Hans Lichtenberger
Das Problem der Religion
im Ansatz von Panajotis Kondylis

1. Fragen

Bei dem Ideologietheoretiker, Gegenwartsdiagnostiker und politischen Philosophen Kondylis spielt die Religion eine äußerst marginale Rolle. Das auffällige Beschweigen dieses Phänomens ist umso bemerkenswerter, als längst zu seinen Lebzeiten die Säkularisierungsthese empirisch erschüttert worden war sowohl durch die individualistischen Wellness-Religiositäten des massendemokratischen Zeitalters wie auch durch das planetarische Auftreten politischer, meist fundamentalistischer Religionsgestalten.

Soll man annehmen, dass diese Thematiken bereits unter den Titeln ›Metaphysikbedürfnis‹, Unvermeidbarkeit der Produktion von Weltanschauungen, Normen und Ideologien oder ›Glaube an den Sinn des Lebens‹ implizit abgegolten sei? Dann wäre zumindest erstaunlich, dass ein Phänomen, das doch seit der Aufklärung und der genetischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts als das Paradigma für Ideologie schlechthin behandelt wird, so beiläufig übergangen wird. Nimmt der Sozialphilosoph an, dass das 19. Jahrhundert die Kritik der Religion vollendet habe, welche doch nach Marxens Diktum die Voraussetzung aller Kritik sei? [Nietzsche, dessen »Zur Genealogie der Moral« in vielen Hinsichten Pate steht, hat seinen Ansatz nicht nur am Christentum exemplifiziert, sondern geradezu material aus diesem entwickelt. – Zuvor ist im Zeitalter der Aufklärung Spinoza, der vorbildhaft leidenschaftslose Ontologe und Deskriptor der menschlichen Dinge, nicht umhingekommen, den analytisch kalten Blick auf die real existierende Religion zu richten.]

Hat sich in der Gegenwart eine Theorie vor der Realität blamiert? Wie kann der hochkompetente Ideenhistoriker, der ›Geist‹ als Machtmittel und Herrschaftsanspruch dechiffriert, so souverän übergehen, dass ›Geist‹ von den Vorsokratikern bis zumindest Hegel den hervorragendsten Gottesbegriff bezeichnete? Sollte die Autarkie und Originalität des anthropologischen und sozialontologischen Ansatzes gesichert werden, indem eine sachliche Nähe zur klassischen Religionskritik unterbestimmt bleibt? Oder braucht diese deshalb nicht zum Thema zu werden, weil sie stumm schon immer mitgedacht ist? [Wenn dies der Fall wäre, so wären doch Differenzierungen im Blick auf fortgeschrittenere Theoriebestände angebracht gewesen: etwa dass Religion auch eine elementare Form der Vergemeinschaftung ist, dass sie historisch als Medium von Macht sehr spezifische Instrumentarien ausgebildet hat, dass die Unterscheidung von Freund und Feind derjenigen von Gläubigen – Ungläubigen historisch oft basal korreliert, und anderes mehr.]

Gäbe es vielleicht umgekehrt die Möglichkeit, dass die Phänomenalität der Religion in Geschichte und Gegenwart zu ambivalent und differenziert sein könnte, als dass sie mit den reduktionistischen Zangen von ›Macht‹ und ›Entscheidung‹ zureichend erfasst sein könnte? Sollte – die Unterstellung ist möglicherweise nicht ganz fair – das Schweigen ein Indiz sein, dass der Autor ein Gespür hatte, mit seinen theoretischen Mitteln den Gegenstandsbereich nicht angemessen entfalten zu können? Ist Religion – ähnlich wie die außermenschliche Natur – eine Leerstelle in dem weitreichenden und hochambitionierten Ansatz? Hat das selbst wiederum systematische Gründe? – Selbst wenn behauptet werden könnte, dass die beanspruchte ontologische bzw. anthropologische Struktur so fundamental sei, dass aus ihr die Gestaltwerdung der Religion zwanglos abgeleitet werden könnte – wie es etwa bei Feuerbach exemplarisch der Fall ist – so bliebe immer noch die Frage, weshalb in den zeitdiagnostischen Schriften, die es ja an Konkretion nicht fehlen lassen, die Religion fast völlig unerwähnt bleibt. Ist das nur die Verweigerung gegen einen damals sich schon abzeichnenden Modetrend zu einem ›religious turn‹?

2. Der anthropologische Ansatz

Die angerissenen Fragen lassen sich nicht definitiv beantworten. Das liegt weniger daran, dass die wenigen Andeutungen in den Texten eine zu schmale Basis abgeben, sondern verdankt sich vielmehr einer paradoxalen Theoriegestalt: dass nämlich eine Theorie von hoher apodiktischer Eindeutigkeit das fluide Feld des sozialen Seins in seiner »Offenheit und Plastizität« [SO; S.185], gekennzeichnet durch nicht dialektisch behebbare Ambivalenzen, zum Thema zu machen sucht. Ob und inwiefern dies selbst ein aporetisches Unterfangen ist, muss hier unerörtert bleiben. [Vergl. zur Theoriegestalt Furth und Kondylis2 unter Literatur]

Lediglich seien einige Punkte erinnert und mit anfragenden Schlaglichtern versehen, die zu den Voraussetzungen des Theoriekonzepts gehören. Sie sind zugegebenerweise »banal« [ME 119], doch von hoher Evidenz, und sie werden perspektivenreich und mit zwingender Logik ausgezogen. Es wird eine klassische Theoriegestalt arrangiert, die in ihrer Unbeirrbarkeit den Verdacht eines selbst normativ angelegten Deduktionismus erwecken muss. Im Gestus einer traditionalen Einheitsmetaphysik wird die Pluralität der Phänomene zurückgebogen auf eine »letzte Wirklichkeit«[ME 119] und aus der dieser internen Dynamik wieder abgeleitet. Die Beobachtung, dass alle Systematisierung zugleich Verdrängung und Abblendung induziert [Vergl. ME 14ff.], findet keine Selbstanwendung. So ist auch die für die eigene Position behauptete Attitüde des wertfreien Beobachters letztlich keine Absage an die Macht, sondern die Einnahme einer reklamierten Schiedsrichterrolle, die doch selbst affiziert ist von dem, was sie zu entlarven vorgibt. – Reduktionistische Theorien des Typus’ ›…ist nichts anderes als…‹ – wie sie vor allem das 19. Jahrhundert ausgebildet hatte – immunisieren sich selbst gegen Kritik, indem sie noch jeden Einwand als Bestätigung der Grundfigur deuten können. Diese Theorie diktiert jeder Auseinandersetzung mit ihr von vornherein die Position des Schwächeren zu. Wie ein Diskurs zu führen sei, ist unklar. Doch sei auf einige Aspekte hingewiesen, die in diesem Konzept unterbelichtet scheinen und die möglicherweise den imperatorischen Anspruch etwas relativieren könnten.

