Ist Martin Heideggers Habilschrift über die angebliche »Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus« womöglich bloß ein unqualified flop gewesen? Immerhin wurde sie im Jahr 1972 nochmals unverändert von ihm selber in Druck gegeben. Warum? Extern betrachtet unbegreiflich. Warum folgte Martin Heidegger wider besseres Wissen und noch nach 50 Jahren selbstkritiklos der falschen Duns-Scotus-Zuordnung samt all den kurios phänomenologisierenden Interpretationen und Fehlkonklusionen?
Auch wenn das Autograph der Novi Modi Significandi [NMS] bzw. Modi Significandi noviter compilati des Thomas von Erfurt nicht überliefert ist, konnte dessen NMS-Autorschaft bereits 1922 von dem in Eichstätt wirkenden Prälaten Martin Grabmann gültig identifiziert und die irreführende Duns-Scotus-Zuordnung philologisch-kritisch fundiert abgewiesen werden. Martin Grabmanns berühmter Aufsatz: De Thoma Erfordiensi auctore Grammaticae quae Ioanni Duns Scoto adscribitur speculativae erschien im Archivum Franciscanum Historicum. Diese άλήδεια hat Martin Heidegger auffälligerweise ausgeblendet.
Die Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt sind sprachkommunikationstheoretisch deshalb interessant, weil sie sowohl sprecherseitig als auch interpersonal, hinsichtlich Face-to-face-Kommunikation systematisch und in actu durchartikuliert sind, zum beträchtlichen Teil etwas Neues bieten und die zur Zeit der einsetzenden Spätscholastik gesicherten, verwissenschaftlichten und fortschrittlichen Lehrkomplexe vermitteln. Heute bezeichnen wir so etwas als performanzgrammtische und sprachpragmatische Darstellungstechnik oder als kognitivlinguistisch bzw. psycholinguistisch prozessuale Systemgestalt. Die Systematik der Sprachproduktions- und Sprachkommunikationslehre dieser im frühen 14.Jahrhundert von Thomas de Erfordia neu kompilierten Modi Significandi ist ˗ bezogen auf die Theoriegeschichte wissenschaftlicher Konzeptionen über Sprachkommunikation ˗ als epochaler Fortschritt zu werten. Thomas von Erfurt ist wohl der erste deutschstämmige Psycholinguist und Sprachkommunikationstheoretiker von Weltruf.
Noch im Ausgang des Spätmittelalters, vor allem aber seit der Neuzeit waren die Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt dem Johannes Duns Scotus (Doctor subtilis et Marianus; ca. 1265-1308), also einem berühmt gewordenen Zeitgenossen des Thomas Erfordiensis zugeschrieben worden. Wieso? Einfach, um das Textcorpus in den Scientific Communities autoritativ aufzuwerten. Typische Vorgehensweise. Die Duns-Scotusforschung folgt ungefähr seit 1938/39 (nach einer gut 16-jährigen Zeitspanne) dem Forschungsergebnis Martin Grabmanns von 1922. Nicht so Martin Heidegger, der davon in Kenntnis gesetzt war und den Oberpfälzer Grabmann sogar persönlich kannte. Martin Grabmann (1875-1949, Stationen: Winterzhofen, Eichstätt, Kipfenberg, Allersberg, Neumarkt, Rom, Wien, München, Eichstätt) war als präzise arbeitende Scholastik-Koryphäe, katholischer Dogmatiker und Thomas-von-Aquin-Fachmann in einer publizistisch wenig manövrierfähigen Position. Die Tragweite des zweifelsfrei abgesicherten Grabmannschen Forschungsergebnisses von 1922 muss Martin Heidegger relativ rasch klar gewesen sein. Kein Thomas-von-Erfurt-Interpret konnte jemals beweisen, dass Thomas Erfordiensis auch nur eines der echten Werke aus dem Opus Oxoniense des Johannes Duns Scotus rezipiert haben könnte. Auch erscheint es nach bisherigem Informationsstand als ziemlich unwahrscheinlich, dass Duns Scotus jemals sermozinale Wissenschaften (Dialectica, Grammatica, Rhetorica, Sophistica) dozierte. Heideggers NMS-Intentionen fehlte die Basis. Diese Relationsbasis war seit 1922 falsifiziert.
