Lothar van Laak
Phantasie, Medien und politische Wirklichkeit
in Wolfgang Koeppens Roman Das Treibhaus

1.

So wichtig sie heute für die Entwicklung der deutschen Literatur nach 1945 sind: Wolfgang Koeppens Romane seiner »Trilogie des Scheiterns«, Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Tod in Rom (1954) waren in der Bundesrepublik der 1950er Jahre kein großer Verkaufserfolg. Gerade einmal 12.000 Exemplare des Treibhauses wurden bis in die 1970er Jahre verkauft, was immerhin doppelt so viele Exemplare waren wie bei den beiden anderen Romanen der Trilogie. (Götze 122) Auch wurde dem Treibhaus bei seiner Erstveröffentlichung eine gewisse aufgeregte Publizität zuteil. Diese lag aber eher an einer Fehlrezeption des Romans. Denn er wurde im Bundestagswahljahr 1953 vor allem als Schlüsselroman im Blick auf die politischen, kulturellen und medialen Protagonisten der jungen Bonner Republik gelesen. Man fasste den Roman nur als Zeitkritik auf, als Kritik an den Parteien, ihren führenden Vertretern wie Konrad Adenauer und Kurt Schumacher, und noch weiter, als Kritik am Parlamentarismus in seiner Form der repräsentativen Demokratie. (Vergl. Stammen 335-344)

Den Roman nur darauf zu verkürzen nahm Koeppen selbst als Fehlrezeption wahr. (Vgl. Kommentar Grafe 213f.) Diese wiederholte sich nach der Neuauflage der »Trilogie« (1969) nur unter den umgekehrten politischen Vorzeichen der Nach-1968er Jahre. Götze hebt hervor, dass damit zum Teil korrigiert wurde, »daß Koeppen Anfang der fünfziger Jahre tatsächlich und mehrfach Außenseiter war. Seine politische Kritik grenzte ihn aus der Gesellschaft wie auch aus der Literaturgesellschaft aus, sein resignativer Individualismus entfremdete ihn einem großen Teil der politischen Linken.« (Ebd. 130) Es ist zwar kein vollständig falsches Verstehen des Treibhauses gewesen. Seiler weist darauf hin, dass die Anspielungsdichte so groß und konkret ist, dass man bei der Lektüre geradezu auf eine zuordnende Entschlüsselung des Textes hingelenkt wird. (Ebd. 247) Dem arbeitet eine konsequente Allegorisierung aber auch wiederum entschieden entgegen, wie im Folgenden noch gezeigt werden soll.

Aber es war eben doch eine verfälschende Rezeption, weil nur ein Aspekt des Romans wahrgenommen wurde, seine politische Thematik; nicht aber die ästhetischen Verfahren, mit denen Koeppen seinen Roman gestaltete. Gerade darauf aber hätte man sich mit dem überaus komplex erzählten, zwei Jahre zuvor erschienenen Roman Tauben im Gras eingestellt haben können. So aber resultierte die einseitig politische Deutung aus dem Ausblenden der ästhetischen Aspekte, aus dem grundlegenden Missverständnis, dass Politik nichts mit Kunst zu tun habe, dass die Kunstfertigkeit der politischen Praxis ein eigenes System und eine eigene Systematik generiere, in dem das Ästhetische keine oder eine bloß funktionale Rolle spiele.

2.

Koeppens Äußerungen im Umfeld des Romans insistieren aber gerade darauf, dass Politik und literarische und künstlerische Phantasie, dass das Politische und das Ästhetische konstitutiv zusammen zu sehen sind. Er selbst hebt hervor, dass der Roman und seine Darstellung des Politischen, der politischen Praxis und der politischen Kommunikation in den ersten Jahren der Bundesrepublik, ganz und vor allem aus der Imagination geschaffen sind, dass die Phantasie das entscheidende Vermögen ist, aus dem die politische Wirklichkeit in den Blick genommen werden, in den Blick treten kann. (Siehe Treichel 204 und Platen 196-205) Gerade in diesem Sinne ist der Roman über den Politiker Keetenheuve auch eigentlich kein Politiker-, sondern ein Künstlerroman, d.h. der Roman eines Künstler-Politikers, dessen Kunst und der selbst am Politischen scheitern. (Siehe dazu Raulff) Dabei ist er, lässt sich zuspitzen, gerade deshalb ein politischer Roman, weil er ein Künstlerroman ist. Es ist ein Künstlerroman, der die Literatur in ihrer medialen Dimension begreift, und erst in dieser Reflexion der medialen Dimension ist seine politische Qualität mitbestimmt. Sie ist nicht vollständig erfasst, wenn man sich nur auf die Entschlüsselung der politischen Oberfläche beschränkt. Die Medien und ihre Wirkungen auf die Phantasie bestimmen die Möglichkeiten von Kunst und Politik mit. Deshalb muss das Augenmerk den Medien gelten, wie sie die konkrete politische und soziale Wirklichkeit mitbestimmen und damit auch die Möglichkeiten von Literatur und Kunst.