a) Selbststeigerung

Bündig Anthropologie und Ideologiekritik zusammenfassend, resümiert Kondylis: »Wir meinen nur, dass alle anderen Wirklichkeitsauffassungen und -begriffe Werk jener letzten Wirklichkeit sind, daß also Ideen und Werte Funktionen, ja Funktionsweisen der um Selbsterhaltung und Machterweiterung kämpfenden sozialen Existenz sind.« [ME 119] – Es ist nicht anzunehmen, dass Kondylis den metaphysisch hoch befrachteten Terminus der ›letzten Wirklichkeit‹ – die philosophische Sprache des 20. Jahrhunderts kennt ihn kaum mehr, lediglich bei einigen Theologen hatte er sich erhalten – unbefangen benutzt; eher exponiert er gezielt seinen naturalistischen Monismus als überbietenden Nachfolger metaphysischer Letztbegründungssysteme. Das damit verbundene Risiko der Unzeitgemäßheit geht er gerne ein, stilisiert sich auch in diesem Sinne. – Doch steckt bereits in der inhaltlichen Bestimmung jenes ersten Prinzips eine dogmatische Setzung. Dass Selbsterhaltung eo ipso Machterweiterung sei, ist ein spezifisch europäisch-neuzeitliches Motiv, das bereits phänomenologisch nicht zu universalisieren ist, dessen Ontologisierung aber schlechter Dezisionismus ist. Weder kann diese Behauptung beispielsweise für das stoische Konzept der ›Übereinstimmung mit der Natur‹ gelten, noch muss sie für Menschenbilder, wie sie in Religionen und Philosophien außerhalb Europas entfaltet wurden, zutreffend sein. [Kondylis würde vermutlich entgegnen, auch das seien lediglich unter der Gestalt der Negation auftretende ideologische Maskierungen unsres ursprünglichen, in der Biologie verankerten Triebs.]

Der Furor dieses dynamischen Konzepts der Selbststeigerung vernachlässigt den bedrohlichen Untergrund, dem alle Selbsterhaltung abgerungen wird: die Erfahrung elementarer Passivität, des Leidens und des Ausgesetztseins, die aller Selbsterhaltung vorgängig ist. Die phänomenologische Bewegung des 20. Jahrhunderts hat dies strukturell wie lebensweltlich ausgearbeitet, nicht minder die medizinische Anthropologie und die ethnologische Forschung. [Es ist auffällig, dass Kondylis nirgends Bezug nimmt z.B. auf Emmanuel Levinas, der mit vergleichbar fundamentalem Anspruch eine Sozialontologie, gegründet auf das Trauma der Passivität, entwickelt hat.]

Hätte das Wahrnehmen jener Tatsächlichkeiten und der ihnen gewidmeten Wissenschaften die anthropologische These der analytischen Verknüpfung von Identität und Macht ins Wanken bringen oder zumindest zu einer letzten Dualität von Passivität und Reaktivität führen müssen?

Entsprechend wenig interessiert zeigt sich die Theorie an der Aufnahme des anthropologischen Grunddatums des Todes [Darauf verweist Volker Gerhardt 2006.] und der Todesfurcht, das ja seit der frühgriechischen Dichtung und Welterfahrung ein Kernproblem menschlichen Selbstverständnisses war, und in vielerlei Sichten als Keimzelle nicht nur der Metaphysik, sondern auch der gesellschaftlichen Organisation verstanden wurde. Aber der Tod als die unvermeidlich aufgedrängte Negation der Selbsterhaltung wird bei Kondylis nicht in deren Konzeptualisierung aufgenommen. [Auch wenn Kondylis schreibt: »Die Kontingenz des Lebens wird der Notwendigkeit des Todes Tag für Tag und Jahr für Jahr abgewonnen….« (SO 240), wirft diese dunkle Gegenseite der Selbsterhaltung keinen Schatten auf deren Inszenierung.]

Die ›Sozialontologie‹ enthält einen gewichtigen Abschnitt über die Sterblichkeit [SO 239-248], der bedeutende Korrekturen am existentialistischen Todespathos anbringt. Primäres Interesse hat der gewaltsame Tod, der allein in sozialen Bezügen stehe. »Denn die Sinnhaftigkeit des natürlichen Todes lässt sich bloß auf Grund unbeweisbarer metaphysischer oder religiöser Konstruktionen behaupten.« [SO 241] – Hier manifestiert sich erneut der in Kondylis’ unvollständigem Nihilismus verborgene Dogmatismus: da alle Vorgänge in der sozialen Welt auf menschlichem Handeln beruhen, müssen sie – über welche direkten oder indirekten Deutungen auch immer – mit Sinn aufgeladen werden. – Der Tod aber ist – zumeist – ein natürliches Faktum in der sozialen Welt. Er muss daher nicht zwangsläufig mit Sinn befrachtet werden, der sowieso kaum jemandem den Schrecken nimmt. Stattdessen hat die soziale Welt Formen des Lebens und des Umgangs mit dem Sinnlosen entwickelt, die sich in religiösen Traditionen, Symbolen und Riten institutionalisiert haben. Der Sinnzwang, unter den Kondylis sich unbegründeterweise selber stellt, versperrt ihm die Wahrnehmung von existierenden Möglichkeiten, mit der Sinnlosigkeit anders in besonnenen Formen zu leben.