Logica fasste Duns Scotus als strenge scientia rationalis auf, sinngemäß paraphrasiert als ›Wissenschaft von der begrifflich-formalen Darstellung rationaler Denk- und Schließver-fahren‹ (Nickl 1985: 159 f. mit Nachweisen). Duns Scotus entwickelte eine profilierte, rational und formal stringente, jedoch sprachlich reformulierbare Logica bzw. Loyca. Aber gerade diese Art ›Sprachlogik‹ ist nicht mit dem sermozinalen Objektbereich der NMS des Thomas von Erfurt zu verwechseln. Denn gerade davon grenzt sich Thomas Erfordiensis ausdrücklich ab: Im ersten Kapitel gegenstandskonstitutiv; in den Kapiteln 6, 45 und 53 drastisch und generell gegenüber der Sprachlogik. Die NMS des Thomas von Erfurt stehen komplett in der ›sermozinalen‹, an der konkreten Sprechtätigkeit orientierten Tradition und stellen keinerlei Beitrag zur mittelalterlichen ›Sprachlogik‹ dar. Der salopp adressierte Gegenstandsbereich cappa categorica (NMS im 53. Kap.) mit rein rational-formalen Argumentations-, Kognitions- und Schließverfahren bleibt die angestammte Domäne der Logiker und Nominalisten. Eine manifeste Basis für eine seriöse sprachlogische Interpretation mit konkreten Anleihen, Anknüpfungspunkten und Querbeziehungen zu Opera und Opuscula des Johannes Duns Scotus existiert innerhalb der Novi Modi Significandi [NMS] des Thomas von Erfurt nicht.
Positiv formuliert, handelt es sich bei Heideggers Traktat 1915/16 um eine rasante Inhaltssemantik oder Logico-Pragmatik über kategoriale und wortklassenkonstitutive Aspektierungen der NMS-Teile I und II. Heideggers Habilschrift war und ist, weil es darin nur so von Fehlern und Fragwürdigkeiten wimmelt, in der seit 1915/16 vorliegenden und 1972 überraschenderweise unverändert nachgedruckten Fassung offenbar ganz und gar nicht umzuarbeiten gewesen, nicht einmal von ihm selber. Jeder Versuch einer radikalen Neufassung wäre zwar intellektuell redlich gewesen, aber mit absehbar und unberechenbar blamablem Ergebnis. Schon allein die fehlende paläographische Recherche wirkt prekär. Das aufgeklärte Publikum hätte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bloß gestaunt, Heideggers Karrierebasis wäre wohl verhängnisvoll beschädigt worden. Zeitlebens war er kein unpolitischer homo contemplativus, dem es nur um die ›Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffs‹ zu tun gewesen wäre und der prompt seine άλήδεια verpasste. Die Sache verhält sich wahrlich anders: Martin Heidegger hat in einem für ihn epistemologisch initialen und gravierenden Punkt die Wahrheitsfrage inadäquaterweise und certitudinaliter ausgebremst. Anscheinend blieb ihm nur der stabilisierende Ausweg des stillschweigenden Aussitzens und des stillen, würdevollen So-tun-als-sei-nichts-gewesen.
Seine Karriere hatte Martin Heidegger erheblich auf dieser Autorenverwechslung von Thomas von Erfurt mit Johannes Duns Scotus und auf daraus resultierende Artefakte, Fehlschlüsse, Fehlinterpretationen und Querbezüge in seiner Habilschrift aufgebaut. Diese Schrift von 1915/16/72 zerfurcht die Novi Modi Significandi [NMS] des Thomas von Erfurt zumal im Kategorienteil und im phänomenologisierenden Hinblick auf die sogenannte »Etymologia« (dem umfangreichen NMS-Teil II) reichlich strapaziös, in den Querbezügen zu diversen Opera des Duns Scotus geradezu abenteuerlich, abwegig bis irrlichternd. Einmal abgesehen von Heideggers schönem Satz (1916: 129): »In dem Modus significandi liegt eine bestimmte Bewandtnis, die es um die Bedeutung hat«. Man fragt sich das ganze Heidegger-Buch hindurch, wovon und worüber denn die Rede sein könnte.
Keineswegs geht es etwa bloß um eine oberflächliche Namensverwechslung, wie in der Sekundärliteratur ab und an insinuiert, also etwa um einen Flüchtigkeitsfehler, der beim Philosophieren schnell mal passieren kann und worüber im Fall von Martin Heidegger taktvoll hinwegzusehen wäre: Duns Scotus bzw. Pseudo-Duns-Scotus statt Thomas von Erfurt (Thomas de Erfordia, Thomas Erfordiensis). Aber alle artefaktischen Argumentationspyramiden, ausgeklügelten Relationen und verwickelten Textproduktionen in Martin Heideggers dienstlich begünstigter und hochgelobter Abhandlung von 1915/16 sind spätestens seit den 1930er Jahren komplett wertlos, trotz des von Martin Heidegger 1972 autorisiert erfolgten (und soweit ich das sehen kann) inhaltlich unveränderten Nachdrucks. Nirgendwo wird darin positives Wissen gesetzt, keinerlei standhaltende Erkenntnisfortschritte präsentiert, sondern überwiegend Abstruses, Verkehrtes vorgeführt. Salopp gesagt: eine Luftnummer. Was wegen der mangelnden intellektuellen Redlichkeit schockiert, ist, dass Martin Heidegger diesbezüglich niemals öffentlich konkrete Selbstkritik übte, obwohl er schon in den 1920er Jahren genau gewusst hat, dass seine karrierebegründende Monografie von 1915/16 inhaltlich unhaltbar und systematisch irreführend ist. Abgesehen davon, dass sie auch methodisch-kritisch inakzeptabel erscheint (dies beginnt schon mit der fehlenden paläographischen Recherche, die Martin Heidegger offenbar für unerheblich gehalten hat).