Früh und genau wie kein zweiter hat Bertolt Brecht in den 1920er Jahren diesen Zusammenhang durchschaut. Und so, wie Koeppen mit den Tauben im Gras die Anknüpfung an die westeuropäischen und amerikanischen Erzähltraditionen der klassischen Moderne gelingt, an Joyce, Döblin, Dos Passos und Faulkner, so nimmt auch sein Treibhaus die Verknüpfung von politischen, literarischen sowie medienästhetischen und medienpolitischen Aspekten auf, die Brecht in seiner Auseinandersetzung mit den neuen Medien Film und Radio zur Konzeption seiner politischen Ästhetik geführt haben. In dieser Auseinandersetzung werden sowohl die Möglichkeiten eines neuen Gesellschaftsromans (Dreigroschenroman) erkundet und reflektiert, als auch das Theater als neues Medium für die Auseinandersetzung und Veränderung des soziokulturellen Zustands und der politischen, juristischen und ökonomischen Wirklichkeit etabliert (Dreigroschenoper und Dreigroschenprozeß). (Vgl. dazu van Laak 198-228)

3.

Mit diesem, von der Konzeption Brechts angeregten, Blick für eine mögliche Verwebung der literarischen, ästhetisch-medialen und politischen Dimensionen des Treibhauses wird nicht nur die spezifische Problematik des Künstlers als Politiker nachvollziehbarer und bedeutsamer. Keetenheuve scheitert auch deshalb, weil er die melancholische und traditionsbezogene Künstlerauffassung weder gegen ein politisches Künstlertum noch gegen die Rolle des ›Politikers als Beruf‹ eintauschen kann und will. Als Leser und Verehrer der Kunst bezieht er sich auf »Cummings, Verlaine, Baudelaire, Rimbaud, Apollinaire – er trug sie im Kopf« (96). Im Herzen trägt er Richard Wagner. Dessen Ring lässt die Zugfahrt zum Auftakt des Romans in Keetenheuves Innerem nachklingen (11-16). Es ist das Versprechen auf die ganz große Synthese, das utopische Gesamtkunstwerk, aber eben auch die Gestalt der ideologischen Depravation Nazi-Deutschlands. Die Zugfahrt lässt Keetenheuve nicht nur Wagner nachempfinden, sondern regt auch sein Unbewusstes an; und er imaginiert seine Ehe mit der zuvor zu Grabe getragenen Elke, der Tochter »eines Gauleiters und Statthalters des Herrn« (16).