Sinngebung ist für Kondylis ebenso universell wie Machtstreben. Macht, die ihrem Wesen nach auf Steigerung aus ist, transformiert sich in Geist, Norm, Wert, Metaphysik, Ideologie. Sie wechselt ihre Formen, erscheint in Verkleidung, auch als Gegenteil ihrer selbst. Schon Nietzsche hatte diese Gestalten des Machtwillens der Schwachen bloßgelegt. Macht wird zum Glauben an den Sinn des Lebens [Vergl. ME 52], sie spielt sich ab als Kampf der Weltanschauungen und als Konflikt der Interpretationen. Identitätsbildung vollzieht sich im Agieren dieses Machtanspruchs, sowohl in der direkten sozialen Beziehung wie auch in der Konstitution von Weltbildern, innerhalb derer und durch die das Subjekt seine Selbstbestimmung gewinnt. »Weltbild und Identität geben dem Selbsterhaltungstrieb sichere Waffen in die Hand, um seine Kämpfe noch selbstbewusster, raffinierter und langfristiger austragen zu können.« [ME 26]

Für diesen Prozess konstitutiv ist die Unterscheidung von Freund und Feind, die bei Kondylis nicht nur eine politische, sondern eine fundamentalanthropologische ist. »Der Kontakt mit dem Feind, die Anmeldung eines Machtanspruchs ist somit der erste entscheidende Schritt zur Wirklichkeit der geordneten Welt.« [ME 36] – Der Feind entsteht somit mit dem Weltbild gleichursprünglich, und so ist seine erste Bestimmung eine formal-universelle: »Feind ist kurzum alles, was Angst einflößt, wovon Gefahr ausgeht….« [ME 35], worunter auch die Natur, selbst Teile des eigenen Ich fallen können. Freilich geht diese weite und sinnvolle Charakterisierung alsbald verloren in einer instrumentellen Projektion des Feindes zum Rivalen im Machtkampf sozialer Gruppen. Das hat Folgen, die denen der Verleugnung der pathischen Existenz entsprechen. Angst einflößen kann gerade das Unbestimmte, unkontrollierbar Drohende; der Feind hingegen ist ein bestimmter, den nur gegen einen bestimmten lassen sich Machtansprüche wirkungsvoll entwickeln. Feindschaft ist bereits eine identifizierende Reduktion der Vieldeutigkeit des Fremden. Wenn die grundlegende Dichotomie von Ordnungen die von bestimmt und unbestimmt ist, dann erzeugt jede Ordnung ihr Außerhalb, das Nichtgeordnete. Wird diesem der Charakter ›Feind‹ zugeschrieben, so ist es bereits als bestimmtes dem eigenen Ordnungsschema einverleibt. [Das findet sich auch bei Kondylis; vgl ME 35ff ] – Doch damit ist systemisch der unfassbare Bereich bleibender Unbestimmtheit nicht beseitigt, da jede Ordnung diese nur in perspektivischen Ausschnitten beleuchtet. Die Frage bleibt, ob nicht-naive Ordnungssysteme sich selbst nicht Strukturen schaffen müssen, mit dem nichtbestimmbaren Anderen in Anerkennung seiner unaufhebbaren Fremdheit zu leben. [Dies gilt z.B. bereits für die Freundschaft.] Die Menschheit hat dafür vielerlei Strategien entwickelt, u.a. ein Recht, das jedenfalls programmatisch sich nur auf einen abstrakten Personbegriff bezieht und störende Individualitäten abblendet. Doch die grundsätzliche Frage reicht weiter: ist es angemessen und sinnvoll, die Erfahrung des anderen Menschen, die Übermächtigkeit der Natur, die eigene Endlichkeit, überhaupt die Kontingenz des Daseins in den simplifizierenden Dual von Freund-Feind zu pressen? [Die menschliche Elementarerfahrung der erotischen Liebe, die ja zugleich Passion ist, findet keinen Ort in diesem anthropologischen Entwurf – anders als etwa bei Feuerbach. – Die Textsammlung »Der Philosoph und die Lust«, herausgegeben von Panajotis Kondylis, Frankfurt/Main 1991, vereinigt Texte zu Lust-Unlust-Bilanzen, spart aber die große Tradition der Philosophie der Erotik völlig aus.]

b) Macht

Macht ist Selbststeigerung und Identitätssicherung in sich verwandelnden Gestalten. Die enge Verbindung von Sinn und Macht ist wohl zuerst von Nietzsche freigelegt worden. Doch auch in diesem Modell fragt es sich, ob die Engführung des Begriffs der Macht auf Kampf und Unterwerfung dem vielschichtigen, sich begrifflicher Eindeutigkeit verweigernden Phänomen der Macht gerecht werden kann. [Zur Diffusität des Begriffs vergleiche eine ebenfalls von Nietzsche inspirierte neuere Studie: Byung-Chul Han, Was ist Macht? Stuttgart 2005]

Kondylis setzt Macht an als Selbstzweck ohne inhaltlich bereits bestimmte Ziele. Diese Formalstruktur gestattet es, die Macht zu einem metaphysischen primum principium zu hypostasieren. Verfehlt wird dabei, dass Macht nie an sich ist, sondern dass sie eine Modalität oder Energie ist, die in bereits vorgegebenen inhaltlichen Tendenzen – Überleben, Wohlleben, Kultur, Wissenschaft, Sexus… – begleitend am Werke ist, ähnlich der Lust des Aristoteles. Wenn dem so ist, geht bei Kondylis die plurale Differenziertheit der Macht ebenso verloren wie der phänomenologische Reichtum ihrer Gestalten.

Eine weitere Restriktion ist die Bindung des Machtbegriffs an individuelle oder kollektive soziale Träger. Sie resultiert aus der behaupteten Fundamentalität des Freund-Feind-Schemas. Doch wird damit eine Bestimmtheit vorgegeben, die weder der Sprachgebrauch noch das Phänomen der Macht besitzen.

Man braucht nicht in eine Debatte über mögliche Äquivokationen einzutreten, um festzustellen, dass z.B. die Rede von der Macht der Natur, der Liebe, des Faktischen, der Medien oder der Kapitalmärkte reale Erfahrungen des Erleidens von Macht bezeichnet. Hier handelt es sich um Mächte, die nicht der Selbststeigerung von Personen oder Gruppen entspringen, sondern diese gerade gefährden. Erfahrungen solcher Mächte haben sich zuerst im Mythos ausgesprochen, im Reden von der Macht des Schicksals, der Notwendigkeit oder der Götter; sie werden nicht minder in den anonymen Sachzwängen moderner Gesellschaften erlebt. – Auch wenn man gut aufklärerisch vertritt, dass menschliche Selbstbehauptung sich im Kampf gegen solche Mächte entfalte, lässt sich deren Wirklichkeit schwerlich ins Reich der Fiktion verweisen. Sie bleiben überlegen zumindest an den Rändern unsrer Ordnungen [wenn sie nicht das Strukturprinzip dieser Ordnung selbst sind, wie etwa das Kapital oder heutiger ›die Ökonomie‹] und lassen uns mit der Frage zurück, ob der personale Wille zur Macht nicht vornehmlich ein Verhalten zur Abwehr von Realitäten sei. – Kondylis isoliert den Aktivitätsmodus von Macht, er abstrahiert von den vielfältigen Widerfahrnissen von Macht, die in komplexen Beziehungen auch jeder Täter erleidet.