Was wissen wir wirklich von Thomas von Erfurt?
Thomas Erfordiensis bzw. Thomas de Erfordia war überlieferungsgemäß magister artium (sehr wahrscheinlich in Paris erworben) und allem Anschein nach bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert als Magister, Regens oder Rector an den Schulen von St. Severi und zu den Schotten tätig. Paläographische Belege dafür gibt es in Erfurt, Prag, Breslau, Stettin und Lübeck. Als sichere Lebensdaten teilt Martin Grabmann (1943: 45) folgendes mit: »Er wird als Magister Thomas de Erfordia (Clm 22294), als venerabilis Magister Thomas (Cod.1498.MCXXXVII der Bibliothek des Metropolitankapitels Prag), als Magister Thomas (Clm 7589), als Thomas grammaticus excellenter nobilis (Cod. Q.281 Erfurt), als Magister quondam Erfordiae existens (Q.51 Erfurt), als Thomas Erfordiensis (Cod. 6 der Bibliothek des Marienstiftsgymnasiums in Stettin), als rector quidam sollempnis Erfordie nominatus Thomas magister artium excellentissimus (IV.Q.81 b der Universitätsbibliothek Breslau) bezeichnet. Auch die Schulen, an welchen er als Magister bzw. Rektor in Erfurt tätig war, werden genannt: Magister Thomas, qui etiam edidit novos modos significandi regens quondam Erfordii apud S.Severum (Cod.1441 M.LXXXIV Bibliothek des Metropolitankapitels Prag; vgl. auch Cod.theol.lat. 171 fol.67 verso der Stadtbibliothek in Lübeck) regens in Erfordia apud Scotos (Clm 4378).«
Seine Modi Significandi noviter compilati (ca.1300/1310), bzw. Novi Modi Significandi werden seit Mitte 14. Jahrhunderts kommentiert und haben in ganz Mitteleuropa Verbreitung gefunden, einschließlich Oxford. Die NMS sind sein bedeutendstes Werk. Zur Traktatsorten-Typik gehört, dass es sich um einen publizistischen Wiedergebrauchstext handelt. Die NMS des Thomas von Erfurt sind also alles andere als ein esoterischer Literatentext, sondern ein erfolgreiches, traditionsprägendes Vorlesungsskript, das bis ins 16. Jahrhundert im Rahmen der Modi-Significandi-Lehrtradition gebraucht, hundertfach abgeschrieben und explizit oder implizit kommentiert wurde.
Grundzüge der Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt
Das Hauptwerk des Thomas von Erfurt, das kompilierte Vorlesungsmanuskript der Novi Modi Significandi, um/vor 1300, ist hinreichend gesichert überliefert. Dazu nur wenige Hinweise: Thomas von Erfurt und sein Hauptwerk, die NMS sind in/vor der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts zu verorten. Bezugsfeld, Kontext und Zeitspanne können hier nur streiflichtartig einbezogen werden. Auf eine Bibliographie mit aufwendigen paläographischen Hinweisen auf Textvarianten muss hier verzichtet werden. Ebenso auf die Darstellung von Erfurt als bedeutendes scholastisches Studienzentrum nördlich der Alpen lange vor der zweifachen Universitätsstiftung 1379 und 1389 (jeweils städtische Obrigkeit plus päpstliche Stiftung, erste überlieferte Rektorwahl 1392). Auch eine Erläuterung zum Mittellatein als europaweiter, fachsprachlich ausdifferenzierter Lingua franca und die Verwissenschaftlichung der Triviumdisziplinen Dialektik und Logica/Sprachlogik, Grammatica speculativa mit Diasynthetik und Sprachverstehenstheorie, sowie Rhetorik als suasiver Dachdisziplin, all dies kann hier nicht eingepasst werden.
Einen Titel bzw. eine Traktatüberschrift, trägt dieser komprimierte NMS-Lehrtraktat ursprünglich nicht. Titelgebungen, Kapitelüberschriften und diverse Einteilungen sind von späterer Hand hinzugefügt. Seit der Lyoner Ausgabe von Lucas Wadding 1639 liegen die Novi Modi Significandi gedruckt vor. Dieser Waddingsche editorische Standard der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hat sich bis heute stabilisiert. Eine historisch-kritische Ausgabe fehlt ebenso wie das Autograph. Aber das ist nichts Ungewöhnliches für häufig benutzte und hundertfach abgeschriebene scholastische Vorlesungsskripten und Wiedergebrauchstexte.
