Carlos Marroquin
Mythos versus Fiktion

Wie Marcel Mauss und Henri Hubert interessierte sich Robert Hertz im Rahmen des theoretischen Programms von Durkheim für die Erkenntnissoziologie, ganz besonders für die Frage nach der Rolle der Glaubensvorstellungen und der mythischen Repräsentationen in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis. Man kann Hertz als den direkten Inspirator der Gabentheorie von Marcel Mauss, der Verausgabungskonzeption von Georges Bataille und als einen Vorläufer der strukturalen Methode in der Anthropologie eines Claude Lévi-Strauss bezeichnen. Die historische Tatsache, dass Hertz sehr jung an der Front starb, erklärt zum Teil seine marginale Position innerhalb der Anthropologie in Frankreich. Denn er hatte in den wenigen Jahren seiner Forschungsarbeit nur vier oder fünf größere Schriften verfassen können. Doch das Feld seiner Untersuchungen war sehr umfangreich. Nach Michel Matarasso hatte Hertz unter anderem folgende Grundprobleme in seinem Werk behandelt: Eine Soziologie und eine Symbolik des Körpers; eine Religionssoziologie, die sich mit der Klassifikation nach Prinzipien beschäftigt; eine Soziologie der linken Seite der Sakralität (côté gauche) und der Orientierung der Welt; eine Soziologie des Todes; ein regionaler Beitrag zur französischen Ethnologie; ein ethnologischer Entwurf über die zeitgenössischen Sekten, die sich aus dem Prozess des religiösen Wandels ergeben. Hertz hinterließ auch ein Fragment zur Anthropologie des antiken Griechenlands und verschiedene Artikel und Rezeptionsbeiträge sowie zahlreiche Karteikarten, die sich vorwiegend mit Amerika und Ozeanien beschäftigen (Matarasso S. 177). 1909 hatte Robert Hertz seine Arbeit über die Vorherrschaft der rechten Hand, über die religiöse Polarität veröffentlicht. Die Polarität umfasst im Konzept von Robert Hertz materielle und übernatürliche Tatbestände, die Mythologie selbst ist nach diesem Prinzip organisiert: Einerseits die positiven, andererseits die negativen Kräfte; die ersten entsprechen der Natur der Dinge, während die zweite Klasse dieser Mächte die Weltordnung in Frage stellt. Robert Hertz hatte in diesem Werk auch eine Soziologie der Desintegration formuliert. Er untersucht hier die Existenz jener negativen Faktoren, die die Gebrechlichkeit der sozialen Kohäsion, der Identität und der Solidarität offenbaren. Besonders in diesem Punkt besitzt sein Denken eine sozialwissenschaftliche und politische Aktualität. Vielleicht wollte uns Hertz damit zeigen, dass jedes positive Element (z.B. die rechte Hand, die soziale Integration) immer seine Negation impliziert (die linke Hand, die soziale Desintegration), so dass die wahre Natur des sozialen Bandes nicht zu begreifen ist, ohne zuvor eine genaue Kenntnis dessen zu erlangen, was geschieht, wenn dieses Band zerreißt (Riley/Besnard S. 6-7). In dieser Schrift hatte Hertz seine Theorie des produktiven Dualismus (positiv/negativ, rein/unrein), das heißt eine umfassende Klassifikation nach Werten entworfen.