Die holzschnittartige Fixierung auf das Freund-Feind-Schema führt zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass bei dem Hobbes-Kenner Kondylis das Thema des Friedens völlig ausfällt. Nun ist die Geschichte nicht nur eine Sequenz der Vernichtung oder Überwältigung von Feinden, sie ist auch eine von Friedensschlüssen mit Feinden, auch wenn die Motive wenig hehr sein mögen. Oft genug ist das Arrangement mit dem Feind die ökonomischere Variante der Selbsterhaltung. Friedensschlüsse müssen den Feind nicht zum Freund machen, sie beinhalten vielmehr die Akzeptanz der Koexistenz verschiedener Machtinteressen, Machtzentren und pluraler Perspektiven. Friedensschlüsse gehorchen gewiss auch den Mechanismen von Macht; diese funktionieren aber nur, wenn überschüssige Motive wie Vertrauen oder Duldung des Fremden in ihnen wirksam werden. [Bereits das Hobbessche Vertragsmodell könnte ohne diese nicht funktionieren; zur weiteren Vertiefung dieses Gedankens. Vgl. Bernhard Waldenfels: Schattenrisse der Moral, Frankfurt/Main, 2006, 206ff.]

So kann bezweifelt werden, ob Friede sich in jedem Fall als Metamorphose von Macht vollständig explizieren ließe. Die ältesten Menschheitsmythen vom goldenen Zeitalter wie die eschatologischen Hoffnungen religiöser und säkularer Art verstehen ihn als die schlechthinnige Abwesenheit von Macht. Dahinter steckt kein ethischer Normativismus, sondern eher ein kreatürlicher Hedonismus. – Große politische Theorien, von Platon über Hobbes zu Kant, haben das Problem der Macht nie ohne den Horizont des Friedens diskutieren können. Auch sie haben dabei nicht die Augen davor verschlossen, dass die Welt nicht von Ideen, sondern von Egoismen regiert wird. Der wertneutral deskriptive Blick, der illusionslos die Realitäten durchschaut, läuft wider Willen Gefahr, bestehende Konstellationen zu legitimieren.

c) Metaphysikverständnis

Das metaphysische Bedürfnis geht aus der Natur des sozial lebenden Menschen hervor und ist daher unausrottbar. Seine Quelle ist »jener Machtanspruch natürlich, der sich als Transzendierung der Erfahrung im Hinblick auf die Aufstellung eines polemisch wirksamen theoretischen Ganzen artikuliert.« [MK 561] Das Medium dieser Transzendierung ist der Geist.

›Geist‹ ist die sublimierte Fortsetzung naturaler Antriebe im Gewande ihrer Überwindung [Vgl. ME 80]; die Gestalten des Geistes nennt Kondylis neutral Weltbilder oder Weltanschauungen. »Mythen, Religionen und Ideologien sind im Grunde kollektive weltanschauliche Entscheidungen« [ME 43], wobei ›Ideologie‹ nicht aufzuhebendes falsches Bewusstsein meint, sondern die unhintergehbare Tatsache, dass jede Weltbildproduktion ihre Wurzel in der Ambivalenz des Selbsterhaltungsstrebens hat. [Vgl. ME 51ff ] Dieser Ort bei den Ursprüngen macht eine Orientierung an den Phänomenen überflüssig; er egalisiert großzügig, wo doch eine Differenzierung des Eigensinns mythischer, religiöser oder wissenschaftlicher Weltbilder gefragt wäre. Die unterschiedlichen Gestalten schrumpfen auf die eine Funktion, wobei die eigentlich interessante Frage außer Betracht bleibt, ob die Ambivalenzen des sozialen Lebens nicht gerade unterschiedliche Funktionen zu ihrer Bearbeitung hervorbringen und erforderlich machen.

Entsprechend werden Religion, Metaphysik und normativistische Moral unter dem Generaltitel ›Idealismus‹ verbucht, der immerhin über eine hohe Durchsetzungskraft verfüge. Er ist gekennzeichnet durch die Dualismen von Diesseits -Jenseits und Sein- Schein. [ME 61ff ] Ersichtlich wird Nietzsches lediglich aufs Christentum bezogene Platonismusthese in steiler Verallgemeinerung wiederholt. »Die geschilderte formale Struktur der objektivierten Entscheidung lässt sich an allen (!! H.L.) bisher historisch bekannten umfassenden kollektiven und individuellen normativistischen Weltbildern wieder erkennen. Ihr Grundriß ist bereits im animistischen Weltbild zu finden, ausgebildet wurde sie aber durch die klassische antik-christliche Metaphysik und die Weltreligionen im allgemeinen (!! H.L.).« [ME 66 . – Schon der Nietzsche-Leser kann wissen, dass es auch nicht-platonistische Religionen gibt.]

Ohne die empirisch falsche Simplizität dieses Schemas jetzt durchzuspielen, sei auf eine weitere vereinfachende Reduktion hingewiesen. Da der Eigensinn unterschiedlich organisierter Weltbilder nicht in Betracht kommt, wird der Kampf der Weltbilder, der ja letztlich der Kampf sozialer Gruppen sei, nach dem Modell von Theoriekämpfen stilisiert. Dies führt dazu, dass Mythos und Religion als Exempel von Theorien verstanden werden, nämlich als – wie vom metaphysischen Denken insgesamt gesagt – »Aufstellung eines theoretischen Ganzen auf überempirischer Grundlage« [MK 561]. Damit werden in klassischer Manier einer positivistischen Aufklärung Mythos und Religion letztlich als zu überwindende defizitäre Stationen der Theorie aufgefasst – eine Verkürzung, gegen die nicht erst die Postmoderne, sondern bereits die ersten Nachkantianer und die Romantik opponiert haben.

