Matthias Proske
Schulunterricht und die Kommunikation von Wissen: Zwischen Wissensfixierungen und Wissensfiktionen

1. Der Wissensbezug des Unterrichts und das Vermittlungsproblem

Aus schultheoretischer Perspektive betrachtet lässt sich der moderne Unterricht als Erfindung einer sozialen Form begreifen, deren zentrale Leistung in der Dissemination von Wissen besteht. Mit dieser Bestimmung soll keineswegs bestritten werden, dass die Form schulischen Unterrichts auch andere Leistungen für die moderne Gesellschaft erbringt. Zu denken wäre hier etwa an kustodiale Leistungen für die Familie, allokative und qualifizierende Leistungen für das Wirtschafts- und Beschäftigungssystem oder sozialisatorisch-integrative Leistungen im Kontext von Politik und Kultur. Mit der These, Unterricht als Ort der kommunikativen Thematisierung und Darstellung von Wissen zu fassen, soll jedoch behauptet werden, dass all diese Leistungen mindestens wissensbezogen erbracht werden, d.h. in je spezifischer Weise mit der Thematisierung und Darstellung von Wissen verknüpft sind. Die Aufbewahrung von Kindern und Heranwachsenden wurde im Laufe der Geschichte der modernen Schule in zunehmendem Maße so organisiert, dass diese Zeit nicht einfach nur verbracht wird, sondern dass ihre Strukturierung curricularen Rationalitäten zumindest auch folgt. Schulische Karrieren dokumentieren sich in Zeugnissen, die zumindest auch darüber Auskunft geben, welche Leistungen Kinder und Heranwachsende im Umgang mit fachlich differenzierten Wissensdomänen erreicht haben.

In diesem Sinne lässt sich zunächst festhalten, dass pädagogische Kommunikation im Schulunterricht an den Wissenshaushalt moderner Gesellschaften anschließt, für den wiederum die Bindung an wissenschaftlich generiertes Wissen konstitutiv ist. So unstrittig der Wissensbezug der modernen Form schulischen Unterrichts den verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Schul- und Unterrichtstheorien erscheint, so undeutlich bleibt häufig, wie dieser präzise zu beschreiben wäre. Die generelle Erwartung an Schule und Unterricht, wissenschaftlich erzeugtes und gesellschaftlich valorisiertes Wissen an die nachwachsende Generation zu vermitteln, beantwortet noch nicht die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie genau diese Vermittlung geschieht. Die Vermittlungsproblematik stellt vor diesem Hintergrund in der Schulforschung in doppelter Hinsicht eine zentrale Herausforderung dar:

Um eine Vermittlungsproblematik handelt es sich erstens, insofern zwischen der schulischen Vermittlung von Wissen durch die Lehrpersonen und der schulischen Aneignung von Wissen auf Seiten der Schüler/innen eine kategoriale Kluft besteht. Lernen im Sinne der individuumsgebundenen Bedeutungserschließung von Wissen – Felicitas Thiel schlägt hierfür den Begriff der ›Lebenslaufbedeutsamkeit‹ vor (2007, S. 160f.) – impliziert notwendigerweise die selbstständige, nicht selten auch eigensinnige Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Stoff des Unterrichts. Diese Auseinandersetzung kann durch Unterrichtstechniken sicherlich gefördert oder auch erschwert werden. Sie kann in ihrem Ergebnis jedoch weder nach Rezept erzeugt noch mit Genauigkeit prognostiziert werden.

Gleichzeitig und zweitens kann der Unterricht trotz dieser Kluft aber nicht den Anspruch aufgeben, die Wissensaneignung der Schüler/innen zu beeinflussen und zu kontrollieren. Dem Beobachtungsschema des Unterrichts – unabhängig davon wie eng man dieses fasst – ist die Prämisse unterlegt, dass es in der Schule um die Vermittlung bestimmten Wissens geht. Dass Schule und Unterricht auch andere Wirkungen erzeugen als die pädagogisch intendierten, ist unstrittig. Zum Vermittlungsproblem wird die Wirkungsunsicherheit aber nur auf der Folie der pädagogischen Erwartung, dass Unterricht durch die Auseinandersetzung mit seinen Themen zur Entwicklung des Schülerwissens und damit zusammenhängender kognitiver und moralischer Verhaltensprämissen beiträgt.

Die nachfolgenden Überlegungen gehen davon aus, dass die bisherigen Lösungsmodellierungen für das Vermittlungsproblem des Unterrichts Leerstellen aufweisen. Diese betreffen insbesondere zwei Aspekte:

(1) Die verkürzte Modellierung der Differenz von Wissensvermittlung und Wissensaneignung hängt offensichtlich mit einer lernpsychologisch enggeführten Herkunft von Unterrichtsbeschreibungen aus einer stark individuumszentrierten Forschungstradition zusammen (vgl. Klieme/Reusser 2003). In der Tat beschreibt Lernen eine unhintergehbar individuelle Operation, die einem von Niemandem stellvertretend abgenommen werden kann. Wissensvermittlung und Wissensaneignung im Unterricht dagegen beschreiben konstitutiv soziale Prozesse. Das Medium, in dem die Differenz von Vermittlung und Aneignung bearbeitet wird, ist entsprechend Kommunikation. In diesem Sinne hätten theoretische Lösungsmodellierungen für das Vermittlungsproblem gerade dieser kommunikativen Struktur der unterrichtlichen Herstellung, Infragestellung und Bestätigung von Wissen Rechnung zu tragen.

