegen muss,
damit er nicht leer oder hohl oder bloß metaphorisch bleibt,
in diesem Fall allein durch die Negation herbeizitiert wird. Das
Geschriebene, das ist die Menge all dessen, was jemals geschrieben
wurde. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um
›etwas‹ handelt, das niemals in toto zu jemandes
Kenntnis gelangte oder gelangen wird. Keiner hat es gesehen, keiner
könnte es beschreiben oder hätte ›eine
Vorstellung‹ davon, nichtsdestoweniger handelt es sich
zweifelsfrei um etwas Bestimmtes – darauf kommt es an. Man
könnte nun das Ungeschriebene als die Menge des noch nicht
Geschriebenen definieren, doch hätte man sich dann der
Gelegenheit beraubt, dasjenige, das dem Geschriebenen im Schreibprozess
vorausgeht und in gewisser Weise in ihm vergeht, ohne als etwas
Bestimmtes kenntlich zu werden, begrifflich zu fassen.
15.
Unterzöge
der Schreibende sich der Mühe, alle Eingebungen des
Schreibprozesses aufzuzeichnen, so ließe sich leicht zeigen,
dass das Ungeschriebene nichts weiter ist als das
Noch-nicht-Geschriebene, angereichert um seine verworfenen Varianten.
Es wäre also etwas, das sich zwar quantitativ, aber nicht
qualitativ vom Geschriebenen unterschiede. Aber, so lässt sich
dem entgegnen, daran bestand doch von Anfang an nicht der geringste
Zweifel: besäßen wir diese Aufzeichnung, so
besäßen wir das Geschriebene, das wir jetzt genauer
als das Resultat eines Aufschreibevorgangs bestimmen könnten.
Jeder aufgeschriebene Satz erledigt darin sozusagen einen Merkposten,
der fertige Text ist der vollständige.
Wer so
redet, hat die Differenz zwischen Schreiben und Aufschreiben, von der
diese Überlegungen ausgingen, annulliert; für ihn
existiert der schöpferische Vorgang überhaupt nicht,
den man Schreiben nennt.
16.
Man
tut gut daran, das Zusammenspiel des Geschriebenen mit einem
Ungeschriebenen, das niemals und an keiner Stelle als dieses Bestimmte,
lax formuliert, in einem Eins-zu-eins-Verhältnis in das
Geschriebene eingeht, als den eigentlich schöpferischen Aspekt
des Schreibens aufzufassen. Jede weitere Bestimmung, die diesen Prozess
als einen des Findens und Verwerfens, des Prüfens und
Erwählens, von Tabubruch und Zensur etc. qualifiziert, ist
dieser primären Bestimmung nachgeordnet – was nicht
heißen soll, dass sie weniger wichtig wäre. Im
Gegenteil: mit ihrer Hilfe lässt sich überhaupt erst
verständlich machen, warum dieser Prozess dort, wo er gelingt,
zu etwas führt, das man ›artikulierte schriftliche
Rede‹ nennen könnte, wenn diese Minimalformel nicht
den Verdacht der Lächerlichkeit provozierte. Denn
tatsächlich erneuert sich in den
›schöpferisch‹ genannten Texten das
Faszinosum der Sprache. Etwas von der Ubiquität der Sprache,
die sich normalerweise nicht in einzelnen Sätzen oder
Satzfolgen, sondern in der tendenziellen Allbezüglichkeit
ihrer heterogensten Belege bekundet, scheint ihnen in besonderer Weise
anzuhaften. Ihre Eigenschaft, das, was man die Phantasie der Leser
nennt, in beliebige Richtungen zu lenken, zu konzentrieren und zu
zerstreuen, ist nicht nur nicht an bestimmte Ausdrucksfolgen gebunden,
sondern setzt sich in und gegen den je spezifischen Ausdruck durch, so
dass der nicht abzuweisende Eindruck entsteht, es könne leicht
– und zwar mit extremer Leichtigkeit – ein anderer
Ausdruck an seine Stelle treten: die Kostbarkeit des notierten
Ausdrucks tritt vor dem Hintergrund der gedachten Fülle
zutage, der das Notat entstammt oder, besser gesagt, entspringt.
17.
