Anthony Earl of Shaftesbury, Standard Edition
Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften
Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Wolfram Benda,
Christine Jackson-Holzberg, Friedrich A. Uehlein & Erwin Wolff
Bd. II,5: Chartae Socraticae. Design of a Socratick History
Stuttgart-Bad Cannstadt (Frommann-Holzboog) 2008, 340 S.


1.

Den Plan, eine englischsprachige kommentierte Quellensammlung zur Geschichte des Sokrates herauszugeben, verfolgte Shaftesbury über eine Reihe von Jahren. Die erhaltenen Niederschriften datieren im wesentlichen auf die Zeit zwischen 1703 und 1707. Der Ausdruck ›Chartae socraticae‹ geht zurück auf Horaz (Pisonenbrief, 310) und zielt auf  die grundlegenden philosophischen Texte, die dem Dichter bei seiner Arbeit gegenwärtig sein sollten.  In Soliloquy or Advice to an Author nennt Shaftesbury sie »those Philosophical Sea-Cards, by which the adventuring Genius's of the times were wont to steer their Courses« (SE I 1, 106/108). Welche ›Memoirs‹ Shaftesbury unter die sokratischen Seekarten aufzunehmen gedachte, geht aus dem Entwurf hervor, der eine Aufteilung des geplanten Unternehmens in zwei Bücher vornimmt: »that History, this Apochryph« (162, 4-5). Das erste Buch sollte (neben Lebensbeschreibungen des Sokrates und Xenophons aus der Feder des Herausgebers) Xenophons Memorabilia und Apologie enthalten, das zweite Buch Xenophons Symposium und Oeconomicus sowie Auszüge aus den Wolken des Aristophanes und einigen platonischen Dialogen, vollständig schließlich Platons Apologie, Kriton und, wiederum auszugsweise, Phaidon. Ergänzt werden sollte das Programm durch Lebensbeschreibungen Sokrates' und Xenophons sowie durch einführende Texte aus Shaftesburys Feder.
Was davon blieb, ist ein hier erstmals aus dem Nachlass ediertes Konvolut von Vorüberlegungen, Übersetzungsversuchen und Textkommentaren (in der Standard Edition werden daraus mit kritischem Apparat und Index 340 Seiten): eine Fundgrube für Shaftesbury-Leser und -Interpreten und eine beachtliche Quelle für das Studium der Klassikerrezeption an der Wende zum 18. Jahrhundert.

2.

Shaftesbury zählt zu den gut versteckten Größen der europäischen Geistesgeschichte. Daran konnte auch die allmählich in ihre geplanten Dimensionen hineinwachsende Standard Edition nicht viel ändern. Die Abstinenz besitzt strukturelle Gründe. Mit dem Verfasser der Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times hat der selbstgewisse angelsächsische Pragmatismus ebenso wenig anfangen können wie die lange Zeit traditionsfeindliche sprachanalytische Philosophie. Dass man zeitweilig erst gar nicht in Versuchung geriet, seinen bedeutenden Nachlass kritisch zu sichten und angemessen zu edieren, gehört ins Bild. Es war ein historischer Missgriff, der einige deutsche Gelehrte, darunter Ernst Cassirer, dazu bewog, aus dem gentleman philosopher und Xenophon-Bewunderer einen Neuplatoniker zu machen und ihn in die Nähe der Cambridge Platonists zu rücken. Shaftesburys –  eher bescheidener – Beitrag zur Philosophiegeschichte im engeren Sinn fällt mit den Anfängen der common sense-Theorie zusammen. Ein ganz anderes Gewicht erhält sein schmales Œuvre, wenn man ihn als frühen Protagonisten jener großen Bewegung des Theismus begreift, die, in der Mehrzahl Schriftsteller und Intellektuelle, die Welt nicht nur verschieden interpretieren, sondern verändern wollten. Der Hebel, den ihnen Shaftesbury in die Hände spielte, war die energische Ablehnung frommer oder bigotter Heteronomie: dass sich die Welt nicht dem radikal Bösen ausliefert, wenn sie auf die Heil- und Lockmittel einer patriarchalischen Gottesfurcht verzichtet, dass sie sich damit im Gegenteil einer Quelle der Leichtgläubigkeit und der moralischen Korruption entledigt, musste einmal in dieser Schärfe und Bestimmheit artikuliert werden, um im Bewusstsein der Epoche ein für allemal präsent zu sein. Die Konsequenzen, die Shaftesbury dem Theismus entlockt, ähneln in ihrem Redikalismus und ihrer Allfälligkeit denen, die zweihundert Jahre später Nietzsche aus dem Atheismus der Zeitgenossen zu ziehen wusste.

3.