(2) Unbefriedigend erscheint darüber hinaus die Modellierung von Zeit im Zusammenhang der Wirkungserwartungen. Die im Gefolge der (vermeintlich schlechten Ergebnisse) der Schulleistungsstudien (PISA etc.) implementierten Forschungsprogramme zur Unterrichtsqualität (vgl. Klieme 2006) konstruieren Unterrichtswirksamkeit, d. h. die Überbrückung der Differenz von Wissensvermittlung und Wissensaneignung, im Modus eines kurzfristigen Zusammenhangs von unterrichtlichen Lerngelegenheiten und deren Nutzung durch die Schüler, z.B. wenn einer spezifischen Lehrerinnennachfrage unmittelbar eine kognitiv anspruchsvolle Antwort eines Schülers folgt. Solche situativ feststellbaren Zusammenhänge werden dann hochgerechnet zu aggregierten Wahrscheinlichkeiten, die von der zeitlichen Kontextuiertheit der Geschehnisse im Klassenzimmer abstrahieren.

Mit diesen Leerstellen sind zwei Desiderata einer alternativen Modellierung unterrichtlicher Wissensvermittlung benannt: Wissensvermittlung und deren Wirkungserzeugung wäre erstens als ein sozialer Prozess der Wissensthematisierung und Wissensdarstellung zu beschreiben. Und zweitens hätte ein solches Alternativmodell die Zeitdimension unterrichtlicher Wissenskommunikation und deren Wirkungen im Spannungsfeld von Vergänglichkeit und Dauer anders zu gewichten.

Um der sozialen Dynamik und zeitlichen Flüchtigkeit der unterrichtlichen Wissenskommunikation näher zu kommen, greift der nachfolgende Beitrag zunächst in interdisziplinärer Perspektive eine Diskussion auf, die in neueren kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen um das Konzept des sozialen Gedächtnisses geführt wird. In diesem Konzept fungieren Zeit, Sozialität und Wissen als Schlüsselkategorien. Entsprechend werden zentrale Annahmen, Modelle und Befunde der Gedächtnisforschung analysiert, um auszuloten, was die erziehungswissenschaftliche Rede über Unterricht gewinnt, wenn sie die Analyse der Vermittlungsproblematik mit einer anderen theoretischen Prämisse beginnt. Die unterrichtliche Kommunikation von Wissen lässt sich dann mit Verweis auf das soziale Gedächtnis der Schulklasse als ein genuin sozialer Mechanismus im Medium mündlicher Thematisierung und schriftlicher Darstellung verstehen. Die Umstellung auf Gedächtnis im Sinne wissensbezogener Ordnungsbildung hat Folgen. Unterricht bedient sich fixierender Wissensdarstellungen ebenso wie es auf Wissensfiktionen im sozialen Gedächtnis der Schulklasse angewiesen bleibt.

2. Das Konzept des sozialen Gedächtnisses

Ausgehend von der Vermutung, dass dem Gedächtnis für die Beantwortung der Frage, wie Unterricht Wirkungen erzeugt, zentrale Bedeutung zukommen könnte, sollen nachfolgend zunächst Eckpunkte des Gedächtniskonzeptes skizziert werden. Die Gedächtnisforschung ist in den letzten 20 Jahren zu einer hoch interdisziplinären Veranstaltung unter Beteiligung der Kognitionswissenschaften (vgl. Schacter 1996), der Neurobiologie (vgl. Damasio 1997), der Kulturwissenschaften (vgl. J. Assmann 1988; A. Assmann 1992; Welzer 2002) und der Soziologie (vgl. Esposito 2002) geworden (vgl. als Überblick Schmidt 1991). Eine zentrale Kontroverse in diesem Forschungsfeld kreist um die Frage, ob das Gedächtnis als Speichermedium oder als Repräsentationsmedium zu konzipieren ist. Während das traditionelle Modell des Gedächtnisspeichers mit der Vorstellung arbeitet, Wissen werde in einem bestimmten Bereich des Gehirns abgelegt und könne von dort über die richtigen Befehle bei Bedarf identisch wieder abgerufen werden, haben Kognitionsforscher wie David Schacter (1996) das Gedächtnis als ein »constructive memory framework« beschrieben. In diesem wird Wissen nicht einfach abgespeichert, sondern in Form multimodaler mentaler Repräsentationen selektiv interpretiert. Folgt man gängigen Ordnungsversuchen, lassen sich formal vier Gedächtnistypen unterscheiden, mit denen sich der Gehalt dieser Erinnerungsrepräsentationen präzisieren lässt (Welzer 2002, S. 24ff.):

• Erlebnisse werden im episodisch-deklarativen Gedächtnis verarbeitet. Ihre Erinnerung und Tradierung hängt in hohem Maße von der Einbindung in soziale Gruppen und Gemeinschaften ab.
• Das semantisch-deklarative Gedächtnis ist die Instanz, die es Menschen ermöglicht, ihr Wissen über die Welt aufzubauen.
• Dagegen werden im prozedural-impliziten Gedächtnis diejenigen Regeln, Normen, Scripts und Technologien verfügbar gehalten, die man zwangsläufig benutzt, wenn man kommuniziert.
• Als ›Priming‹ wird ein Gedächtnistyp bezeichnet, der die elementare Prägung von Personen im Sinne grundlegender Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte meint.
Während das deklarative Gedächtnis Wissen verarbeitet, das reflexiv zugänglich ist, enthält das implizite Gedächtnis die unbewussten, jeder individuellen Steuerung entzogenen Erinnerungsgehalte. Neben der Differenzierung der Erinnerungsinhalte ist deutlich erkennbar, dass sich diese Typologie an den kognitiven Prozessen des Individuums orientiert. Diese Referenz wird aber spätestens dann problematisch, wenn man nach der Spezifik des Gedächtnisses sozialer Kollektive fragt.