Auch von der Vita des Thomas von Erfurt ist wenig überliefert, wenngleich dessen Lehrtätigkeit in der Wendezeit vor, um und nach 1300 an Erfurter Schulen nachgewiesen ist. Zur Autorfrage, zu den Handschriften und zur Textidentifikation sei nochmals auf Martin Grabmann 1922 und auf dessen Vortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am 24.10.1942 (publiziert 1943) verwiesen. Darin wird aus dem lateinischen Codex Nr. 22294 der Staatsbibliothek München zitiert. Diese aus dem Prämonstratenserkloster Windberg stammende Pergamenthandschrift, die wohl im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts geschrieben worden ist ˗ eine Abschrift ˗ habe ich im Mikrofilm eingesehen. Am Traktatende wird ausdrücklich auf den Autor Thomas de Erfordia hingewiesen. Auf Folio 197, Vorderseite [recte], ist zu lesen: »Expliciunt modi significandi noviter compilati a magistro Thoma de Erfordia. Et sunt completi(?) sabbato octave Penthecostes« (Pfingsten) »in primo/u?/ pulsu vesperarum«, also Manuskriptabschluss beim ersten Schlag der Abendglocke. Public relations gehörte in der Wendezeit zum Spätmittelalter schon dazu. Eine Jahreszahl ist nicht vermerkt.
Die heutige Zitierweise der mittellateinischen NMS folgt kapitelbezogen und editionspragmatisch der Ausgabe des spanischen Franziskaners Marianus Fernández Garcia 1902 bzw. 1910 (Ndr). Und dies wiederum stellt lediglich einen Nachdruck der von Lucas Wadding 1639 veranstalteten Lyoner Ausgabe dar. Seither werden die NMS in 54 Kapitel durchnummeriert. Dem entspricht auch die Ausgabe von G. L. Bursill-Hall 1972 mit englischer Übersetzung. Eine mühevolle, deutschsprachige Übersetzung liegt von Stephan Grotz seit 1988 vor. Nötig wäre eine Diskussion über Brauchbarkeit und Verlässlichkeit dieser Übersetzungen angesichts der fachsprachlichen Latinität des Thomas von Erfurt; auch dies muss hier ausgespart bleiben.
Die NMS des Thomas von Erfurt gliedern sich in drei Teile:
Teil I erstreckt sich vom Proömium bis Kapitel VII. Es werden die kognitiv-grammatischen Grundkategorien, sozusagen die modistischen Basis-›Essentials‹ dieses Grammatiktraktates gedrängt und knapp erläutert: diese breviloquente Darstellungstechnik durchzieht den gesamten Traktat. Sieht man von den Teilen II und III ab, so könnte dieser erste Teil der NMS auch als kleine modistisch-kognitionslinguistische Kategorienlehre bezeichnet werden.
Der erste Teil umreißt also eine modistische Kategorienlehre mit Positionsskizze, wobei schrittweise klar wird, dass sich die mittellateinisch-scholastische Bezeichnung ›Grammatica‹ nicht etwa auf Lerngrammatik (grammatica regularis) bezieht. Objektbereich der wissenschaftlich theoriebeladenen Grammatica speculativa ˗ das Adjektiv speculativus/a/um klingt im 14.Jahrhundert unverdächtig ˗ ist die kognitiv gestützte Lehre von den prozessualen Ordnungsmodellen und darstellungstechnisch durchartikulierten Theoriesorten über den Sermo audibilis et significativus (hörbare und sinnentsprechend etwas bezeichnende, menschliche Rede und seine Respezifikation beim Hörer). Die tatsächliche Komplexität dieses kognitionslinguistischen und psycholinguistischen Sprachproduktions- und Sprachkommunikations-Verstehensmodells aus der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts kann hier nicht eingepasst und kritisch erörtert werden.
Der Novi-Modi-Significandi-Traktat des Thomas de Erfordia steht komplett in der ›sermo-zinalen‹, empirisch-sprechtätigkeitsbezogenen und auditiv-sinnbezogen apperzeptiven Tradition und stellt keinen Beitrag zur Sprachlogik dar. Thomas von Erfurt grenzt sich mehrfach explizit von der Sprachlogik (loyca/logica) ab (in den NMS: cap.I, VI, XLV und LIII). ›Sprachlogik‹ wäre demzufolge ein abwegiges Etikett für die NMS. Dies ist ein interpretationsentscheidender Punkt, denn daraus resultiert: Heideggers sprachlogisch und phänomenologisch inspirierten NMS-Intentionen fehlte die reale Basis innerhalb der NMS. Eine ganze Reihe anderer Interpretationsmöglichkeiten sind sicherlich diskutabel.