Sofern Religion unter dem Obertitel ›Metaphysik‹ mitgeführt werden kann, hat sie Anteil an der Rationalität derselben. Religion ist nicht schlichtweg irrational, sondern in einem eingeschränkten Maße eine Form auch rationaler Weltdeutung. Auch eine irrationalistische Grundorientierung muss sich rational-konsistent artikulieren, um im Machtkampf der Weltbilder mithalten zu können. [Vgl. ME 93ff; SO 561ff ] Insofern kann der Religion – jedenfalls historisch – eine rationale Weltbildfunktion zugestanden werden; ob sie ihrem Selbstverständnis und ihrer Leistung nach dies primär oder einzig ist, wird nicht geprüft. – Wenn allerdings Kondylis vom »Blödsinn des Trinitätsdogmas« [SO 568] spricht, gerät die Attitüde des wertneutralen deskriptiven Analytikers ins Zwielicht und lässt einen sonst gerne verborgenen dogmatischen Dezisionismus aufscheinen. [Auch ohne dies ist es erstaunlich, dass dem Ideenhistoriker das ungeheure Ausmaß an Scharfsinn und Rationalität entgangen sein sollte, das seit den platonisierenden Kirchenvätern über aristotelisierende Scholastiker bis hin zu Hegels Logik und Geistphilosophie in gerade dieses Dogma investiert wurde.]

Dass das metaphysische Bedürfnis auch Weltdeutungen und -einstellungen nicht kognitiver Art in Mythos, Kunst und Religion hervorbringen kann, entzieht sich folgerichtig der Wahrnehmungsfähigkeit dieses Ansatzes. Darum kann auch nicht ins Blickfeld des Zeitdiagnostikers treten, dass das metaphysische Bedürfnis in der Gegenwart sich weitgehend in theoriefernen Gestalten zeigt – und auch darum gar nicht in Konflikt mit Theorieansprüchen gerät. [In Kondylis’ Auffassung der Religion zeigt sich eine eigentümliche Konvergenz mit dem Selbstverständnis des religiösen Fundamentalismus, der ebenfalls theoretisch-normative Ansprüche erhebt.]

So wenig die Engführung des metaphysischen Bedürfnisses auf Theorie triftig ist, so wenig ist es auch seine alleinige Reduktion auf Macht. Können nicht in es auch weitere Motive ursprünglicher Art eingehen, wie z.B. das der Erlösung oder das der Aufhebung des Individualisierungszwanges? [Vgl. die Sammelrezension von Uwe Justus Wenzel in: Philosophisches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft 101 (1994), 195-198] Sie sind keineswegs an einen platonisierenden Dualismus gebunden und in Ost wie in West tragende Fundamente des Religiösen.

Aus dem gleichen Fehlverständnis folgt, dass Religion und auch Metaphysik letztlich als Exempel normativistischer Moral gesehen werden. Wohl ist offensichtlich, dass Religionen und Moralen in einem engen Verhältnis stehen, doch dies ist ambivalent und in keiner Richtung reduktionsfähig. Religion kann, muss aber nicht zwangläufig, moralproduktiv sein, wie wiederum auch Moralen religionsproduktiv sein können. Religion hat wesentlich auch mit dem Scheitern von Moral zu tun, d.h. mit der Unangemessenheit des Individuellen und des Allgemeinen, des Natürlichen und des Intelligiblen. In den Symbolen von Schuld und Gnade, Sünde und Erlösung relativiert, transzendiert und kritisiert die Religion die Moral. Christlich gesprochen: Moral als Selbstrechtfertigung und Identitätszwang ist selbst Hybris und Sünde. Dem Moralkritiker Kondylis ist dieses moralsubversive Element, wie es z.B. bei Paulus nachzulesen ist, völlig entgangen. Da die religiösen Überschüsse eben nicht auf der Ebene der Moral beheimatet sind, sind sie auch nur indirekt, nicht reduktionistisch zu beschreiben. Sie zeigen sich in Motiven, die die Fixierung auf das Selbst brechen, wie Erfahrungen von Vergebung und ungeschuldetem Sinn, Wahrnehmungen des Opfers, Akzeptanz von Sinnlosigkeit und Fremdheit, die durch keine Machtstrategien zu bewältigen sind. [Kondylis hat in der SO das Verhältnis von intentionalem Handeln und unbeabsichtigten Folgen immer wieder thematisiert als unauflösbares Problem einer einsinnigen Zweck-Mittel-Rationalität. »Rationalität als anthropologische Annahme bürgt nur für die Sinnhaftigkeit, nicht für die (grundsätzliche) Erreichbarkeit der Zwecke« (SO 558). – Die Parallele zur Kantischen Ethik und Religionsphilosophie drängt sich auf. Kondylis aber hat die Heterogenität von Zwecken und Folgen nicht als eine Anschlussstelle für eine Religionstheorie in Anspruch genommen, vermutlich weil nach seinem schlichten Religionsbild dies ein faules Zugeständnis gewesen wäre. Dennoch wäre in systematischer Absicht zu untersuchen, ob hier ein Berührungspunkt zu einem nicht-ideologischen Religionsverständnis vorliegen kann, welches nicht-kognitive Strategien des Umgangs mit diesen Kontingenzen artikuliert.]

3. Zur heutigen Phänomenalität der des Religiösen

Das Feld des Religiösen ist heute lebhaft, vielfältig und unübersichtlich, was sich auch in den es mit gebührender akademischer Verzögerung bearbeitenden Theorieversuchen reflektiert. Über eine ›das Wesen‹ der Religion oder auch nur eine repräsentative Mehrheit der religiösen Phänomene erfassende Theorie verfügen wir heute nicht. Konsens scheint, dass die ideologiekritischen Instrumentarien des 19. ebenso wie die Säkularisierungstheoreme des 20. Jahrhunderts den sich seit mehreren Jahrzehnten massiv aufdrängenden irritierenden Realitäten nicht mehr gerecht werden. Kondylis versperrt sich den zu seiner Zeit schon nicht mehr neuen Entwicklungen, wiewohl der Bedarf an einer Kritik der Religionsszenerie so immens wie ungestillt ist. [Kritik ist sprachlos geworden. Nicht einmal die Gründe dafür vermag sie zu benennen. Schade!] Aus der Logik seines Ansatzes ist es konsequent, wenn er die These verwirft, dass im 21. Jahrhundert kulturelle und religiöse Faktoren entscheidende und eigenständige Antriebe planetarischer Auseinandersetzungen werden könnten. Sie seien vielmehr nur ideologische Mittel im politischen Kampf um die Teilhabe an den Konsummöglichkeiten des massendemokratischen Zeitalters. [Vgl. beispielsweise gegen Huntington Panajotis Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg 2001, S.90: »Die Logik dieser Konstellation ist im wesentlich eine politische. Politische Logik bedingt daher letztlich die geschichtlich relevanten Kulturdeutungen.« – Ein Wahrheitsgehalt solcher These ist schwerlich zu bestreiten; doch die apodiktische Reduktion (›letztlich‹) macht diesen wieder anfechtbar. Die in der marxistisch inspirierten Tradition längst obsolet gewordene Basis-Überbau-These tritt unbefangen und unhinterfragt als Erklärungsmodell komplexer und diachroner Strukturen der Gegenwart auf.]