Das soziale Gedächtnis ist das Thema einer Reihe kultur- und sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die im deutschsprachigen Raum vor allem mit den Namen Aleida und Jan Assmann, Harald Welzer oder Elena Esposito verbunden sind. In der Regel schließen diese an das Konzept des kollektiven Gedächtnisses des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1925, 1991) an. Sie zielen dabei darauf, seine Perspektive auf die cadres sociaux de la memoire weiter zu entwickeln. Entsprechend lautet bei Aleida Assmann die Frage nicht mehr, ob es ein Gedächtnis in sozialen Gruppen gebe; das war das Thema von Halbwachs. Sie interessiert sich vielmehr für die Frage, ob es auch ein Gedächtnis von Gruppen gebe und wie dieses dann zu konzipieren wäre (vgl. Assmann 1992, S. 132). Voraussetzung für ein solches Konzept sei es, sich von der Vorstellung zu verabschieden, das soziale Gedächtnis müsse eine organische Basis haben. Dies impliziert auch, dass kognitive oder neurobiologische Modelle für die Beschreibung des Gedächtnisses sozialer Systeme ausscheiden. Materieller Kern eines sozialen Gedächtnisses können nur Symbole und Zeichen sein. Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der Semantik einer Gesellschaft, die er als »das gleichsam offizielle Gedächtnis der Gesellschaft« begreift (1997, S. 627).

Dieser sozial geteilte Wissenshaushalt einer Gesellschaft kann analytisch unterschieden werden in das kommunikative Gedächtnis und in das kulturelle Gedächtnis. Jan Assmann versteht das kulturelle Gedächtnis als »Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht« (Assmann 1988, S. 9). Man kann mit Bezug auf das kulturelle Gedächtnis auch vom kanonisierten Wissen einer Gesellschaft sprechen. Das kommunikative Gedächtnis ist dagegen durch ein deutlich höheres Maß an »thematischer Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit« geprägt (ebd.). Sein Ort, so Assmann weiter, ist die kommunikative Praxis von Gruppen, die vergangenes Wissen vergegenwärtigen. Während man das kulturelle Gedächtnis als »geronnenen Aggregatzustand« des Wissenshaushaltes einer Gesellschaft begreifen kann, besteht die zentrale Eigenschaft des kommunikativen Gedächtnisses in seiner »Flüssigkeit« (Welzer 2002, S. 221). Den Übergang zwischen beiden Gedächtnisformen bilden Prozesse kultureller Fixierung und Verfestigung. Sie gehen erstens mit der Organisiertheit von Kommunikation einher und sind zweitens gebunden an Rituale und Zeremonien.

Was leistet das soziale Gedächtnis für soziale Gruppen bzw. soziale Systeme? Worin besteht seine Aufgabe? Sozial vermittelte Erinnerung erfüllt regelmäßig eine wichtige Aufgabe in der Distinktion, Identitäts- und Gemeinschaftsbildung von sozialen Gruppen (vgl. Assmann 1992). Harald Welzer kommt in seinen Untersuchungen zum sozialen Gedächtnis der Familie zu dem Ergebnis, dass seine Funktion primär darin besteht, die soziale Identität dieser Wir-Gruppe zu bestätigen. Das Familiengedächtnis hat insofern eine synthetisierende Funktion. Es »(stellt) die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft Familie gerade dadurch sicher( ), dass alle Beteiligten von der Fiktion ausgehen, sie würden über dasselbe sprechen und sich an dasselbe erinnern« (Welzer 2002, S. 151). In dieser auf der Wiederholung von Erzählungen beruhenden Erinnerungspraxis wird, so Welzer, ein »Fiktionsvertrag« über die kanonisierte eigene Familiengeschichte geschlossen. Damit wird eine zweite zentrale Leistung des soziales Gedächtnisses sichtbar: Es stattet Wissen mit Legitimation und Wahrheitsansprüchen aus.

Vier Punkte lassen sich nach diesem kursorischen Blick auf die Gedächtnisforschung als heuristische Prämissen für die Frage des Unterrichtsgedächtnisses festhalten:

(1) Beim Erinnern handelt es sich nicht um das identische Kopieren bestimmter Wissensinhalte aus einem unveränderlichen Wissensspeicher, sondern um die selektive Erzeugung von Wissensrepräsentationen.
(2) Diese Wissensrepräsentationen können danach unterschieden werden, ob es sich um deklarativ-bewusste oder implizite-prozedurale handelt.
(3) Das soziale Gedächtnis ist eine Form der Selbstbeobachtung des Wissenshaushaltes einer Gruppe oder eines Systems. Dieser semantische Vorrat differenziert sich aus in ein kulturelles Gedächtnis, in dem das kanonisierte Wissen einer Gesellschaft aufbewahrt wird, und in ein kommunikatives Gedächtnis, in dem regelmäßig neu ausgehandelt wird, welches Wissen in welcher Bedeutung situations- und kontextbezogen soziale Gültigkeit beanspruchen kann.
(4) Jedes soziale Gedächtnis erfüllt spezifische Funktionen. Diese sind zum einen bezogen auf die soziale Kohäsion des jeweiligen Erinnerungssystems, zum anderen auf die Wissensrepräsentationen des jeweiligen Systems.
Vor dem Hintergrund der disziplinübergreifenden Bedeutung des Gedächtnisparadigmas für das Verständnis von Prozessen der Gruppenbildung wie auch der Kultur- und Wissenstradierung wirkt es zunächst überraschend, dass das Konzept des sozialen Gedächtnisses in der Beschreibung von Unterricht bislang kaum Resonanz erzeugt hat. Bis auf wenige Ausnahmen spielt der Gedächtnisbegriff weder für die Analyse pädagogischer Lehr-Lern-Gemeinschaften noch für die unterrichtliche Thematisierung und Darstellung von Wissen eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die eben resümierten Überlegungen der Gedächtnisforschung aufzunehmen und die Frage zu stellen, wie diese von der Unterrichtsforschung für die Analyse der unterrichtlichen Wissenskommunikation und der damit einhergehenden Vermittlungsproblematik genutzt werden können.