Robert Hertz vertrat die Auffassung, dass wir das mythische Denken erleben und untersuchen können, ohne den Boden des modernen Frankreich zu verlassen. Er war der Meinung, dass ein Wanderstab und ein paar gute Stiefel die richtigen Instrumente wären, um die Mythen und Legenden in einer Region der Alpen zu suchen und zu erforschen. In diesem Geist leistete er 1912/13 eine Forschungsarbeit in jener Bergregion und vollzog dabei den Übergang von einem vielversprechenden Soziologen der Durkheim-Schule, der er schon damals war, zum ersten Ethnologen der eigenen Tradition. Im Jahre 1913 stellte Robert Hertz seine Studie zu Saint-Besse in der Zeitschrift Revue d´histoire des religions vor, die das Ergebnis einer mehrwöchigen Feldforschung war. Die Interpretation der mythischen Phänomene erfolgt auf der Basis des Dualismus. Er registriert in der erforschten Region eine zweifache Tradition: Eine doppelte Legende, die gelehrte und die volkstümliche Version von Saint-Besse; zwei Symbole, das Kreuz und den Felsen und zwei unterschiedliche Systeme, den Katholizismus und den Kult des heiligen Felsen. Nach der katholischen Version der Legende war Saint-Besse ein Fremder, der mit dem Ziel in die Bergregion kam, die dort lebenden Bauern und Hirten zu christianisieren. Nach der volkstümlichen Legende war Saint-Besse ein Einheimischer, der entweder von fremden Soldaten oder von anderen neidischen Hirten umgebracht wurde, und zwar dort, wo der Felsen sich erhebt. Die erste Legende erinnert die Menschen an den Ursprung ihres Glaubens, die zweite an ihre vertraute Welt und an die Zeichen einer gemeinsamen Tradition. Was den Kult betrifft, so hat hinter einer katholischen Fassade, eine prähistorische Religion Jahrhunderte überlebt. Für die von Hertz befragte Gemeinde bleibt der Fels von Saint-Besse der Mittelpunkt der religiösen Vorstellungen, Emotionen und Zeremonien. Hertz deutet den Felsen in der soziologischen Tradition stehend, als ein Symbol für die im Verschwinden begriffenen Identität der Bewohner dieser Berglandschaft. In dem Vorwort zu den Schriften ihres Mannes betont Alice Hertz die Bedeutung des Textes über Saint-Besse, besonders im Hinblick auf die letzten Untersuchungen, die Hertz über die Mythologie anstellte: »Er hat Saint-Besse niemals aufgegeben. Er untersuchte nicht nur den Kult von Quellen, heiligen Brunnen und heiligen Berggipfeln, zu denen er bis in die griechische Mythologie hinein starke Analogien zwischen dem Ursprung des Kultes einiger Gestalten aus dem Olymp (Athena, Pegasus) und jenen des bescheidenen Saint-Besse feststellte.« (A. Hertz S. XII) Entsprechend der Aussage seiner Gattin hatte Hertz für den Monat September 1914 eine Reise nach Griechenland in Begleitung seines Freundes Pierre Roussel vorgesehen, »denn er wollte für diese neue Arbeit über die Bücher hinaus die griechische Landschaft kennen lernen«. Zu diesem Werk hat Emile Durkheim Folgendes geschrieben: »Stark interessiert für diese Zeremonien macht sich Hertz die Mühe, den Ursprung dieses Kultes zu untersuchen und er glaubte feststellen zu können, dass dieser Kult die Verwandlung eines alten Steinkultes darstellte. Die Beweise mit denen er seine Hypothese belegte, haben die Fachleute stark beeindruckt... Nachdem er diese These für einen besonderen Fall festgelegt hatte, fragte sich Hertz, ob sie eventuell verallgemeinert werden könnte, das heißt ob verschiedene Mythen, vorwiegend aus dem klassischen Altertum, nicht auf gleiche Weise erklärt werden könnten.« (Durkheim S. 441) Der Mythos scheint in diesem Text dazu bestimmt zu sein, eine Verkörperung zu finden, die der ursprünglichen Vorstellung eine noch größere Anziehungskraft verleiht, wobei beides, Verkörperung und Vorstellung nur eng miteinander verbunden ihre größte Wirkung erlangen können. Das sehen wir zum Beispiel bei einer Pilgerfahrt verdeutlicht, bei welcher die Pilger danach streben, ihrem heiligen Objekt körperlich wie geistig näher zu sein. Gerade dieses Verhalten hatte Robert Hertz bei den Anhängern des Kultes von Saint-Besse direkt beobachtet und beschrieben, in einem Text, der ohne Zweifel der persönlichste und aktuellste seines Werkes ist. Robert Hertz hatte in diesem Text Folgendes festgestellt: »Nachdem der heilige Felsen lange Zeit nur als er selbst verehrt worden war, betete man ihn schließlich deshalb an, weil er die Prägung eines vorbildlichen Hirten trug oder weil er die Überreste eines christlichen Märtyrers beherbergte. Doch durch die Jahrhunderte hindurch war es im Grunde stets die Heiligkeit des Felsens selbst, die auf verschiedene Weisen dargestellt wurde, welche die Masse der pietätvollen Pilger in diese Höhen gezogen hat.«