Dass Kondylis unter Akzeptanz der bleibenden, wenngleich sich wandelnden metaphysischen Bedürfnisse der Religion als sozialer Gestalt keine Aufmerksamkeit entgegenbrachte, scheint zu indizieren, dass er einer Säkularisierungsthese zuneigte, welche den Bedeutungsschwund der Religion in der Moderne bis zu ihrem völligen Absterben prognostizierte und diagnostizierte. [Die These wird bei Kondylis nicht explizit pointiert; vgl. aber die Kritik an Max Webers Auffassung in SO 592.] – Nun wäre es verfehlt, heute diese These in toto als empirisch falsifiziert zu verwerfen, denn Säkularisierung hat tatsächlich stattgefunden und die Religionsgestalten, die sich nach ihr zeigen, sind in der Tat andere als jene traditionellen, auf die sich die These bezogen hatte. [Die These konnte sowieso nur für einen Teil des christlich geprägten europäischen Kulturraums Geltung beanspruchen. Ironischerweise zeichnen sich die postsäkularen Religionsformen durch wesentlich geringere Rationalitätsstandards aus als ihre Vorgänger.] Doch Kondylis’ Fixierung des Religiösen auf ein platonistisches Immanenz-Transzendenz-Schema verbaut ihm den Blick auf die geschichtlichen Wandlungen des Phänomens.

Ohne auf die vielschichtigen Prozesse der letzten Jahrzehnte in ihrer oft gegenläufigen Komplexität eintreten zu wollen, seien nur knapp zwei Aspekte erinnert, die bereits zu Kondylis’ Lebzeiten historische Tatsächlichkeiten waren: die Individualisierung und die Politisierung des Religiösen.

Unbestreitbar ist, dass innerhalb westlich-säkularisierter Gesellschaften – Ausnahme sind die USA – die alten Monopolisten, die christlichen Kirchen, an Einfluss verloren haben. Die institutionellen Formen religiöser Weltdeutung erodieren, traditionelle Funktionen der Religion als Bindemittel der Gesellschaft oder gar als Legitimation von Herrschaft sind vertrocknet. Die überlieferten Symbole christlicher Religion verfallen kultureller Amnesie.

Gleichzeitig ist am Markt die Nachfrage nach dem religiösen Erleben, dem Heiligen, dem Spirituellen vital und expandierend. Individuelle Sinnsuche baut sich aus Versatzstücken verschiedener religiöser, meist außereuropäischer Traditionen, aus esoterischen Initiationen und körpernahen Wellness-Spiritualitäten Praktiken von hohem Wachstums- und Fluktuationspotential. Zudem sind die früheren aufklärerischen Grenzen und Konfliktlinien zwischen Religiosität und Rationalität durchlässig geworden; dabei ist postmoderner Perspektivenpluralismus ein Privileg der Reflexionskultur der Gebildeten, populär und erfolgreich sind holistische Synthesen inhomogener Elemente, wie ein Blick in die entsprechenden Regale der Buchhandlungen leicht zeigen wird.

Thomas Luckmann hatte seit den 1960iger Jahren den Gestaltwandel des Religiösen weg von der Institution hin zum ›religiösen Individualismus‹ analysiert und in einer Fundamentalanthropologie verankert, die Identitätsbildungsprozesse an der Erfahrung von Transzendenzen – der Ausdruck bezeichnet eine formale Struktur des auf Alterität verwiesenen Menschseins – festmacht, ein Konzept, das sich als sehr erschließend und anregend erwiesen hat. Es erlaubt auch eine kritische Beschreibung der Bricolage-Religiosität, die entsprechend dem jeweiligen Konsumentenwunsch aus der angebotenen Sinnpalette ihr jeweiliges Menü zusammenstellt. Diese hat einen Angelpunkt: das Ich selbst wird zum Fokus religiöser Sinnbildung. Selbsterfahrung, Selbstfindung, Selbstverwirklichung werden zu religiösen Inhalten, die nicht notwendig die Zustimmung zu Glaubenssätzen oder ontologischen Weltbildern fordern. Das vormalige Jenseits wird im Innern der rätselhaften eigenen Subjektivität gesucht. Es ist eine massenhaft verbreitete Religiosität ohne Institution, Dogma und Moral. Soziale Trägerschaften haben sich hier aufgelöst, es gibt allenfalls punktuelle Gruppenkohärenzen, die üblicherweise zeitlich limitiert sind.

Mit klassischen Ideologietheorien sind diese Regionen des wohligen Halbdunkels nicht zu erhellen. Zwar können sie sowohl von Seiten einer christlichen Theologie wie auch einer emanzipatorischen Sozialtheorie als Regressionen des Ich kritisiert werden. Doch diese Regression ist selbst Element der gesellschaftlichen Evolution, wie sie Kondylis zeitdiagnostisch analysiert hat. [Kondylis 1991] Seine Beschreibung des massendemokratischen Typus wird durch die individualisierte Religiosität weitgehend bestätigt und illustriert. In ihrer Kombinatorik ist sie eine modische Variante hedonistischer Selbstentfaltung im konsumorientierten Atomismus. Kondylis hat auf eine solche Exemplifizierung seiner Theorie verzichtet. Vielleicht hielt er sie sozial für unerheblich. Möglicherweise hätte dies aber auch eine Irritation über die eigenen Prämissen implizieren können, denn wenn Sinn selbst zum kombinierbaren Konsumgut wird, dann muss sich die analytische Verbindung von Macht und Sinn auflösen. Das wäre für die Ideologielehre fatal.