3. Das soziale Gedächtnis der Schulklasse I: Kommunikation und Verfestigung von Wissen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Fragt man zunächst nach dem gesellschaftlichen Ort der unterrichtlichen Wissenskommunikation so kann die Vermutung aufgestellt werden, dass Schule an der Schnittstelle zwischen dem kommunikativem und dem kulturellem Gedächtnis einer Gesellschaft operiert. Das in der öffentlichen Schule prozessierte Wissen ist zunächst in hohem Maße auf das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft bezogen. Im Unterricht begegnen Schüler/innen regelmäßig dem Wissenskanon einer Gesellschaft – und das sowohl auf der thematischen Ebene als auch im erwarteten Umgang mit diesem Wissen (vgl. Diederich/Tenorth 1997, S. 93f.). Mehrere Stufen eines organisierten Zertifizierungsprozesses bezeugen, dass das über curriculare Festlegungen sowie Schulbücher/Arbeitsmaterialien in die Schule eingebrachte Wissen eine gewisse kulturelle Festigkeit auszeichnet. Jenseits ihres eigenen Wissens bekommen es die Schüler/innen in der Schule also mit einem Wissen zu tun, das gesellschaftlich als legitim und bedeutsam gilt.

Gleichzeitig ist der schulische Unterricht aber auch der Ort, in dem solch legitimes und bedeutsames Wissen immer wieder neu zur Aneignung ansteht. Lehrer wie Schüler partizipieren in der Schulklasse nicht nur an der Darstellung von Wissen. Die Thematisierung von Phänomenen, Ereignissen und Zusammenhängen unter Bedingungen von Interaktion erzeugt vielmehr regelmäßig Situationen, in denen die Bedeutung des Wissens für die Schüler/innen als Repräsentanten der nachwachsenden Generation diskursiv ausgehandelt wird. In diesem Sinne wäre schulischer Unterricht Teil kommunikativen Gedächtnisses der Gesellschaft. Da Aneignung durch die Schüler/innen im Unterricht nur interaktionsbasiert erfolgen kann, Interaktionen aber aufgrund ihrer Dynamik eine konstitutive Offenheit aufweisen, zeichnet diese diskursive Aushandlung von Wissen durch eine relative Flüchtigkeit aus.

Im nächsten Schritt ist deshalb zu fragen, wie es dem Unterricht unter diesen Bedingungen gelingt, Wissen auf Seiten der Schüler/innen zu verfestigen. Worin bestehen die kommunikativen Operationen des Unterrichtsgedächtnisses, die zu einer Verfestigung von Wissen beitragen können? Wie konstituiert sich das Unterrichtsgedächtnis als kommunikative Instanz, in dem sozial valorisiertes Wissen im Gespräch zwischen Lehrern und Schülern interpretiert, ausgehandelt, verfestigt und in genau diesem Sinne erinnert wird?

Begreift man Unterricht wie vorgeschlagen als Ort der Thematisierung und Darstellung von Wissen sind in kommunikationstheoretischer Perspektive zwei Formen der Medialität der Wissenskommunikation zu unterscheiden: Erstens geht es um die Thematisierung von Wissen im Medium mündlicher Darstellung, d.h. im Medium des Unterrichtsgespräches zwischen Lehrern und Schülern. Zweitens geht es um die Thematisierung von Wissen im Medium von Schriftlichkeit, die der Unterricht besonders in Form von Tafelanschrieben, aber auch über Formate wie das Schulheft oder das Lerntagebuch nutzt.

Um das mündliche Gespräch zwischen Lehrern und Schülern im Hinblick auf die Verfestigung von Wissen im sozialen Gedächtnis der Schulklasse analysieren zu können, muss man sich zunächst ein grundlegendes Strukturmerkmal des Unterrichtsgespräches vergegenwärtigen. Auf der Basis einer gleichzeitig asymmetrischen wie reziproken Rederechtsordnung etabliert sich im Unterricht eine dreistellige Sequenz von Lehrerfrage, Schülerantwort und anschließender kommentierender Bewertung des Schülerbeitrages wiederum durch die Lehrperson (vgl. Sinclair/Coulthardt 1975, Mehan 1979). Die entscheidende Weichenstellung für die Etablierung dieses Gesprächsmusters setzt die Lehrerfrage, bei der es sich nicht um eine ›echte‹ Frage handelt, denn dann könnte das Gespräch nach der Antwort des Befragten mit einer Höflichkeitsformel beendet werden. Die Funktion der Lehrerfrage besteht vielmehr darin, zunächst die Aufmerksamkeit der Klasse auf den Gesprächsgegenstand, d.h. auf das zur Aneignung anstehende Unterrichtswissen zu lenken. Dann zielt sie darauf, das (Vor-)Wissen der Schüler/innen auf die kommunikativ ›sichtbare‹ Seite des Unterrichts zu ›ziehen‹, um dadurch das Gespräch zu stimulieren und eine klassenöffentliche Thematisierung des Unterrichtsstoffes zu inszenieren. Erreichen will der Unterricht ja nicht nur die ›Drankommenden‹, sondern die gesamte Klasse, also auch die Schüler/innen, die nicht qua mündlicher Beiträge am Unterrichtsgespräch partizipieren, sondern als ›bloß‹ zuhörende Teilnehmer. Weil diese klassenöffentliche Thematisierung von Wissen jedoch genau mit den aus der Differenz von Vermittlung und Aneignung resultierenden Unsicherheiten belastet ist, kommt der dritten Sequenzstelle im Unterrichtsgespräch eine entscheidende Bedeutung zu. Mit der kommentierenden Bewertung der Schülerantwort verfügt die mündliche Unterrichtsinteraktion über einen Mechanismus, der klassenöffentlich sicherstellen soll, dass richtiges Wissen im Gedächtnis der Klasse ›hängen‹ bleibt.