Wie bereits Marcel Mauss, so hatte auch Georges Bataille die Biographie und das Werk von Robert Hertz vor dem Vergessen gerettet. Bataille hatte mit Adrien Borel, Pierre Janet, Michel Leiris und Denise Paulme im April 1937 die Gesellschaft für kollektive Psychologie in Paris gegründet. Die Sitzung vom 17. Januar 1938 war dem Thema »Die Haltungen dem Tod gegenüber« gewidmet. Der einleitende Vortrag wurde dabei von Bataille übernommen: Die Haltungen in Bezug auf die Toten stellen nach Bataille ein Problem dar, welches innerhalb der modernen Gesellschaften nicht gründlich untersucht worden sei. Die moderne Gesellschaft hatte dieses Problem bis zu diesem Zeitpunkt nicht genügend beachtet. Paradoxerweise verfügen wir über genauere Kenntnisse auf diesem Gebiet bei den sogenannten primitiven Gesellschaften. Wir verdanken jedoch Robert Hertz eine erste vollständige Darstellung dieses Problems in seinem Beitrag über die kollektive Vorstellung des Todes aus dem Jahre 1907. Nach Meinung von Bataille sollten die Ideen von Hertz als Basis für gegenwärtige Arbeiten zu diesem Thema dienen. Alles, was wir darüber wissen, hängt entweder mit der Folklore oder mit jenen anormalen Verhaltensweisen zusammen, die die Gegenstände der Psychiatrie und der sexuellen Pathologie bilden. Als eine Fachdisziplin, die sich mit Institutionen beschäftigt, setzt sich die Religionssoziologie also mit obligatorischen Glaubensvorstellungen auseinander, insofern ist nach Bataille die Soziologie in gewissem Sinne auch eine kollektive Psychologie. Die beschriebenen Vorstellungen und Praktiken wie der Endokannibalismus, das zweite Begräbnis oder die Reise der Seele in das Land der Toten, sind in gewissem Sinne der modernen Mentalität fremd. Erst nach dem Ende der Lektüre wird der Leser feststellen, dass die vorgestellten Situationen, die ihm zunächst so fremd erschienen, im Grunde normal und verständlich sind, wenn man sie in Zusammenhang mit einer anderen Kulturtradition bringt, bei welcher der Gegensatz von Körper und Seele nicht als absolut begriffen und empfunden wird. Die Polarität von Robert Hertz lieferte Bataille einen Begriff, der es ihm erlauben sollte, die soziale Dynamik in der Moderne zu beschreiben: Solche Dynamik ist im Grunde das Ergebnis der Reaktionen gegenüber den betreffenden Objekten, das heißt le mouvement communiel de la société, in der Sprache Batailles. Die Studien von Hertz und Bataille zum Begriff der Polarität haben uns gezeigt, dass dieser Wert in einem Gegenstand verkörpert werden muss, damit er unter dieser Form der betreffenden Gesellschaft präsent und zugänglich ist. Dieser Dualismus bringt es mit sich, dass innerhalb einer gegebenen Gesellschaft oder Nation die Werte mit positiven oder negativen Vorzeichen belegt sind, welche bestimmte soziale Reaktionen bei den Gruppen und Individuen hervorrufen. Die Schlussfolgerung Batailles lautet wie folgt: In den antiken sowie modernen Gesellschaften kreisen die rituellen Bewegungen ihrer Mitglieder um Werte, die die eigentliche Mythologie der Gruppe oder der Nation konstituieren. In der Periode der Gründung der Zeitschrift und der Geheimgesellschaft Acéphale (1936-1939) hatte Bataille mehrere Texte zum Mythosproblem verfasst. Wir finden in dieser Dokumentation einige Themen, die Erwähnung verdienen. Dazu gehört neben Dionysos und Nietzsche auch die romantische Bewegung. Im Mittelpunkt dieser Betrachtung steht zum Beispiel das Verhältnis von Gesellschaft und Wahnsinn. Hier ist von einer romantischen Verzweiflung (le désespoir romantique) die Rede. Diese romantische Gemeinschaft wird nach Bataille von jenen Menschen gebildet, die in den vergangenen Epochen an einer Welt des Egoismus zu Grunde gegangen waren. Diese romantische Verzweiflung verbindet Bataille mit dem Wahnsinn Nietzsches, Hölderlins und Nervals. Bataille hat festgestellt, dass diese romantische Verzweiflung einen weg geöffnet hat, der uns weit von den Beschränkungen der gegenwärtigen Welt wegführen kann. Die Reflexion über den Mythos hat zur Gründung von Acéphale geführt. Es handelte sich für diese Gruppe von Intellektuellen darum, ein inneres unabhängiges Leben neu zu begründen, das dem herrschenden Egoismus der damaligen Zeit entgegengesetzt war. In diesem Zusammenhang wird auch das Werk Nietzsches im romantischen Kontext als eine moralische Erneuerung für die Gegenwart gewertet (Bataille S. 525 u. 593).