Die gegenläufige Bewegung zur Individualisierung ist die Politisierung des Religiösen. Wem erst der 11. September 2001 die Augen geöffnet hat, der muss sie lange gewaltsam geschlossen gehalten haben. Die für jeden wahrnehmbare Schwellenzeit liegt um 1980: die Wahl des polnischen Papstes 1978, die Islamische Revolution im Iran 1979, die Wahl Ronald Reagans mit Hilfe der christlichen Rechten 1981. – Diese Ereignisse und ihre planetarischen Folgen haben keine erkennbaren Spuren in den Schriften von Kondylis hinterlassen. Das ist schmerzlich, und über die Motive des Schweigens sind auch hier nur Vermutungen möglich. –

Vordergründig hätte es sich anbieten können, die politisierte Religion als Medium der Macht zu dechiffrieren. Doch fällt es bei vielen der in Erscheinung tretenden Formen schwer, sie ausschließlich auf die ideologische Verbrämung materieller Interessen zu reduzieren. Es bedürfte vielmehr eines ganz anderen Theorieansatzes, um zu erklären, wie die Idee selbst zu politischer Macht und materieller Gewalt werden kann, vielmals auch ohne als Gruppe mit einheitlichen Interessen identifizierbare soziale Trägerschaft. Das Gewalt- wie das Friedenspotential, das Religionen innewohnt, bedarf weiterer Erschließungswege als nur desjenigen der politischen Selbstbehauptung. Zudem sollte die Einsicht von Marx nicht vergessen werden, dass Religionen nicht nur Ideologien der Herrschaft, sondern auch Rebellionen gegen die Realität sind. – Die Gleichsetzung von Genesis und Geltung ist veraltet, sie hat auch nie völlig gestimmt. Gerade eine funktionale Betrachtung der Religion muss ihr zentrales Interesse deren Ambivalenzen widmen.

4. Religion auf der Grenze von Sinn und Sinnlosigkeit

Es ist Kondylis beizupflichten, dass Religionen analog zu Weltbildern Orientierungsleistungen vollbringen, die der Selbsterhaltung dienlich sind. Die Frage, die er nicht thematisiert, ist die, ob sie dies in einer spezifischen und nicht durch Rationalisierungsprozesse substituierbaren Weise tun.

Religiöse Ordnungssysteme treten zwar häufig in Verbindung mit ontologischen und kognitiven Ansprüchen auf, erschöpfen sich aber nicht darin. In ihren Symbolisierungen und Ritualisierungen artikulieren und strukturieren sie auch emotionale und pathische Einstellungen zur Welt und zum menschlichen Leben in ihr. Den Eigensinn symbolischer Weltdeutung – nicht nur in der Religion, sondern auch in der ästhetischen Erfahrung –, der möglicherweise ein Fundament in einer menschlichen Verfasstheit hat, die in aller Zweideutigkeit auch eines Widerlagers zum naturalen Machtstreben bedarf, vermag Kondylis nicht einmal in kritischer Zurückweisung in sein Konzept aufzunehmen. Selbst in einer funktionalistischen Analyse der Religion, die der authentisch Religiöse nie in sein Selbstverständnis aufnehmen könnte, bliebe Religion als defizitäre Form der Selbsterhaltungsrationalität unterbestimmt. [So stellt Kondylis in einem bedeutsamen Abschnitt der SO fest, dass »sich die Definition des animal rationale, bei Lichte besehen, sachlich weitestgehend mit jener des animal symbolicum deckt«.(SO 693). – Wenn er in der Folge erhellend über die Vieldeutigkeit des Symbols spricht, so scheint diese eher in einem stationären Mangel an epistemischer Rationalität begründet denn in der Uneindeutigkeit dessen, wofür das Symbol steht.]

Kondylis stellt sich entschieden in jene europäischen Traditionen, die menschliche Aktivitäten, insbesondere die intellektuelle Tätigkeit, als fortschreitende Verwandlung des Sinnlosen in – wenngleich womöglich illusionären oder ideologischen – Sinn betrachten. Doch läuft neben diesen Traditionen ein nie zu unterdrückender Strang, dem Kondylis streckenweise auch mit großer Empathie begegnet, von den antiken Skeptikern und Kynikern über die französischen Moralisten bis hin zu den modernen Existentialisten und Postmodernen, die die Bestimmung des Menschen in der Akzeptanz des Sinnlosen gesehen haben. Nach Nietzsche ist es sowieso ein müßiges und antiquiertes Geschäft, die sinnproduktiven Initiativen des Menschen als chimärisch zu entlarven; die Aufgabe wäre vielmehr auch für den deskriptiven Dezisionisten virulent, zu untersuchen, welche Umgangsweisen zum Leben mit unaufhebbarer Sinnlosigkeit zur Verfügung stehen.

Kondylis entgeht daher, dass Religionen weniger illusionäre Sinnbehauptungen sind, als vielmehr anthropologisch tief verwurzelte Unternehmungen, das stets gefährdete Verhältnis von Sinn und Sinnlosigkeit zu thematisieren und auszubalancieren. In religiöser Sinnbestimmung ist der Verweis auf die immer copräsente Unbestimmtheit und Sinnlosigkeit mit enthalten. [Diese Behauptung ist eine idealtypische; eine ausgeführte Religionstheorie muss auch die Abweichungen von diesem Typus nebst Gründen explizieren. – Im Kern liegt dieser Ansatz beispielsweise sowohl Schleiermachers Religionsauffassung wie auch Luhmanns Religionssoziologie zugrunde. – Zum Folgenden vgl. auch Ingolf U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen 2003, bes. 78-93. – Ders. : »Leben angesichts des Unverfügbaren. Die duale Struktur religiöser Lebensorientierung.« In: Werner Stegmaier (Hg): Orientierung. Philosophische Perspektiven. Frankfurt /M. 2005, 245-266.] Es macht die Zweideutigkeit der Funktionen von Religionen aus, dass sie genau auf der Trennlinie zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Sinn und Sinnlosigkeit, Handeln und Erleiden agieren. Die vertraute Rede von der Anwesenheit der Transzendenz in der Immanenz spiegelt diesen gratwandlerischen Sachverhalt, dem eine ontologische Zwei-Welten-Lehre die Pointe seiner Ambivalenz nehmen muss. Daher wäre dem deskriptiven Diagnostiker auch zuzumuten gewesen, die begrenzte Erklärungskraft eines solchen Schemas kritisch zu beleuchten.