Drei kommunikative Einzeloperationen spielen für diesen mündlichen Versuch der Verfestigung von Wissen im sozialen Gedächtnis der Schulklasse eine entscheidende Rolle: Bedeutungsbestätigung/Abweichungsmarkierung, Relevanzmarkierung und Wiederholung.

• Die zentrale Operation zur unterrichtlichen Wissensfixierung, die exklusiv an der dritten, evaluierenden Sequenzstelle auftritt, ist die Bedeutungsbestätigung. Sie reagiert auf die Mehrdeutigkeit sinnvermittelter Interaktionsprozesse, die im Unterricht den Lehrer regelmäßig dazu nötigt, bestimmte Bedeutungsanschlüsse der Schüler eigens hervorzuheben und als richtig festzuhalten. Die Kehrseite solcher Bedeutungsbestätigungen ist die kommunikative Markierung von Abweichung, mit der immer auch klassenöffentlich deutlich gemacht wird, worin das zu wissende Wissen des Unterrichts gerade nicht besteht. • Eng verwoben mit Bedeutungsbestätigungen sind unterrichtliche Relevanzmarkierungen. Wissensfixierung im sozialen Gedächtnis der Schulklasse setzt dort ein, wo im Unterrichtsgespräch Interpunktionen so gesetzt werden, dass den Schülern deutlich werden kann, bei dieser Antwort handelt es sich jetzt um einen wichtigen Beitrag. Mit solchen Relevanzmarkierungen kann der Lehrer auf den in Unterrichtsgesprächen ständig produzierten Sinnüberschuss reagieren. Immer gibt es Schülerbeiträge, die ›eigentlich‹ etwas Richtiges enthalten, das entweder gerade in diesem Moment zeitlich nicht passt oder sachlich eine Wissensdimension an der verhandelten Sache streift, die zwar dazugehört, aber den Prozess der Wissensfokussierung stört. Hier muss sich die unterrichtliche Wissenskommunikation auf Selektivitäten verlassen, wie sie der Lehrer in Relevanzmarkierungen zum Ausdruck bringt. Die Selektivität solcher Relevanzmarkierungen im Fluss des Unterrichtsgespräches hat als ihre unausweichliche Kehrseite das Vergessen. Wenn etwas Bestimmtes zu merken ist, heißt das im Unterricht im Umkehrschluss notwendigerweise, das anderes vergessen werden kann bzw. schärfer formuliert: vergessen werden muss.
• Als weitere unterrichtliche Operation der Wissensfixierung kann die Wiederholung angesehen werden. Wiederholung ist nicht notwendigerweise an die dritte Sequenzstelle des Unterrichtsgespräches gebunden. Sie ist vielmehr eine mündliche Operation im Übergang zwischen einzelnen Wissensthematisierungen. Sie kann zum einen als einer Lehrerfrage vorgeschaltet beobachtet werden. Dann erinnert sie an die Wissensbasis, die bereits ›erarbeitet‹ wurde, um sich nun auf dieser Grundlage neuem Wissen zuzuwenden. Sie kann aber auch als Abschluss der Sequenz eingesetzt werden. In diesem Fall dient sie als Ergänzung der kommentierenden Bewertung dazu, das zu wissende Wissen im sozialen Gedächtnis der Schulklasse qua Übung kommunikativ zu verankern. In jedem Fall bedeutet Wiederholung, dass der Unterricht darauf vertraut, seine Wirkungen durch die wiederkehrende Behandlung eines Themas zu erzeugen. In diesem Sinne gewinnt Zeit eine entscheidende Bedeutung.

Diese drei Operationen zeigen, dass die mündlichen Versuche der unterrichtlichen Wissensfixierung auf einer Art rekursiver Koppelung beruhen. Bedeutungsbestätigung/Abweichungsmarkierung, Relevanzmarkierung und Wiederholung tragen zur Etablierung des Unterrichtsgedächtnisses bei, insofern in ihnen deutlich selbstreflexive Bezüge auf die in Lehrerfrage und Schülerantwort artikulierte thematische Dimension, d. h. auf das Wissen des Unterrichts enthalten sind. Für alle drei Operationen gilt jedoch auch, dass sie als mündliche Kommunikation nur begrenzt in der Lage sind, Unterrichtswissen unter den Bedingungen vergessensempfindlicher Interaktion erinnerungsfest machen zu können.

Vor diesem Hintergrund kann der Übergang zu Schriftlichkeit in der unterrichtlichen Wissenskommunikation als Versuch verstanden werden, der Flüchtigkeit mündlicher Interaktion entgegen zu wirken und den Prozess der Verfestigung und Verdauerung des Unterrichtswissens voranzutreiben. Der Tafelanschrieb, die Projizierung von Wissensdarstellungen (Schaubilder, Karten, Modelle etc.) an Leinwände und Whiteboards oder die Herstellung von Schülertexten in Form von Hefteintragungen oder Lerntagebüchern sind schriftbasierte Techniken der unterrichtlichen Wissenskommunikation, denen eine spezifische, wissensverfestigende Performativität zu Eigen ist. In ihrem Aufführungscharakter – klassenöffentlich wird der Unterrichtsstoff sichtbar zur Darstellung gebracht – bezeugen sie das zu erinnernde Wissen des Unterrichts. Für alle Beteiligten ist klar, was die Frage (›Müssen wir das abschreiben?‹) oder die Aufforderung (›Notiert Euch das!‹) bedeutet: die Festlegung von Mindestanforderungen an das zu wissende Unterrichtswissens. Gegen die Performativität des Tafelanschriebes oder der Folie können Schüler/innen im Nachhinein nicht die Entschuldigung geltend machen: ›Das haben wir doch gar nicht wissen können‹. Schriftliche Techniken der Wissenskommunikation stellen in diesem Sinne für den Unterricht eine Ressource dar, mit der das Unterrichtswissen vergessensresistenter und auf Kontinuität eingestellt wird. [Niklas Luhmann (2000, S. 417ff.) hat darauf hingewiesen, dass Texte das Gedächtnis von Organisationen bilden. Ohne Texte, d.h. ohne Schriftlichkeit blieben Organisationen auf unsichere psychische Wahrnehmungs- und flüchtige soziale Interaktionsleistungen angewiesen.]