Das Unbewusste, so wird damit auch bei Koeppen deutlich, ist nicht nur offen auf die Triebwelt von Eros und Thanatos, sondern auch auf das (kollektive) Imaginäre und die mythischen Schichten und Gestalten, die es formen. (Das ist eine Grundstruktur auch in Koeppens Tauben im Gras.) Goetze hat das mythische Geflecht, das Das Treibhaus durchzieht, so beschrieben: »Neben dem Rheingold-Zitat sind die Anspielungen auf den Minotaurus-Mythos sowie auf die Volkssage vom Drachen, der den Schatz behütet und die Prinzessin raubt, die beiden weiteren sequenzübergreifenden Mythologeme. Im Verweis auf das Labyrinth des Minotaurus scheint endlich die mythische Geschichtsauffassung Koeppens umstandslos greifbar.« Goetze 94f.; vgl. Egyptien 155-168) Es ist eine negative Geschichtsauffassung, eine nicht-teleologische Auffassung von Zeit, so wie in Tauben im Gras erscheint die zyklische Wiederkehr von Zeit als Bedrohung erscheint. In der Geschichtsauffassung des Treibhauses werden die Mythen, ganz im Sinne der »Dialektik der Aufklärung« entzaubert und auf ihre ökonomische und technische Basis zurückgeführt: »Aber die Sage war alt. Der Drache war alt. Er hütete keine Prinzessin. Er bewachte keinen Schatz. Es gab keinen Schatz, und es gab keine Prinzessinnen. Es gab unerfreuliche Akten, ungedeckte Wechsel, unbedeckte Schönheitsköniginnen und schmutzige Affären. Wer wollte sie bewachen? Der Drache war ein Kunde des Städtischen Elektrizitätswerkes. Sein Auge leuchtete mit einer Spannung von zweihundertzwanzig Volt und verbrauchte fünfhundert Watt in der Stunde. Seine Magie lebte in der Einbildung des Betrachters. Es war eine seelenlose Welt. Auch der friedliche Rhein war eine bloße Einbildung des Beschauers.« (179f.) Nur der Bereich der Einbildung, die Phantasie, ist vielleicht noch ein Refugium des Magischen. Aber auch dieser romantische oder neuromantische Fluchtpunkt wird vom Text systematisch destruiert. Eben so wenig bietet die Natur eine utopische Perspektive wie noch in der Romantik. sondern Auch ist die Natur, im technisierten, ökonomisierten Bild des Treibhauses, auf Profit ausgerichtet und dem Verfall preisgegeben - und mit ihr der Gang von Geschichte, wie sich an der Episode zwischen Keetenheuve und Lena zeigt. Geschichte geht in den sicheren und sichtbaren, naturhaft anmutenden Verfall über: »Der Bücherliebhaber und Wollüstling Keetenheuve schaut ein letztesmal in einen blinden Spiegel, der ihm dennoch die Zukunft zu zeigen vermag. Der Ort der Handlung, die ausgehöhlte Ruine, wird mit allegorischem Sinn gefüllt. Pompeji ist Menetekel geschichtlichen Verfalls einer blühenden Kultur, die überreifen Früchte, assoziativ eng verknüpft mit der ›Treibhaus‹-Vorstellung, erinnern an den sicheren Verfall aller Natur.« (Goetze 109f.) In Goetzes Argumentation spielt das Allegorische eine wichtige Rolle. Es ist für ihn die strukturelle Vermittlungsfigur zwischen Rationalität und Phantasie, wenn er schreibt: »Allegorie ist eben nicht Abstraktion, sondern sie bringt diese Abstraktion zur Erscheinung, und diese Erscheinung kann äußerst farbig, bilderreich, bunt, ein Fest für die Sinne sein. Da die Allegorie nicht an die Grenzen von Natur, Raum und Zeit gebunden ist wie realistisches Erzählen, kann sie die bizarrsten Ideen realisieren, das Entfernteste zusammenstellen, Assoziationen spontan umsetzen. Reflexivität und Bildlichkeit, Denken und Phantasieren sind nicht notwendig feind. Die Allegorie ist eine Form ihrer Versöhnung auf dem Terrain der Dichtung.« (Ebd., S. 114.; siehe zur Allegorie auch Geisenhanslüke)

4.

Schon der Titel des Romans macht somit den allegorischen Charakter des ganzen Textes deutlich. Ihn muss man bei der Betrachtung der ästhetischen Faktur des Romans besonders berücksichtigen, wenn man seine politische Dimension genau bestimmen will. Diese zeigt sich darin, dass der Roman auf die Bedingungen der Möglichkeit politischer Kommunikation reflektiert, und dies insbesondere im Hinblick auf ihre medialen Bedingungen.

Der allegorische Charakter resultiert dabei aus der spezifischen Strukturierung der Bildlichkeit des Romans. Sie verbindet verschiedene Bildvorstellungen in der Art einer ›metaphora continua‹, als die die Allegorie in der rhetorischen Tradition bestimmt worden ist, zu Bildsequenzen bzw. vermittelt dabei verschiedene Bilderschichten in einer ›Zugleich-Rede‹ miteinander. (Kurz 30ff.) So entsteht die imaginative Struktur eines Geflechts von Bildern wie der schon genannten mythischen und mythisierenden Vorstellungen oder der Arbeit an dem technisierten Naturbild des Titels. Dabei verweisen die Bilder selbst auch wieder auf weitere Bild-Schichten und Bild-Bedeutungen.