Die Position von Roland Barthes hat wenig mit den Theorien von Robert Hertz und Georges Bataille zu tun. In seinen Schriften Mythologies (1957) und Le Mythe, aujourd´hui (1956) vertritt er eine ganz andere Auffassung der Interpretation des Mythos. Die »Mythen des Alltags« sind nach Barthes im Grunde Fiktionen, die von den gegenwärtigen Medien vermittelt werden. Die Mythologie ist nach Barthes eine Form der Sprache, beziehungsweise ein System der Kommunikation innerhalb der modernen Gesellschaft. Eine wichtige Rolle, so der Autor, spielen dabei die Presse, die Filmkunst, das Theater, die Literatur sowie jene Zeremonien der Öffentlichkeit, die durch das Fernsehen übertragen werden, wie etwa die Eheschließung eines Prominenten, oder »Le Tour de France als Epos«. Die Mythologie sei im Grunde eine Botschaft der Werbung und der Industrie. Es ist sogar von einer Mythologie des Weines die Rede: An diesem Beispiel kommt nach Barthes die Zweideutigkeit des täglichen Lebens zum Ausdruck; einerseits ist der Wein eine edle und traditionsreiche Substanz, andererseits ist jedoch der Wein ein Produkt der französischen Industrie. Die Mythologie sei im Grunde genommen eine Art Psychoanalyse der Werbung. Sie ist ferner eine Ideologie der alltäglichen Identität bestimmter Schichten der Gesellschaft, die durch die Mechanismen der Kommunikation verbreitet wird (Barthes S. 580-709). Für Robert Hertz hängt die Wirksamkeit der mythischen Vorstellung von ihrer Verkörperung an einem Objekt ab. Georges Bataille versteht schließlich Mythen als »Werte der Nation«, die Anziehungskraft besitzen und deshalb zum sozialen Handeln führen können. Für Roland Barthes sind die »Mythen des Alltags« die Zeichen für die problematische Identität der modernen Menschen im 20. Jahrhundert.

Literatur

BARTHES, ROLAND, Mythologies (1957) und Le Mythe, aujourd´hui (1956), in: Oeuvres Complètes, Tome 1 (1942-1965), Paris 1993
BATAILLE, GEORGES, L´Apprenti Sorcier in: Marina Galletti (Hg.) Paris 1999
DURKHEIM, EMILE, Notice biographique sur Robert Hertz
HERTZ, ALICE, Préface, in: Mélanges de sociologie religieuse et folklore, Paris, 1928
MATARASSO, MICHEL, (Rezeptionsbeitrag zu:) Robert Hertz, Sociologie religieuse et folklore, Paris, 1970, in: Cahiers Internationaux de Sociologie, LIV, Janvier- Juin 1973
RILEY, ALEXANDER und BESNARD, PHILIPPE, Présentation zu: Un ethnologue dans les tranchées, août 1914- avril 1915, Lettres de Robert Hertz á sa femme Alice, Paris, 2007