Der Aufklärer Shaftesbury bewegt sich nicht vorwärts in Richtung auf eine kommende Philosophie des Subjekts und die mit ihr verbundenen Ansprüche auf Selbstgesetzgebung und Selbstbegründung, sondern rückwärts im Glauben an die Existenz einer Philosophia perennis, an der kein Schatten von mystagogischer Geheimniskrämerei und alchimistischem Brimborium hängen bleiben darf. Diese Orientierung an der Antike, vor allem der mittleren Stoa, führt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auf das kritisch-programmatische Quellenstudium der Chartae. Ihr Ziel, den ›wahren‹, den historischen Sokrates aus den apologetischen Inanspruchnahmen der Schüler und Nachfolger herauszulösen, entspricht einem gelehrten Bedürfnis der Zeit und Shaftesbury ist keineswegs der erste, der ihm nachgeht. Gerechter wird man dem geplanten Werk allerdings, wenn man seine Adressaten näher ins Auge fasst, jenes ländlich-aristokratische Publikum, das sich von dem der Gelehrten, folgt man den Andeutungen des Earl, vor allem durch praktischen Sinn und gute Manieren unterscheidet, durch den bon sens, der einem sagt, was geht und was nicht geht und wo die Grenzen des Schicklichen für eine gut geführte theoretischen Auseinandersetzung liegen. In der Querelle des anciens et des modernes, dieser Meta-Debatte des siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts, in der sich das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der kulturellen Moderne formte, zählt Shaftesbury zu den Parteigängern der »antients«. Die ästhetische Parteinahme ist ohne die philosophische nicht zu verstehen et vice versa. Sein moral sense fußt auf handfesten Annahmen, ein unendlich geordnetes, harmonisch gegliedertes Universum betreffend, und der Idee der Mimesis, der Annäherung des Individuums an das Allgemeine mittels Verähnlichung. Durch Sokrates, davon zeigt er sich überzeugt, ist dieses Denken in die Welt getreten. Es ist aber die Spontaneität des Vorgangs, die sein Interesse auf sich zieht: Wie jedes angemessene Weltverhältnis primär ist, das heißt sich nicht erst durch eine ausgebildete Dogmatik ›richtiger‹ Gedanken bildet, sondern in der Gesellschaft (die allerdings einige Voraussetzungen dafür mitbringen muss), so unterstellt er auch der Philosophie dort, wo sie sich spontan in geselligen Formen bildet, im offenen, direkten Gespräch zwischen Personen, deren persönliche und soziale Integrität verbürgt ist, eine Richtigkeit, die sich in den Ausdifferenzierungen und Schulbildungen seitens der Nachfolger zwangsläufig verliert.

4.

Wie die Poesie von Homer, so leitet sich die Philosophie von Sokrates her. Neben und hinter dieser vom Autor des Advice to an Author gezogenen Parallele wird im nachgelassenen Projekt eine andere, nicht minder bedeutsame sichtbar. Die Chartae begnügen sich nicht damit, das sokratische Denken frei von den Schlacken einer unzuverlässigen Überlieferung zu präsentieren. In ihrem Mittelpunkt steht die Figur des Sokrates. Die Aufteilung der Quellen in historische und apokryphe, dazu bestimmt, die Spreu der »Dialogues of Witt & learning [...] from Friends, from Enemyes« (161) vom Weizen der unverfälschten Berichte zu sondern, zitiert unübersehbar die Evangelientradition: Was den Christen die Gründungsfigur ihrer Religion, das ist der Sekte der philosophischen Freigeister der Sohn der athenischen Hebamme. Sinnfällig wird die Parallele, wenn Shaftesbury in der Skizze zum Vorwort des ersten Buches postuliert: »there is nothing nor [...] no person [...] in Antient History of whom [...] we may have a clearer plainer view & more intire know...« (47) Die Vollständigkeit und Klarheit dieses Wissens basiert nicht allein auf der Vollständigkeit und Klarheit der Quellen, sondern gleichermaßen auf Innensicht. Den historischen Sokrates einsehen heißt, das eigene Selbst zu entwickeln und über den starken Affekt der Scham die inhärenten Ideen von »Temperance, Justice, Friendship« in ihm zu befestigen. (48) Shaftesbury ist sich der religiösen Konkurrenz wohl bewusst und appliziert alle ihm zu Gebote stehenden Unterscheidungen, um den Argwohn der Frommen an dieser Stelle zu zerstreuen – ein rhetorischer Kraftakt, der, wie der übrige Nachlass zeigt, in deutlichem Widerspruch zu seinen privaten Überzeugungen steht. Darüber hinaus rückt die Parallele Prozess und Tod des Sokrates ins Zentrum der Aufmerksamkeit: »The Life of Socrates from Dio. Laertius & others [...] concluding with his Death & the censure of it fall naturally into Xenophon's expostulation & the first words of ye Memorables« (42). Die Tragödie des Sokrates enthält die Tragödie der Philosophie. Beide sind unwiderruflich verbunden mit den Antinomien der Freiheit, der Verbindlichkeit der Gesetze und der die sie gegebenen Möglichkeit der Tyrannis. Deutlich wird das im Verschwinden der Philosophie bei den Griechen und später bei den Römern. In beiden Fällen handelt es sich um Untergänge nach dem Verlust der öffentlichen Freiheit, der bei den Römern in eine »Universall Tyrrany« mündet. (161)

5.