4. Das soziale Gedächtnis der Schulklasse II: Die Installierung von Wissensfiktionen als Bedingung für den Fortgang unterrichtlicher Wissenskommunikation

Die Frage, was das soziale Gedächtnis der Schulklasse für den Unterricht leistet, hat nach den bisherigen Ausführungen zwei Ausgangspunkte: Einerseits die interaktionsbasierte Flüchtigkeit unterrichtlicher Wissenskommunikation, andererseits die Versuche, auf der Basis mündlicher und schriftlicher Techniken der Thematisierung und Darstellung von Wissen dieses Wissen dennoch bei den Schülern im Unterricht zu verfestigen.

Folgt man den Überlegungen von Elena Espositos (2002) besteht eine wichtige Funktion sozialer Gedächtnisse darin, Redundanz zu erzeugen. Redundanz entlaste soziale Systeme davon, immer wieder neu Anfangspunkte für ihre Interventionen zu finden. Soziale Gedächtnisse organisieren die Kommunikation von Wissen dadurch, dass sie bestimmtes Wissen als bekannt unterstellen. Diese Wissensunterstellung ist jedoch in ihrem thematischen Gehalt keineswegs etwas Festes oder gar Unveränderbares. Im Gegenteil: Sie gewinnt ihre Bedeutung nur aus einem strikten Gegenwartsbezug. Das soziale Gedächtnis eines sozialen Systems überprüft ständig die Kohärenz der eigenen Wissenserwartungen. Andernfalls, das heißt bei offensichtlicher Nicht-Passung, würden diese Wissensunterstellungen schnell dysfunktional.

Wenn man diesen Gedanken Espositos für die Beschreibung unterrichtlicher Wissenskommunikation aufnimmt, dann lässt sich folgende Hypothese formulieren: Eine wichtige Funktion des sozialen Gedächtnisses der Schulklasse besteht darin, eine strikt gegenwartsbezogene Wissensfiktion im System zu installieren. Der Begriff Wissensfiktion bedeutet nicht, dass sachlich haltloses oder willkürliches Wissen im Unterrichtsgespräch zirkuliert. Er macht vielmehr darauf aufmerksam, wie fragil die Annahme ist, dass Wissensbedeutungen über einen kontinuierlichen Zeitraum im Unterricht sozial geteilt würden.

Harald Welzer hatte den Begriff des Fiktionsvertrages eingeführt, um zu erklären, wie Familienangehörige die Vorstellung kreieren, sie würden über dasselbe sprechen, obwohl sie gänzlich entgegengesetzte Perspektiven auf die Geschichte ihrer Familie haben. Etwas Äquivalentes kann in Bezug auf den Unterricht vermutet werden. Auch hier gibt es einen Fiktionsvertrag. Dieser zielt aber nicht wie im Falle des Familiengedächtnisses zuallererst darauf, die Schulklasse als Wir-Gruppe zu bestätigen. Diese identitätsversichernde Funktion läuft sicherlich im Unterricht immer mit, denn Gemeinschaft ist eine der zentralen Ressourcen, mit der die schulische Erziehung arbeitet, um ihre Absichten zu realisieren. Der spezifische ›Fiktionsvertrag‹ im Unterricht besteht in lernbezogener Sicht vielmehr darin, so tun zu können, als ob bestimmtes Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ›jetzt‹, als kollektiv verstanden und gelernt behandelt werden könnte. Wenn im Unterricht eine frühere Episode erinnert, ein kognitiver Zusammenhang wiederholt oder eine merkenswerte Lösung entweder im Gespräch markiert oder an der Tafel festgehalten wird, dann gehen Lehrer wie Schüler bis zum expliziten Widerruf davon aus, dass sie in diesen Momenten über ein und dasselbe Wissen sprechen. Gingen sie nicht von dieser Unterstellung aus, bekäme das Unterrichtsgespräch sofort Probleme. Es wäre nicht mehr klar, von welchem Wissen Vermittlungsbemühungen ihren weiteren Fortgang nehmen könnten. Ebenso geriete die nicht aufgebbare Zielorientierung des Unterrichts in Gefahr, da erst langwierige Aushandlungen darüber beginnen müssten, was genau mit einer bestimmten Lösung gemeint sei.

Die Notwendigkeit von Wissensfiktionen für den reibungslosen Fortgang des Unterrichtsgespräches bedeutet jedoch nicht, dass kommunikationsintensive Aushandlungsprozesse im Unterricht nicht vorkommen. Im Gegenteil: Aushandlung sorgt für die Anpassung der Wissensfiktion an den Verlauf und die Entwicklung von Unterrichtsdiskursen. Aus der Perspektive des sozialen Systems Unterricht ist entscheidend, dass die Beobachtung der im Unterricht stattfindenden Aushandlungsprozesse immer zur Neuinstallierung einer kollektiv geteilten Wissensfiktion führt, die sich dann etwa im Tafelbild symbolisch materialisiert. Von dieser können die folgenden Operationen des Systems ihren Ausgang nehmen.