Gleichzeitig beinhaltet diese empirisch-theoretisch hergeleitete NMS-Grammatica-Lehre einen Wissenschaftlichkeitsanspruch, bei Thomas von Erfurt einen sermozinalen Wissenschaftlichkeitsanspruch. Mittellateinische Grammatica ist dabei nicht identisch mit neuhochdeutsche Grammatik, sondern bedeutet äußerungssegmentierte, interpersonale, satzbasierte, sinnbezogene, empirische Speech Apperception and Speech Comprehension Theory. Nicht zu verwechseln mit einer normativ-präskriptiv-regulären Mischgrammatik oder Lerngrammatik (grammatica regularis). Thomas von Erfurts Wissenschaftlichkeitsanspruch bezieht sich inhaltlich im Rahmen geordneter satzgrammatischer Einheiten einschließlich Interjektionen und Ellipsen sinngemäß auf sprachkognitive, sprachkommunikations-konzeptualisierende, meist psycholinguistische und sprechwissenschaftliche Modi-Significandi-Kategorisierungen der scientiae sermocinales. Es geht um empirisch produzierte, apperzeptive und respezifizierte, sprechsprachlich segmentierbare Kommunikationseinheiten. Nicht zu verwechseln mit empiriefernen langue-Vorstellungen einer Saussure-ähnlichen, strukturellen Sprachwissenschaft, die die parole als unsaubere langue missversteht. Für die Gesamteinschätzung der Novi Modi Significandi ist dieser Sachverhalt ebenfalls entscheidend, auch dann, wenn die Wortklassen-Konstitution einschließlich Interjectio-Lehre des zweiten, quantitativ beachtlichen, bisweilen schulmeisternden NMS-Teils stärker einbezogen wird. Auch daraus resultiert: Heideggers sprachlogisch und phänomenologisch inspirierten NMS-Intentionen fehlte jedwede reale Daten-Basis innerhalb der NMS.
Teil II, Cap. VIII bis einschließlich Cap.XLIV, behandelt hauptsächlich Wortklassenkonstitution und Morphologie unter Einbeziehung syntaktischer Aspekte, was unter der Bezeichnung ›Ethimologia‹, bzw. ›Etymologia‹ zusammengefasst wird.
Im diesem zweiten NMS-Teil geht es um die rationes consignificandi activi, d.h. um modi significandi im Sinne von Wortklassen-Konstitution und psycholinguistischer Wortgruppen-Kohärenz. Das wird im 13. Und 14. Jahrhundert mittellateinisch »etymologia« genannt. Für heutige Leser/innen vielleicht verwirrend und nicht zu verwechseln mit dem heute gebräuchlichen Etymologie-Begriff, der sich auf diachronische, sprachgeschichtliche Herkunft von Wörtern bezieht. Dieser zweite Teil der Novi Modi Significandi ist der quantitativ umfangreichste Teil (Cap.8-44) des ganzen Traktats. Wie es scheint, primär für didaktische Zwecke arrangiert. Sprachkommunikationstheoretisch ist dieser etymologia-Mittelteil weniger ergiebig. Die sermozinale Konzeption des Thomas von Erfurt wird kontinuierlich beibehalten. Heideggers sprachlogisch und phänomenologisch inspirierte NMS-Intentionen fehlte auch darin die reale NMS-Basis.
Kurzweilig erscheint im 16. Kapitel die Lehre von den mindestens fünf, wenn nicht sechs Genera, auf Flexionsendungen von Nomina bezogen: masculinum, foemininum, commune, neutrum, sowie das genus epicoenum. Beispiel für das zwiegeschlechtliche Genus: passer (Spatz oder Spätzin), aquila (Adler oder Adlerin). Der Vollständigkeit halber gibt es im zweiten Traktatteil der NMS des Thomas von Erfurt auch noch ein »dubium genus« (ungewisses bzw. zweifelhaftes Geschlecht), was allerdings nichts Neues darstellt, da bereits in der römischen Latinität vorhanden: hic vel haec dies (Arbeitstag, Datum, Festtag, Jahrestag), hic vel haec cortex (Schale, Rinde, Borke, Hülle), manchmal maskulin, manchmal feminin.
Teil III enthält jene prozessualen Design-Komponenten, die relationale Sprechtätigkeit und hervorbringende Syntax der Sprachproduktion in actu, interagierend prozessual, sowie die interpersonale, Satzeinheiten und auch Satzfragmente übergreifende Konzeption des Sprachverstehens in sinnbezogen sprechsprachlicher Kommunikation. Es geht in den NMS weder um Nonsens-Silben oder Nonsens-Sätze, noch um strukturelle Sprachsystem-Erwägungen. Dabei umfasst Teil III die Kapitel XLV bis LIV. Diese prozessualen, wir würden heute sagen psycholinguistisch interagierenden, Grammatikkomponenten werden in der mittellateinischen Fachsprache der Hoch- und Spätscholastik als Diasynthetica bezeichnet (mit diversen Notations-Derivaten, die hier nicht aufgegriffen werden). Vor allem dieser III. Teil der NMS ist sprachkommunikationstheoretisch von Belang.
Ein Konzept systematischer Asymmetrie der sprachlichen Kommunikation
In diesem dritten Teil seiner Novi Modi Significandi, der sogenannten Diasynthetica (cap. 45-54) mit variierender Schreibweise (»dyasinthetica«) konstruiert Thomas von Erfurt eine systematische Asymmetrie der sprachlichen Kommunikation.
Diese für die NMS epistemologisch entscheidende und wirklich anspruchsvolle Diasynthetik wurde offenbar schon in der Spätscholastik nicht ohne weiteres verstanden und auch bei etlichen der zahlreichen NMS-Abschriften einfach weggelassen. (Abschriften des 14 .Jahrhunderts enthalten sie; Clm 22294 aus der Staatsbibliothek München enthält sie ebenfalls, vgl. Erstabdruck der NMS-Faksimiles in Nickl 2004: 227-280).