Da das Unbestimmte, das den Horizont alles Bestimmten ausmacht, sich eben nicht als kognitives Objekt thematisieren lässt, sind Religionen geprägt von indirekten Thematisierungsformen: Metaphern, Analogien, Symbolen, Paradoxien…, die allesamt auf die Grundunterscheidung ›bestimmt – unbestimmt‹ Bezug nehmen und diese im Kontext nicht-kognitiver Lebenseinstellungen interpretieren. Zugleich ist darin die spezifische Ambivalenz des Religiösen begründet; dieser Transzendenzüberschuss kann sowohl zur Reflexion der eigenen Endlichkeit anleiten wie zur angemaßten religiösen Selbststeigerung. Dieser Transzendenzüberschuss wird erst sekundär rationalisiert in jenem platonistischen Dualismus, den Kondylis offenbar für das einzige Interpretament hält. [Große Theorien haben diesen Transzendenzüberschuss beschrieben beispielsweise als das freiheitsstiftende `Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit´ (Schleiermacher) oder als ›mysterium tremendum et fascinans‹ (Rudolf Otto).] Erst jenseits jenes Dualismus kann deutlich werden, inwiefern Religionen grundsätzlich in die Atmosphären der Anfechtung, des Zweifels, der Auflehnung und der Bestreitung gehüllt sind. Dies widerfährt ihnen nicht nur von außen, es markiert vielmehr ihre innere Lebendigkeit, Dynamik und Authentizität. Diese Strukturen entspringen notwendig der religiösen Grunddifferenz, in der geschichtlichen Selbstdarstellung der Religionen werden sie oft negiert.

Die populäre Meinung, Religionen seien Sinngebungen des Sinnlosen, zeigt sich in dieser Blicklinie als triviales Missverständnis. Sie bannen und rationalisieren nicht das Chaotische, Sinnlose, Unbegreifbare, Böse…, sie ordnen und kontrollieren nicht das Unbestimmte und Unkontrollierbare. Kontingenz als solche bleibt unbewältigt. – Indem Religionen die Grenze zwischen Sinnvollem und Sinnlosem, Bestimmtem und Unbestimmten bearbeiten, liegt ihr Spezifikum darin, dass sie anleiten, mit dem Unverfügbaren auf geregelte Weise zu leben. Erfahrungen des Unverfügbaren widerfahren einfach; Selbstbehauptungs- und Machtoptionen sind bereits abgeleitete Reaktionen darauf. Passionen sind die von Bedrohung, Scheitern und Sinnlosigkeit, aber auch die des ungeschuldeten und unverdienten Glücks. Sie alle haben zu tun mit der Singularität individuellen Daseins, in der sich die Dimensionen von Leiden und Handeln vielfältig und unentwirrbar verschlingen. Religiöse Deutungen symbolisieren die dem Handeln auf Dauer entzogenen Voraussetzungen menschlichen Daseins. Insofern stellen sie sich implizit eher als eine realitätsnahe Gestalt der Aufklärung dar denn als ein ideologisches Medium des um Selbstbehauptung kämpfenden Subjekts. [In einer Fundamentalanthropologie, wie sie Kondylis in Anspruch nimmt, wäre doch zu fragen, ob nicht die Passionen elementar sind, und die daraus abzuleitenden, sie jedoch negierenden Machtstrategien nur eine Form des Umgangs mit ihnen neben anderen Weisen sind.]

Selbstverständlich kann solches Bewusstsein auch andere als religiöse Formen annehmen; doch als religiöses ist es eo ipso weder ideologisch noch irrational. Vernunftkritik im Sinne Kants kann Entzogenheiten und das Wissen darum akzeptieren. In der Vielfalt geschichtlich ausgeprägter religiöser Praxisformen die Logik und die Verfehlungen des anthropologisch-religiösen Grundmotivs zu entziffern, ist eine zumutbare und lohnende Aufgabe für Kulturwissenschaftler und Ideenhistoriker. In welchen Symbolen oder Ritualen die Unverfügbarkeit des Unbestimmten bewahrt wird und wo sie in kultischen, rituellen und kognitiven Praktiken zu beherrschen versucht wird, wäre ein ergiebiges Forschungsfeld einer Phänomenologie der Ideologie und Religion. Diese Perspektive ist bei Kondylis normativ verstellt.

Die Aufgabe ist, die Grundtypen und ihre Derivate zu beschreiben, die sich entlang des Duals Immanenz-Transzendenz in unterschiedlichen Interpretationen entwickelt haben. Dabei handelt es sich nicht um fixe Klassifikationen, sondern um Tendenzen, die in den meisten Religionen vorhanden sind und sich ungleichgewichtig verteilt vielfach überlappen können. Es handelt sich um die Aspekte der Transzendenzdeskription und der Immanenzkritik. [Die Termini sind von Dalferth übernommen.]

Die Transzendenzdeskription entwirft eine religiöse Gegenwelt, versucht, das Unkontrollierbare als eine jenseitige Dimension in der metaphysischen Topologie von ›unten‹ und ›oben‹ zu beschreiben, bietet kultische Erhebungen oder Denkformen wie z.B. die Analogie an, um sich zu dieser Welt in Beziehung zu setzen. Entstehung und Funktion solcher Gegenwelten sind spätestens seit der Religionskritik des 19. Jahrhunderts geläufig. Kondylis führt sie auf die Ambivalenz des Sozialen zurück, wonach der Machttrieb sich auch in einer ihn vordergründig negierenden Gestalt äußern kann.

Der andere Aspekt ist der der Reflexion und Kritik der Immanenz. Hier wird keine religiöse Gegenwelt symbolisiert, sondern eine sinngeordnete, aber bedrohte Immanenz auf dem Hintergrund der stets mitpräsenten Sinnlosigkeit gedeutet. Phänomenologisch reicht er von der individuellen Wellness-Religiosität heutiger Gesellschaften über pantheistische Tendenzen bis hin zu den subtilsten Gestalten der Mystik. Historisch findet er sich beispielsweise, jeweils ganz anders kontextualisiert, in christlichen Formen der Weltzugewandtheit, in östlichen Religionen wie auch im Judentum. [Nach Emmanuel Levinas’ Deutung ist dies gerade der auszeichnende Charakter des Judentums. Vgl. z. B. E. Levinas: »Eine Religion für Erwachsene«. In: Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Aus dem Franz. von Eva Moldenhauer. Frankfurt/.M. 1992, 21-37.]

Es handelt sich dann um eine Intensität des Welterlebens, die das Nichtverfügbare teils als unmittelbare Bedrohung, teils als das Wunder des Neuen und der Kreativität erfahren kann. Das ist keine Domestikation oder Bemächtigung des Unkontrollierbaren, sondern das Bewusstsein seiner dauernden Copräsenz in jener Immanenz, in der sich der Ernst des Lebens abspielt. Diese Hinweise können noch keine Apologie der Religion gegenüber den Gebildeten unter ihren heutigen Verächtern sein. Sie wollen lediglich einen Horizont anreißen, in dem sich eine Religionskritik der Gegenwart bewegen müsste. Der vielfältig innovative Analytiker Panajotis Kondylis ist uns diese schuldig geblieben.