Besonders deutlich zeigt sich dies an der im Roman verwendeten und besonders traditionsreichen Allegorie des Schiffs. Dieses zentrale Bild entfaltet der Roman in einem Netz von aufeinander bezogenen Bildvorstellungen. Es speist sich aus der Erinnerung des Künstler-Politikers Keetenheuve an einen Text, an Baudelaires Le beau navire, das ihn wiederum an seine verstorbene Ehefrau Elke denken lässt: »Er nahm das Blatt seines MdB-Papiers und schrieb ›Le beau navire‹, ›Das schöne Schiff‹ auf die Seite, denn an dieses herrliche Gedicht des Frauenlobs hatte ihn nun Elke erinnert, so sollte sie in seinem Gedächtnis leben, und er versuchte, die ewigen Verse Baudelaires aus der Erinnerung zu übersetzen, je veux te raconter, o molle enchanteresse, ich werde dir sagen, ich werde dir erzählen, ich werde dir beichten ..., das gefiel ihm, er wollte Elke beichten, daß er sie liebe, daß sie ihm fehle, er suchte das richtige Wort, den adäquaten Ausdruck, er sann, er kritzelte, er strich aus, er verbesserte, er versank in ästhetisch wehmütigen Gefühlen.« (78) Im Spiel des Übersetzens versinkt Keetenheuve in seiner Melancholie, in seiner Wehmut der Einsamkeit. »Er beklagte Elke, [...] übersetzte aus den ›Blumen des Bösen‹, o molle enchanteresse, mein süßes, mein weiches, mein warmes Entzücken, o mein weiches, mein schmeichelndes, mein entzücktes Wort [...].« (78) So wird sein Gefühl zu seinem ›Wort‹, zu seiner Sprache. Die aber hat keinen (wirklichen) Ort, eröffnet keine unmittelbar kommunikative Dimension: »er hatte niemand, dem er schreiben konnte. [...] An Elke hatte Keetenheuve seine Briefe aus Bonn geschrieben, und wenn sie vielleicht auch an die Nachwelt gerichtet waren, so war Elke doch weit mehr als eine Adresse gewesen; sie war das Medium, das ihn sprechen ließ und das ihm Kontakt gab.« (78) Aus dem Bild des Schiffs, das aus der Kunst-Welt in Keetenheuves Gedächtnis tritt, wird in der Übertragung auf die Gefühle für Elke eine Sprache, die im numinosen Sinn Medium ist, Vermittlerin in und zu einer anderen Welt. Sie ist Kontaktgeberin über die diesseitige Welt hinaus, »sie war das Medium, das ihn sprechen ließ und das ihm Kontakt gab.«

Elke als sein ›Medium‹ erfüllt damit für Keetenheuve die Funktion, die die Medien im parlamentarischen Bonner ›Treibhaus‹ leisten. So, wie die Erinnerung an die Ehefrau von Baudelaires Le beau navire und den Bildern dieses Gedichts angeregt wird, so sind zuvor auch die Medien selbst im Bild des Schiffes beschrieben worden: »Die Journalisten arbeiteten in zwei Baracken. [...] Innen aber war in jedem Stockwerk ein Mittelgang, der an den Korridor eines Schiffes erinnerte, nicht gerade an das Luxusdeck, aber doch an die Touristenklasse, wo links und rechts des Ganges Kabine an Kabine geschichtet wurde, und das Geklapper der Schreibmaschinen, das Ticken der Fernschreiber, das unaufhörliche Schrillen der Telephone gab die Vorstellung, daß hinter den Zimmern der Redaktionen die erregte See war mit Möwengekreisch und Dampfersirene, und so waren die Pressebaracken zwei Kähne, die, von den Wogen der Zeit getragen, geschaukelt und erschüttert wurden.« (60) Schließlich wird das Bild verdichtet und konkretisiert: »Das Presseschiff schunkelte an diesem Morgen bei leichter Brise dahin.« (61) Und am Ende der erzählten Episode, in der sich Keetenheuve mit Mergentheim trifft: »Der Schiffsgang zwischen den Pressezimmern schwankte nicht sonderlicher als je unter seinen sich entfernenden Schritten. Er hatte kein Gefühl von Untergang oder persönlicher Gefährdung.« (72) Das Gefühl für die Gefahr und den eigenen Untergang vermittelt sich Keetenheuve nicht, nicht mehr bzw. noch nicht. Allegorisch zu sein heißt für die Bildlichkeit damit auch, dass sich die Bilder vom Einzelnen entfernen, sosehr sie ihn, sogar bis ins Unbewusste hinein, geprägt haben und prägen.

5.