Die Diasynthetik des Thomas von Erfurt stellte zu seiner Zeit etwas theoretisch ziemlich Anspruchsvolles und provozierend Neues dar: In der Diasynthetik traktieren die Novi Modi Significandi, wie erwähnt, prozessuale Komponenten der segmentierbaren Sprachkommunikation auf Satzebene einschließlich Interjektionen und Satzfragmente. Dies im Vollzug des suffizienten Sprechens und sinnentsprechenden Hörverstehens, selbstverständlich unter Ausklammerung der Zeitachse.
Zur Zeit des Thomas von Erfurt kursierten bereits systematische Wissenschaftslehren an mitteleuropäischen Klöstern und Studienzentren, nicht nur in Bologna, Paris und Oxford. In Kilwardbys Wissenschaftslehre De ortu scientiarum (Mitte 13. Jahrhundert), die die sermozinalen Traditionsstränge konstruktiv einbezieht, wird diesbezüglich genau und ausführlich differenziert. Vgl. im 50.Kapitel (ed. A.G. Judy 1976) die Diskussion zweier Sermo-Begriffe: den ›sermo ratiocinativus‹, die argumentierende, schlussfolgernde, vernunfterwägende Rede im Rahmen von Sprachlogik und Rhetorik (rhetorica theorica), sowie den ›sermo significativus‹, die persönliche, allgemeinverständlich etwas anzeigende, etwas bedeutende und bezeichnende Rede (als Gegenstand der Grammatica speculativa, aufgefaßt als eine Scientia sermocinalis). Dabei geht es um die Vermittlung der Wahrheitsdimension (veritas sermonum) der ›doctrina‹ (etwa: des kohärenten Systems gefestigter, gesicherter ›sententiae‹), womit nicht bloß ›opiniones‹ (Meinungen) gemeint sind. Dem Modus sermocinandi wie dem Intellectus discursivus, gestützt auf dessen Virtus reflexiva, wird durch einen mehrdimensionalen Sprechtätigkeitsbegriff eine gewisse Wissenschaftlichkeit beigemessen (ed.Judy. p.148, n.427/424 und p.153, n.443 im Cap.XLVII). Dem Modus sermocinandi kommt dann eine gewisse Wissenschaftlichkeit zu, wenn es sich um eine Art ›Modus artificialiter sermocinandi‹(p.148) bzw. ›Modus loquendi ex arte‹(p.153) handelt; also etwa: ›Stufe des theoretisch informierten Sprechens‹, oder etwa: ›Sprechen von einem theoretisch informierten Standpunkt her‹. Dabei hängt die Kernfrage, ob ›de sermone‹ eine Wissenschaft möglich sei, auch entscheidend vom Verallgemeinerungsfähigen am Sprechen circa conclusiones, der Distinktion zwischen dem Modus ratiocinandi, considerandi, sermocinandi und deren ›Species specialissima‹ und nicht zuletzt von der jeweiligen ›scientifica cognitio‹ ab. Mit etlichen Lehrmeinungen des Thomas von Erfurt klingt dies kompatibel zusammen, ohne dass damit der Beweis erbracht wäre, er habe Kilwardbys Wissenschaftslehre De ortu scientiarum nachweislich gekannt. Die Konzeptualisierung der verwissenschaftlichten Triviumdisziplinen, der Scientiae sermocinales hängt davon ab, welcher wie dimensionierte Sermo-Begriff (Sprechtätigkeit) mit welcher systematischen Durchdringung und Explizitheit jeweils für eine bestimmte Scientia sermocinalis (Sprechwissenschaft bzw. verwissenschaftlichte Wissensform über ausgewählte Aspekte und Level/Stadien/Repräsentationsniveaus menschlicher Äußerungsproduktion, Redesegmente, Satzgenerierung und sinnbezogener Hörer-Verarbeitung im Wahrnehmungsvollzug) traktatspezifisch vorausgesetzt wird.
Die NMS des Thomas von Erfurt thematisieren eine empirische, organische, ›sermozinale‹ Grammatica- und Sermo-Kohärenz, Sprechtätigkeit bezogen auf Hörverstehen und Sprach-kommunikationsvollzug. Kein von menschlichen Empirien isoliertes, rationalistisch radikalisiertes, sprachstrukturelles, synchrones Begriffsnetz oder blutarmes Kategoriensystem: »grammatica sit scientia organica, oportet quod illud, quod in grammatica est principaliter consideratum, sit organicum«(NMS im Kap.54). Kernfrage ist: wie kommt Sprachkommunikationsverstehen hinreichend vollständig im interpersonalen Vollzug zustande?