Für
dieses Entspringen hat die Literatur über Jahrhunderte zwei
Metaphern bereitgestellt: die Metapher der Jagd – nach der
›Idee‹ bei Giordano Bruno, nach dem
›mot juste‹ des Gedichts etwa bei Lorca, nach dem
Sprachbild bei Trakl, Benjamin oder Pound –, und die Metapher
der bildhauerischen Tätigkeit, der
›Freistellung‹ der Idee im Material der Sprache
durch Reduktion, bestens bekannt aus Prousts À la recherche du
temps perdu: beide halten das Motiv der
überraschenden Wendung fest, die der schöpferische
Prozess bei jedem Schritt und jedem Schlag nehmen kann und wirklich
nimmt. Für den, der schreibt, ist dies die wahrhaft
überwältigende Erfahrung, die das Schreiben
für ihn bereithält.
18.
Im
Universum der Schrift ist die Zeichenfunktion das Gegebene.
Schriftzeichen sind funktionale Einheiten, deren Materialität
nur so weit in Betracht kommt, als sie auch gedeutet werden kann. Dass
sprachliche Zeichen funktionslos sein sollen, klingt
verdächtig. Gerade das scheint den schöpferischen
Schreibprozess auszuzeichnen. Die
›Luzidität‹ des literarischen Textes
scheint in seiner relativen Leere, genauer gesagt:
Durchlässigkeit zu bestehen. Diese Durchlässigkeit
ist aber nicht konstruiert, sondern verdankt sich unmittelbar dem
Schreibprozess, in dem Wörter, Sätze, Textpartikel
aller Art auftauchen, um niedergeschrieben und durch die Niederschrift
verbunden zu werden. Die Wörter ziehen die Bedeutungen zu sich
heran, ohne sie – und darin liegt die Differenz –
in sich einzulassen. »So einen Kerl, sprach der Wirt, habe
ich zeit meines Lebens nicht gesehen.« Dieser Satz
– er findet sich in Kleists Anekdote aus dem letzten
preußischen Kriege – ist doppelsinnig,
er kann bedeuten: ›So einen Kerl, mit der Ausnahme des
soeben geschilderten, habe ich zeit meines Lebens nicht
gesehen‹, er kann aber ebenso gut bedeuten, was da steht,
dann ist die ganze Geschichte – erfunden. Doch der Doppelsinn
wird in dieser Schärfe bei der Lektüre nicht wahrgenommen, er läuft nebenher, erst die interpretierende
Einstellung befördert ihn in die maß- und
sinngebende Position. Bei aller hintersinnigen Funktionalität
wird der Satz durch das einfache Lesen nicht herausgefordert. Was in
ihm aufleuchtet und kometenhaft verlischt, ist eine Flammenschrift vor
schattenhaft bewegter Kulisse. Das hat als Metapher insofern seine
Richtigkeit, als die Schrift im Akt des Schreibens den
Hell-Dunkel-Kontrast erzeugt, der das Ungeschriebene, als das
ungeschrieben gebliebene, in den Raum einer singulären, als
Autorschaft verstandenen Erfahrung bannt, während es ohne
diesen Ehrgeiz nichts anderes als das Kommen und Gehen von Gedanken,
von Halb- und Viertelgedanken bliebe, aus dem, wie in Poes Murders in the Rue Morgue,
irgendwann eine Anrede hervorginge. Ohne den Ehrgeiz der Autorschaft
gäbe es keine Literatur; das heißt aber auch, dass
der zwingende Vorgang das Aufschreiben selbst ist, dem
gegenüber das Aufgeschriebene – und zwar gerade in
seinen überzeugenden Exemplaren – etwas vom
Charakter des Erhaschten behält: ruhig und in gerader Ordnung
aufgereiht, stellt es den Autor vor das ewige Rätsel, wie ihm
gerade dies passieren konnte. Im ›Passieren‹
steckt die ›Passage‹, das Fährgeld und
die Überfahrt. Die Zeit bringt die Ankunft oder das Scheitern,
zwei Metaphern des Angekommenseins, die sich insofern unterscheiden,
als die eine daran erinnert, dass es wie meistens im Leben auf den
Erfolg ankommt, während die andere auf dem prozessualen
Gleichmut des Geschehens beharrt, das seine Exponate kassiert.