5. Hinweise zur empirischen Aufklärungsreichweite des Gedächtniskonzeptes für die Analyse unterrichtlicher Kommunikation von Wissen

Zumindest kursorisch soll der Versuch gemacht werden, empirische Evidenzen des hier vorgestellten Gedächtniskonzeptes anhand von vorliegenden Studien zur Unterrichtskommunikation anzudeuten. Dies geschieht zum einen mit Blick auf die formale Struktur der Unterrichtskommunikation und deren Bedeutung für den Erwerb von Wissen. Zum anderen werde ich die Frage aufgreifen, wie domänenspezifische Erwartungen im Bereich der schulischen Vermittlung politisch-moralischen Wissens wirksam gemacht werden.

Die Untersuchungen von Manfred Lüders (2003) und Peggy Richert (2005) belegen trotz klassenstufen- und fachspezifischer Besonderheiten nicht nur die Dauerhaftigkeit des bereits erläuterten Grundmusters der Unterrichtsinteraktion, das aus den Grundelementen Lehrerfrage/Eröffnung, Schülerantwort und Feedback/Bewertung besteht und sich der unterrichtlichen Kommunikation von Wissen aufprägt. Beide Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass insbesondere die an der dritten Sequenzstelle lokalisierte Operation des Feedbacks bzw. der Bewertung eine zentrale Funktion für Lehr-Lern-Prozesse in der Schulklasse zukommt: nämlich die kommunikative Markierung des im Unterricht zu wissenden Wissens. Diese Bedeutungsbestätigung ist eine zentrale Voraussetzung für die Ermöglichung von Lernen im Unterrichtsgespräch. Entsprechend, so Peggy Richert, wird das Feedback von Lehrern vor allem genutzt, um den Schüler zu verdeutlichen, wie diese ihre »Denk- und Verstehensprozess(e) bei so genannten ›richtigen‹ Gedanken« fortsetzen können, um so den konstruktiven Fortgang des Unterrichtsgespräches zu sichern (2005, S. 167, Herv. M.P.). Manfred Lüders wiederum interpretiert die Dauerhaftigkeit des Grundmodells von Frage-Antwort-Feedback auch in Unterrichtssettings, in denen die Gruppen-, Partner- oder Einzelarbeit stattfand, als »Indiz für die Unverzichtbarkeit des Unterrichtsgespräches« (Lüders 2003, S. 263). Dieses sei konstitutiv für den Unterrichtserfolg, weil nur das Unterrichtsgespräch es ermögliche, ein »auf die Klassenöffentlichkeit bezogene(s) gemeinsam geteilte(s) Sinnverstehen« überhaupt hervorzubringen (ebd.). Genau auf diese kommunikative Arbeit von Schüler/innen und Lehrkräften am kollektiv geteilten Wissen bezieht sich das hier vorgeschlagene Konzept des Unterrichtsgedächtnisses.

Hinsichtlich der Frage, was das Unterrichtsgedächtnis themenbezogen und damit wissensdomänenspezifisch leistet, kann auf Befunde aus einer eigenen Untersuchung über die Problematik der schulischen Vermittlung politisch-moralischen Wissens verwiesen werden (vgl. Meseth/Proske/Radtke 2011; 2012). Die Studie untersucht die unterrichtliche Thematisierung und Darstellung von Wissen in den Themenfeldern Nationalsozialismus/Holocaust und Einwanderungsgesellschaft/Rassismus. [Die Studie ist als in-situ Untersuchung angelegt, d. h., der tatsächliche Verlauf der Kommunikation ist Gegenstand der Analyse. Auf der Basis von Beobachtungsprotokollen und Audioaufnahmen ist die Kommunikation an diesen Orten zunächst über Gesprächsinventare thematisch geordnet worden, um dann ausgewählte Stunden bzw. Passagen sequenzanalytisch zu rekonstruieren.] Die empirischen Befunde unseres Projektes legen die Deutung nahe, dass die unterrichtliche Kommunikation von Wissen und dass dabei genutzte soziale Gedächtnis der Schulklasse, zumindest in der Domäne politisch-moralischen Wissens, darauf spezialisiert ist, prozedural-implizite Rahmungen von Themen zu vermitteln. Die Schüler/innen in den von uns beobachteten settings wissen z.B. sehr genau, dass der Nationalsozialismus politisch und moralisch zu verurteilen ist und dass dieses Thema eine Kernfrage der politischen Identität als Staatsbürger/in der Bundesrepublik darstellt. Die Unterrichtskommunikation ist mit einem eindeutigen politisch-moralischen Marker ausgestattet, um einen Begriff von Antonio Damasio (1997) auszuleihen. Die Schüler/innen wissen zudem, dass bei diesem Thema eine spezifische Ordnung des Sprechens existiert, an der man sich orientiert, auch oder gerade dann, wenn man sie im Unterricht situativ durch Provokationen oder Ironisierungen in Frage stellt. Aufschlussreich ist darüber hinaus, dass im Unterricht explizite erzieherische Interventionen unsichtbar bleiben solange themenbezogen kommuniziert wird. Im Unterricht über die Themen Nationalsozialismus oder Rassismus wird moralpädagogische Kommunikation vermieden, die direkt, dass heißt, personenbezogen auf die moralischen Überzeugungen der Schüler/innen zielt. Wenn man daran festhält, dass Unterricht etwas mit der Ermöglichung und Beeinflussung von Lernprozessen und in diesem Sinne mit Erziehung zu tun hat, dann stellt sich die Frage, wie sich diese Beeinflussung so vollzieht, dass konfrontative Zugriffe auf die moralische Autonomie der Heranwachsenden ebenso vermieden werden wie deren persönliche Beschämung. Empirisch zeigt sich in unseren Unterrichtsanalysen, dass zwar personenbezogene moralpädagogische Interventionen unterbleiben, dass aber regelmäßig über Moral kommuniziert wird, insofern an die politisch-moralische Bedeutung des Themas erinnert wird und das sowohl von den Schüler/innen wie auch den Lehrpersonen. Diese kommunikative Markierung bestimmter moralisch-politischer Erwartungen lässt sich als soziale Gedächtnisleistung des Unterrichtssystems deuten, insofern hier wiederkehrend an der sozialen Etablierung dieser Erwartungen qua Wissensdarstellung gearbeitet und gleichzeitig auf die Wirkung bei den Schülern/innen vertraut wird. Das Unterrichtssystem setzt offenbar auf Zeit und einen sich durch Wiederholung und Markierung verfestigenden Wissensaufbau. Damit entlastet es sich davon, direkt personenbezogen moralisch zu erziehen, zumindest dann, wenn es um mehr geht, als um die Disziplinierung der Verhaltensweisen der Schüler/innen als Mitglieder der Organisation Schule.