Von der perfectio sermonis zur communicabilitas und communicative competence
Die Kategorie der communicabilitas (die menschliche Fähigkeit sich mitzuteilen, die Kommunikationsfähigkeit) tritt erst im 15. Jahrhundert als fachsprachliche Bezeichnung in kommunikationstheoretisch als relevant zu nennenden Traktaten auf, mit heuristischer und wissenspräzisierender Funktion, distinktiv vom Allerweltswort communicatio des antiken Lateins bzw. in der sogenannten ›goldenen‹ bzw. römischen Latinität unterschieden. Dies also gilt für die spätere Scholastik, auch wenn die mittellateinische Communicabilitas-Wortneubildung (zumal außerhalb von Modi-Significandi-Traktaten) bereits im 13.Jahrhundert zum in theologischen Textproduktionen identifizierbar ist.
Bei Thomas von Erfurt, also in der ersten Dekade des 14. Jahrhunderts, findet sich noch die uns heute befremdliche und missverständliche Bezeichnung perfectio sermonis. Wahrscheinlich hatte er opportune Konfliktvermeidungsgründe, die perfectio sermonis als sermozinalen Schlüsselbegriff zumal in Erfurt beizubehalten, mit einiger definitorischer Akrobatik. Beim Nachkonstruieren der beizuziehenden Belegstellen zeigt sich jedoch, dass die fachjargonhafte Prägung ›communicabilitas‹ dann im 15. Jahrhundert in sermozinal ausgerichteten Modi-Significandi-Traktaten anstelle von ›perfectio sermonis‹ verwendet wird.
Dabei geht es um traktatsortentypische Terminologie. Die Wortbedeutung und Wortbildung von ›communicabilitas‹ [nhd. etwa: Mitteilbarkeit, Kommunikationsfähigkeit, Übetragbarkeit] als mittellateinisch-scholastische Neubildung (Neologismus) ist fachjargonhaft und theoretisch durch Modellvorstellungen über die menschliche Sprachproduktion und Respezifikation von Sinn im hörverstehenden Vollzug der Sprachlichen Kommunikation motiviert. (Noch nicht an der Schwelle zum 14. Jahrhundert, wo sie in der innertrinitarischen Theologie vorkommt.) Thomas von Erfurt verwendet, wie erwähnt, stattdessen noch die ›perfectio sermonis‹ mit fachjargonhafter Prägung als Schlüsselbegriff (speziell definierte relationale und perspektivenreiche Vollständigkeit der interpersonalen Rede mit suffizientem Verstehensvollzug bei den Gesprächspartnern). ›Generare perfectum sensum in animo auditoris‹, darauf kommt es in der Sprachkommunikation entscheidend an und zwar nicht Sprecherintention-Hörverstehen als Abbild oder Widerspiegelung 1:1-identisch mit tadelloser syntaktischer Oberfläche, sondern hinreichend, suffizient, ›cum sufficientia exprimendi mentis conceptum compositum secundum distantiam‹. Mit hinreichend adäquater Sprechtätigkeit, sodass das Hörverstehensprodukt in mente latente vom Hörer/von der Hörerin phasenverschoben aber sinngemäß aufgebaut und respezifiziert werden kann.
Die NMS bearbeiten die Frage: wie kommt eine konkrete Satzplangestaltung in mente latente zustande? Und wie wird sie im sprecherischen Vollzug zusammenhängend in Äußerungseinheiten überführt und beim Hörverstehen respezifiziert ?
Dass Sprachproduktion und Kommunikationsverstehen im Diasynthetica-Teil asymmetrisch und intermediär konzipiert werden, mutet sicherlich modern an. Diese Diasynthetik kann selbständig betrachtet als auch im Zusammenhang mit den Kategorien- und Statement-Teilen I und II der NMS interpretiert werden. Von daher überrascht es nicht, wenn Thomas von Erfurt begründetermaßen darauf besteht, daß diese Modi Significandi eben ›noviter compilati‹ sind und sich ausdrücklich von der Sprachlogik abgrenzen. Und seine Modi Significandi sind zweifellos über weite Strecken neu durchartikuliert und umfassend aufgearbeitet (compilati). Dass er auch diverse Anleihen bei seinen Modi significandi traktierenden Zeitgenossen gemacht hat, spielt keine große Rolle. Neu sind seine Modi Significandi nicht zuletzt im Verhältnis zu den ›alten‹ Modi Significandi des Magister Martinus von Dänemark (vgl. Roos ed.1952).