Das Ende der Philosophie – kein wirkliches Ende, sondern ein Untergang in der Zeit und im öffentlichen Leben, dem andernorts und zu anderen Zeiten die Auferstehung folgt – enthält auch das Ende der Kunst. Diese Konsequenz, die Shaftesbury dazu bewegt, Horaz und Vergil, die Klassiker der aetas Augustea, als Autoren der inneren Emigration zu beschreiben, als Republikaner des Herzens, findet in den Wolken des Aristophanes ein Präludium, das insofern bedenkenswert ist, als es Dichtung und Philosophie als widerstreitende Parteien zeigt. »Aristophanes the Murderer of Socrates« lautet eine Notiz in den Aufzeichnungen. (181) Sein Porträt bereitet der Anklage das Terrain, es selbst formuliert bereits einen Teil der Anklage. Aristophanes zählt also zu den Feinden des Sokrates und unter ihnen ist er möglicherweise der gefährlichste, weil er das Volk gegen ihn aufhetzt. Was hier jedoch einerseits als Demagogie erscheint, wahrt andererseits die Freiheit von wit and humour, ohne die weder Poesie noch Philosophie denkbar erscheint. Der Grundwiderspruch haftet, worauf schon Leibniz in seiner Besprechung der Characteristicks aufmerksam macht, an der Theorie des moral sense. Die Chartae verraten, wie Shaftesbury selbst sich an dem Dilemma abarbeitet. Es sind ein paar karge Andeutungen, die den Anteil des Aristophanes an den gegen Sokrates gestreuten Verdächtigungen sofort relativieren. »Hard Fate os Socrates to be accus'd arraignd & executed, in [...] a manner [...] for being an Enemy to Pleasure [being] and afterwards in a following Age to be traduc'd as doing all for secret Pleasure [...]. Hard Fate to be rail'd at, as illiterate [&] a despiser of sublime Learning & a Jester [...] & yet [...] laughd at as an Enthousiast & a super-Sublime Enquirer.« (183) Das ›harte Schicksal‹ des Sokrates ist demnach identisch mit dem der Philosophie selbst, die nach seinem Tod in jede der angedeuteten Richtungen über die sokratische Lehre hinausgeht, um überall dort, wo sie einfach, klar und nobel auftritt, zu ihr zurückzukehren. Der ›Witz‹ behält also, auch wo er sich gegen die Philosophie richtet und boshaft wird, seine Funktion – er eilt ihrer Selbstkorrektur voraus und weist ihr, auch gegen die Intentionen und des Selbstverständnis ihrer Vertreter, den Weg. Man versteht daher, warum Sokrates sein Schicksal, das heißt das Urteil der athenischen Justiz und des athemischen Demos, nach Shaftesbury annehmen musste. Unausgesprochen wird der Opfergang des Sokrates der Passion Christi nachgebildet. In gewisser Weise kommt die Philosophie erst dadurch in die Welt, dass sie all die notwendigen Verdächtigungen auf sich nimmt, die sich an ihre Existenz heften.

6.