Eine ähnliche Entfremdung erfährt Keetenheuve bei seiner entscheidenden Rede im Parlament. Sie findet keinen Ort im politischen Diskurs und eröffnet keine unmittelbare politische Kommunikation; sie läuft mithin ab, ohne ›Kontakt‹ zu gewinnen. Anders als im Verhältnis zu Elke bzw. zur Kunst, wie sie sich in Baudelaires Gedicht eröffnet, wird die mediale Situation keine der Erweiterung und Entgrenzung, sondern eine der Bedingtheit und Einengung: »Keetenheuve sprach. Auch er stand im Licht der Wochenschauen, auch er würde im Kino zu sehen sein. Keetenheuve Held der Leinwand. [...] und während er sprach, hatte er das Gefühl, es ist zwecklos, wer hört mir zu, wer soll mir auch zuhören, sie wissen, daß ich dies sage und daß ich jenes sagen muß [...]. Keetenheuve wollte schweigen. Er wollte abtreten. Es hatte keinen Sinn, weiter zu reden, wenn ihm niemand zuhörte; es war zwecklos, Worte von sich zu geben, wenn man nicht überzeugt war, einen Weg weisen zu können.« (171f.) Es ist auch deshalb kein alternativer Weg möglich, weil die mediale Situation wie die politische vollständig determiniert ist: »Auf der Tribüne flammten die Scheinwerfer der Wochenschauen auf, die Fernrohrobjektive der Kameras richteten sich auf den Weltstar des Hauses, der in geübter lässiger Haltung das Rednerpult bestieg. [...] Er war kein Diktator, aber er war der Chef, der alles vorbereitet, alles veranlaßt hatte, und er verachtete das oratorische Theater, in dem er mitspielen mußte. Er sprach müde und sicher wie ein Schauspieler auf der wegen einer Umbesetzung notwendig gewordenen Durchsprechprobe eines oft gegebenen Repertoirestückes. Der Kanzler-Schauspieler wirkte auch als Regisseur. Er wies den Mitspielern ihre Plätze an. Er war überlegen.« (169) Dies sagt auch etwas aus über den Charakter und die Möglichkeiten der politischen Kommunikation überhaupt. Sie ist in unserer Zeit Teil der Welt medialer Reproduktion. Wenn Keetenheuve in ihr aufgeht als Keetenheuve Held der Leinwand entfremdet er sich seiner selbst, entfernt er sich von seiner eigenen Authentizität, geht alles auf in Darstellung, ja »das Jahrhundert artete seinen Filmschauspielern nach und selbst ein Bergarbeiter sah schon wie ein Kumpel aus, der dargestellt wird« (172). Was hier für die Welt der politischen Kommunikation gezeigt wird, ist in Tauben im Gras die Welt der Kitschfilm-Produktion des Erzherzog-Films, die auch als eine Welt des Nichtauthentischen demaskiert wird.

So formen die Medien die politische Wirklichkeit mit, die dem Einzelnen seinen Spiel-Raum zuweist und ihn bedingt und begrenzt. Dass in der Welt der Phantasie und der Kunst noch ein authentischer Frei-Raum jenseits dieser Bedingungen und Begrenzungen liegen würde – diese (neu)romantische oder ästhetizistische Vorstellung aber lässt der Roman durch seine allegorische Struktur und den Einsatz seiner literarischen Bildlichkeit als eine Utopie erscheinen, die in der politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik der 1950er Jahre und in den medial geprägten Massendemokratien des 20. und 21. Jahrhunderts tatsächlich nur noch ortlos sein kann.

Literatur

EGYPTIEN, JÜRGEN: Ausfahrt statt Heimkehr. Existentialistische Inversion der »Odyssee« in »Tauben im Gras«. In: Gunnar Müller-Waldeck/Michael Gratz (Hg.): Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die Ziellosigkeit, Hamburg 1998, S. 155-168
GEISENHANSLÜKE, ACHIM: Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche, München 2003
GÖTZE, KARL-HEINZ: Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus. München 1985
HORKHEIMER, MAX / ADORNO, THEODOR W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1986 [11944]
KOEPPEN, WOLFGANG: Das Treibhaus. Roman. Hrsg. u. mit einem Kommentar von Arne Grafe, Frankfurt/Main 2006
KURZ, GERHARD: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 21988, S. 30ff
VAN LAAK, LOTHAR: Medien und Medialität des Epischen: Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009
PLATEN, EDGAR: Bild oder Abbild? Überlegungen zur Frage der »poetischen Wahrheit« in Wolfgang Koeppens »Treibhaus«. In: Studia Neophilologica 71/199, Nr. 2, S. 196-205
RAULFF, ULRICH (Hg.): Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien, München und Wien 2006
SEILER, BERND W.: Die leidigen Tatsachen Von den Grenzen der Wahrscheinlichkeit in der deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, Stuttgart 1983
STAMMEN, THEO: Erfahrungen und Vorurteile – zu Wolfgang Koeppens früher Parlamentarismus- und Demokratiekritik. In: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang-Koeppen-Gesellschaft 2/2003, S. 335-344
TREICHEL, HANS-ULRICH (Hg.): Wolfgang Koeppen. »Einer der schreibt.« Gespräche und Interviews, Frankfurt/Main 1995