Die NMS sind »novi ad differentiam antiquorum modorum significandi« (Clm 7589 auf Folio 24 recte). Sowohl Thomas von Erfurt wie Gentilis de Cingulo polemisieren diesbezüglich direkt gegen Martinus de Dacia, anders formuliert: gegen eine bereits in der einsetzenden Spätscholastik des 14. Jahrhunderts etwas museal anmutende Standardvariante der Modi-Significandi-Lehrtradition des 13. Jahrhunderts. Die Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt sind sowohl ˗ wie wir heute sagen ˗ interpersonal Sprecher-Hörer-pragmatisch orientiert als auch sprachkommunikationsrelevant durchgeführt. Komplizierte, kommunikatorzentrierte, psycholinguistisch konstruierte, mentale und artikulatorische Sprachproduktion, sprechsprachliche Perzeption und Respezifikation von Sinn ergänzen sich und zielen auf gelingende sprechsprachliche Kommunikation ab: traktatspezifisch definierte perfectio sermonis. Nirgendwo in den NMS wird ein synchrones Sprachstruktursystem im Sinne einer ›Sprachlogik‹ traktiert. Es geht einerseits um prozessuale Komponenten und ihre Konfiguration bei der Generierung und Exteriorisierung von Äußerungseinheiten und zum andern um auditiv-sinnbezogene Verarbeitung des Verstehensprodukts im Vollzug der Sprachkommunikation. Die NMS des Thomas von Erfurt können demzufolge als Vorläufer einer systematischen Performanzgrammatik kommunikationslinguistischer oder kommunikationspragmatischer Art interpretiert werden. Limitiert auf sinnbezogene, respezifikationsfähige Satzsegmente, Sprachproduktionseinheiten und Äußerungsfragmente. Die NMS sind keine Rhetorik oder Sophistik. Dementsprechend wären die Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt als spätmittelalterlicher Vorläufer von Charles E. Osgoods Lectures on Language Performance (New York 1980) anzusehen.
Dagegen lehnt Ferdinand de Saussure mentalistische Kriterien ab, macht einen synchronen Schnitt durchs Sprachsystem qua langue und bagatellisiert die Empirien der interpersonalen Kommunikationssituationen (geht man von den 1916 publizierten Vorlesungsmitschriften Cours de linguistique générale aus). Aus diesem Grunde sollte Thomas von Erfurt nicht als Vorläufer strukturalistischer Sprachwissenschaft Saussurescher Provenienz verstanden werden. Andere Interpretations- und Zuordnungsrichtungen sind dagegen durchaus denkbar.
Die konstruktivistische, Sprecher-und-Hörersystem-prozessual inspirierte Traktatgattung Modi Significandi in grammaticalibus, ihre Denkerrungenschaften und theoretischen Fortschritte scheinen im deutschsprachigen Publikationsraum offensichtlich nicht vom Glück begünstigt zu sein. Wohl der letzte einflussreiche Traktat zur Darstellung und Funktion der fachsprachlich durchwirkten, in diesem Fall ziemlich konsequent kommunikationstheoretisch durchartikulierten Modi significandi mit systematischer Verwendung der Kategorie der Communicabilitas (eine mittellateinische scholastische Wortschöpfung mit theoretischer Motivierung, die es in der klassischen Latinität nicht gegeben hatte) stammt von dem in der lat.-scholastischen Tradition stehenden Johannes Stobnicensis um 1500.
Übrigens: wie im Lexikon der Germanistischen Linguistik (2. Aufl. 1980) unter der Rubrik ›Geschichte der Linguistik‹ recht abwertend über die Traktatgattung ›Grammatica speculativa‹ desinformiert wurde, war weitgehend unangemessen. Das LGL gehörte lange Zeit zum Handapparat vieler Germanisten und man erwartete darin Gesichertes. Bezogen auf die vielen linguistischen Modi-Significandi-Traktate der Hoch- und Spätscholastik, auch hinsichtlich der Novi Modi Significandi des Thomas von Erfurt erschien es irreführend, pseudowissenschaftlich und geradezu antischolastisch indoktrinierend, pauschal zu behaupten: »...der Gegenstand war also ein von der lebendigen Sprachwirklichkeit weit entferntes Abstraktum...«. (Hans Arens, Lexikon der Germanistischen Linguistik, 2. Aufl.1980, S. 100.) Schade auch, dass die an der Schwelle des 16. Jahrhunderts von Johannes Stobnicensis kommunikationstheoretisch durchartikulierten Modi Significandi, die einen fachsprachlich vermittelten Konzeptualisierungsfortschritt im Hinblick auf Sprachliche Kommunikation beinhalten, in der erwähnten 1980er Auflage des Lexikons der Germanistischen Linguistik mit geradezu hochnäsiger philologischer Überlegenheitspose durch Hans Arens (ebd.) mit der allzu leichtfertigen Bemerkung vom »...überständigen letzten Modi-Traktat eines Polen (1500)...« desavouiert wurden. Tatsächlich benutzte Jan de Stobnica um 1500 das Schlüsselwort der menschlichen Kommunikationsfähigkeit in seiner breviloquenten Synopse Generalis Doctrina de Modis Significandi Grammaticalibus auf überzeugende Weise systembildend.
Die in der Spätscholastik entscheidend geprägte Kategorie der Kommunikationsfähigkeit bzw. Kommunikationskompetenz, Communicabilitas als intellektueller, sprechsprachlich und symbolsprachlich vermittelter und nicht zuletzt als referentieller Modus des Menschen, all dies wirkt auch ein halbes Jahrtausend nach Ioannes Stobnicensis ungebrochen als konzeptualisierender Dauerbrenner: z.B. Communicative competence neugeprägt und neukompiliert bei Dell Hymes 1966/73, interessanterweise entwickelt als humankommunikations-theoretischer Gegenbegriff zu einem sprachlogisch und strukturell verengten und forschungsstrategisch unbrauchbaren Grammatikkonzept.
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