6. Gedächtnis, Zeit und Wissen. Oder wie wird die Kommunikation von Wissen im Unterricht wirksam?

Wenn man in einem kurzen Resümee den Versuch unternimmt, das Wirkungsmodell zusammenzufassen, das aus dem hier diskutierten wissens- und gedächtnistheoretischen Konzept unterrichtlicher Kommunikation folgt, dann kann man sich auf zwei Aspekte konzentrieren: Wissen und Zeit.

Im Unterricht wird die interaktionsbasierte Vermittlungsproblematik zunächst durch mündliche und schriftliche Techniken der Wissensthematisierung und Wissensdarstellung bearbeitet, die dazu dienen, das Wissen in der Schulklasse kollektiv zugänglich und erinnerungsfest zu machen. Darüber hinaus arbeitet das soziale Gedächtnis der Schulklasse mit Wissensfiktionen. Mit diesen werden im Unterricht die Vermittlungs- und Aneignungsprozesse von Lehrern und Schülern beobachtet, um immer wieder neu den Fortgang des Unterrichtsgespräches zu sichern, ohne sich in Endlosschleifen von Bedeutungsvergewisserungen zu verlieren. Das soziale Gedächtnis der Schulklasse ist über diese Wissensfiktionen plastisch genug, um kommunikative Aushandlungsprozesse im Klassenzimmer aufzugreifen und für neu ansetzende Vermittlungsprozesse zu nutzen. Gleichzeitig ist das soziale Gedächtnis der Schulklasse beeinflussend genug, um über die unterrichtliche Markierung, Sichtbarmachung, Bestätigung und Wiederholung von Wissen Halte- und Orientierungspunkte für die Schüler/innen zu liefern. Wissensthematisierung, Wissensdarstellung und Wissensunterstellung sind in diesem Sinne die Operationen, die der unterrichtlichen Kommunikation von Wissen Struktur verleihen – und zwar jenseits des ›Goldstandards‹ dauerhaften, sicheren und unverbrüchlichen Wissens (vgl. Kade/Seitter 2003).

Anders als die Unterrichtsqualitätsforschung optiert das Konzept der unterrichtlichen Kommunikation von Wissen zweitens für einen zeitlich deutlich längerfristigen Wirkungshorizont. Die Erzeugung lernrelevanter Bedeutsamkeiten auf Seiten der Schüler wird erwartet von der wiederholten Auseinandersetzung mit dem kanonisierten Wissen einer Gesellschaft. John Dewey hat hierfür den Begriff continuity stark gemacht, der Lernen an die Verknüpfung mit bereits gemachten und noch kommenden Erfahrungen bindet (vgl. Bellmann 2007, S. 426f.). Im Unterschied zum modernen Informationsgedächtnis der Gesellschaft, in dem es um Neuigkeit und Überraschung geht, geht es im Unterricht in diesem Sinne primär um etwas, das Jan Assmann als »Rumination« bezeichnet (2002, S. 411), nämlich um das regelmäßige ›Wiederkäuen‹ offiziell zertifizierten und damit bereits bekannten Wissens.

Das Konzept Kommunikation von Wissen greift nicht nur das Desiderat einer bislang von der Unterrichtsforschung nicht geleisteten Konzeptualisierung der Ordnungsbildung des Unterrichts unter Bedingungen der Unsicherheit von Wissen sowie der Ungewissheit von Vermittlungswirkungen auf (vgl. Helsper u.a. 2003). Mit ihm geht auch die Vermutung einher, dass die Erzeugung unterrichtlicher Wirkungen wesentlich im Medium sozialer Mechanismen zu verorten ist. Diese kann man deshalb nicht so einfach auf individuelle Instruktionsarrangements oder Lernstrategien zurückführen, weil gerade sie der Unberechenbarkeit interaktionsförmiger Unterrichtsprozesse in besonderer Weise ausgesetzt sind. Einer Unterrichtsforschung, die die Sozialität unterrichtlicher Wissensvermittlung ernst nehmen will, liegt mit dem Konzept des sozialen Gedächtnisses der Schulklasse ein Angebot vor, das nicht nur empirisch zu prüfen, sondern auch theoretisch weiter auszubuchstabieren ist.

Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um die wissensbezogene Ausarbeitung unterrichtstheoretischer Überlegungen, die ich in meinen in der Zeitschrift für Pädagogik veröffentlichten Aufsatz »Das soziale Gedächtnis des Unterrichts. Eine Antwort auf das Wirkungsproblem der Erziehung« erstmals diskutiert habe (vgl. Proske 2009).

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