Diese Beschreibung enthält die Grundfigur der Nachfolge, ohne die Shaftesbury die sittliche Wirkung der Philosophie (und des Philosophierens) nicht denkbar erscheint. Wie weit einer sich dabei öffentlich zum Gespött – oder Ärgernis – macht, liegt nicht wirklich in seiner Hand, es ist eine Frage der Institutionen und der Liberalität der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Die Philosophie verlangt kein öffentliches Bekenntnis, sie braucht keine Märtyrer, aber sie kann nicht verhindern, dass die Parteigänger der Vernunft bereits öffentlich am Pranger stehen, bevor der Einzelne sein Votum abgibt. Das ist ihr Schicksal, gegen das zu rebellieren nicht sinnvoll erscheint. Ander als die Kunst braucht sie kein Publikum. Wohl aber ist der test of ridicule, dieses unverzichtbare Mittel des Geistes, seine Freiheit gegenüber dem Vorurteil der Zeitgenossen und einem eingeschliffenen ›Stand des Denkens‹ zu wahren, ohne ein Publikum nicht zu denken. Wie dieses Publikum beschaffen sein muss, um jene Form der Freimut zu praktizieren, die der Begriff des moral sense oder des Gemeinsinns voraussetzt, ist das eine, das andere ist die unverzichtbare Korrekturfunktion, die der Kunst damit im Raum des Intellekts zuwächst. Wie eng Shaftesbury die Philosophie und die Dichtung verschwistert erscheinen, erhellt daraus, dass er Homer den Philosophen unter den Dichtern nennt. Die Dichtung geht der Philosophie voraus – zeitlich wie in der Sache, und die Philosophie tut gut daran, sich immer wieder auf sie zu beziehen, ohne sich von ihren Sirenenklängen auf Abwege locken zu lassen. Man kann darin genuines achtzehntes Jahrhundert erkennen, aber die Art und Weise, wie eine autonom gedachte, dem l'art pour l'art und dem Leben ergebene Kunst seither unter die Räder der Ideologie und des Marktes geraten ist, lässt diese bequeme Art, die Dinge in eine zeitliche Distanz zu schieben, von der mehr oder weniger blind unterstellt wird, sie habe etwas zu bedeuten, nicht besonders hinnehmbar erscheinen.

7.

Shaftesbury Design of a Socratick History ist eine ausführliche Skizze zu einem ungeschriebenen Buch, ein ›Schema‹, das seine Herausgeber vor eine Reihe kniffliger Entscheidungen stellte. Heraus gekommen ist ein zurückhaltend kommentierter, bei aller gegebenen Sprödigkeit lesbarer – und lesenswerter – Text. Offenbar lockte Shaftesbury die Idee, ausgehend von den Dialogen Xenophons und Platons eine Geschichte der Entfaltung dessen zu schreiben, was man, mit Blick auf seine eigenen Schriften, den ursprünglichen Ansatz des sokratischen Philosophierens nennen könnte. Diese Reihe findet ihren Abschluss in den Auffassungen der Stoa, die der Autor in den Askemata wort- und gedankenreich variiert. Xenophon nimmt in ihr die Rolle des zeitnahen Historikers ein, Platon die des poetischen enfant terrible, dessen Ideenlehre Shaftesbury als den Ursprung allen philosophischen ›Enthusiasmus‹ und christlicher Metaphysik schmäht. Dass es für ihn neben dem  ›Schwärmer‹ Platon auch den ›noble man‹ zu entdecken gilt, nimmt dieser Lektüre ihre durch die Aufklärung weitgehend trivialisierte Spitze.
Die Philosophiegeschichte ist über diesen Shaftesbury hinweggegangen. Leibniz' Befremden angesichts des ungeheuerlichen Leichtsinn, der ihm aus dem Gedanken zu sprechen schien, das dem Müßiggang des Denkens verschwisterte Lachen als Menetekel der Vernunft (der vernünftigen Unvernunft) anzunehmen, ist heute wie damals nachvollziehbar. Shaftesbury ist sich des Verfolgungspotentials, der in dem Gedanken steckt, so sehr bewusst, dass er den Tatbestand der Verfolgung an den Anfang der Philosophie stellt. Es bleibt also die Frage, was genau er unter Philosophie versteht: eine Gegenreligion der ›virtuosi‹ genannten freien Geister, die ebenso wenig in der Lüge zu leben vermögen, wie dies ihre christlichen Verwandten von sich behaupten? Die vernünftige Religion ist zuallererst eine Religion der Vernunft, eine Selbstverpflichtung auf den uneingeschränkten Gebrauch der Vernunft, die ihre eigenen Riten besitzt und ebenso streitbar und unduldsam ist wie ihr Gegenpart. Diese triviale Sicht auf die Aufklärung findet bei Shaftesbury mit Sicherheit einige Nahrung. Aber sie reicht nicht aus. Dass die Religion wie die Vernunft an sich biegsamer sind, als es die jeweilige Außensicht zu beschreiben zulässt, findet seinen Grund darin, dass letztere immer konstruiert ist – jedes Schreiben über setzt eine Distanz, die sich nicht mehr zurücknehmen lässt und in der Sache keinen Widerpart findet. Wenn das eine wie das andere unumgänglich und damit in einem gewissen Sinn ›nichts Besonderes‹ ist, dann zeigt sich darin ein Unbestimmtheitskern des Denkens, der Bestimmungen generiert und damit Aggression auf sich zieht. Der test of ridicule lässt sich eher dem Überqueren einer Schwelle vergleichen als einem Haltbarkeitstest. ›Es ist nicht zu fassen‹ – nein, das ist es nicht und kann es nicht sein.
Davon handelt die Kunst.

Ulrich Schödlbauer