Der Titel von Thomas Körners dramatisiertem Essay – Das Grab des Novalis – hat eine präzis emblematische Bedeutung für die übergreifenden geistes- und zeitgeschichtlichen Problemlagen der DDR. Denn mit großer Evidenz kann man sagen: schon die Gründung der DDR (ziemlich genau) 150 Jahre nach dem Tode von Novalis war die neueste Beglaubigung des Todes der von Novalis repräsentierten geistigen Bewegung – der Romantik. Dieser politische Akt war gewissermaßen die zweite Grablegung des Novalis. Und die Wacht an diesem Grab war durchgehend geistige Staatsräson. Die DDR wollte sich verstehen als Vernunft-Staat im Sinne Hegels und nicht, wie bei Friedrich Schlegel, lediglich als ein »Versuch über den Republikanismus«.
Das Selbstverständnis der DDR war es, zu zeigen, dass ihre maßgeblichen Werte, wie Gleichheit und Gerechtigkeit keine Märchen bleiben müssen, nicht nur ein unstillbares Gefühl ›romantisches Sehnen‹ – – so dass eigentlich alle romantische Erinnerung, romantisches Denken und Umgang mit Märchen in der Gegenwart geradezu eine gegenrevolutionäre, zumindest attentistische Haltung und Praktik zur Folge hätten und also unterdrückt werden müssen. Die Romantik wäre nur zu verstehen, so betonte es der einflussreiche marxistische Literaturwissenschaftler Georg Lukacs, »als Reaktion gegen die Französische Revolution«, als »Feindschaft zur Aufklärung« und »Abkehr von der deutschen Klassik« (Georg Lukacs, S. 55).
So wurde die DDR über lange Jahre traumatisiert von ihrem Fortschritts-Begehren, endlich nicht mehr nur ständig in jener bloßen Erwartung (mit der Klingsohrs Märchen bei Novalis beginnt) verharren zu müssen, sondern vielmehr schon – alle Romantik weltgeschichtlich aufgehoben (Hegel) – jetzt jenes Du bist Orplid, mein Land (Mörike, S. 69) tatsächlich zu sein, oder es mindestens dicht vor Augen zu haben. Wer den Sozialismus – aus eigener Erfahrungsfülle! – als an allen ›Ecken‹ des Systems immer noch defizitär kritisierte, wurde schnell als einer identifiziert, der wohl bloß romantische Erwartungen und Vorstellungen hege; dagegen wurde (seit Anfang der Siebziger) die Formel vom Real Existierenden Sozialismus geprägt. Die sollte ein für alle mal das leidige Messproblem – und damit die Abstandsvermutung zwischen Ideal und Realität – als unsozialistische Denkhaltung entlarven helfen.
1.
Es ist höchst bezeichnend, dass just an dem Tag, an dem die DDR starb, in prämortaler Euphorie, am 7. Oktober 1989, ein literaturhistorischer Vortrag an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften ausgeliefert wurde, der den Titel trug: Über die Modernität der literarischen Romantik in Deutschland. Mit seinem Schlüsselsatz: »Viele Romantiker verteidigten das konkrete Lebensrecht des einzelnen, wie ihn die Natur geschaffen hatte« (Hans-Georg Werner, S. 29) verabschiedete der Redner en passant eine vierzig Jahre lang gepflegte geistige Haltung zum Menschen und seinem Denken, die bis gerade eben im Romantischen das Kranke, Individualistische, Melancholische, Scheiternde angeprangert hatte.
Der Weg hierher war lang. Galt die Romantik doch übergreifend als die geistig und politisch deutlichste Abweichung von den Standards der Klassik (in der Literatur) und den Regeln der Vernunft (in der Philosophie). Im Sozialismus, so Peter Hacks, gäbe es »eine Rechtsgleichheit von Autorität und Vernunft.« (Peter Hacks, S. 63) Und ›Abweichungen‹ von dieser Symmetrie, so bestimmte er als der maßgebliche intellektuelle Romantik-Kritiker in der DDR, seien allemal ›dümmer als die Regel‹. – Es war also lange offizieller Konsens, dass die Romantik und die DDR keine gemeinsamen Schnittmengen auswiesen, dass z. B. die vehemente Modernekritik der DDR keine romantische Kritik als Flucht aus der Zeit sei, sondern zu allererst und vor allem als Zeitenwende dargestellt werden müsse.
Was beide – die Romantik und die DDR – wirklich unterschied, ist an einem allen sofort auffälligen schismatischen Zeichen abzulesen: am völligen Mangel an Ironie und Lachen im geistigen Raum jenes ›langweiligsten Staats‹ in der Welt (Volker Braun).
Auch die inzwischen über die Jahre augenfällige politische Abwegigkeit im Alltag der DDR (bezogen auf eine moderne Zivilgesellschaft im Westen Europas) lässt sich nicht auf die Formel ›Politische Romantik‹ gründen, mit der einst schon Carl Schmitt alle organisch-gemeinschaftstümelnde, kalkül-fremde, totalisierende, aktivistisch-okkasionale Gesellschaftspolitik als aus dem esprit romantique (d. h. aus dem Naturrecht, dem Rousseauismus) hervorgehend kritisierte. Obwohl die Politische Romantik in Deutschland (Adam Müller) und die DDR manche ökonomische, namentlich geldtheoretische Gemeinsamkeit aufweisen (Stichwort: Geld nicht als ›kalter‹ Wertmaßstab, sondern als Gutschein für ›organisches‹, gemeinschaftsadaptives Verhalten: »Also gebe man … das eitle Streben auf, irgendeinen Maßstab auf dem abstrakten und vorgeblich mathematischen Wege zu erfinden, und die beweglichen Weltaxen des Lebens mit den starren Linien des abgetödteten Verstandes messen zu wollen.« (Adam Müller, S. 169).
2.
Kurz nach dem Mauerbau (1961 ff) sah sich auch die DDR veranlasst, vor allem angesichts einer intensiven internationalen Forschung zur Romantik in Europa und durch große Editionsvorhaben zur deutschen Romantik, nun ihrerseits entsprechende neue Aktivitäten bzw. Abgrenzungen zu entfalten. – So kam es im Frühjahr 1962 in Leipzig zu einer großen Romantik-Tagung. Dass man sich dabei aber lediglich der alten (ideologischen) Besitzstandswahrung versicherte, wird aus einer Äußerung des Leipziger Germanisten Claus Träger deutlich. Auf einen Sonderdruck seiner programmatischen Rede Novalis und die ideologische Restauration, die er der Kollegin Edith Braemer zuschickte, schrieb er eine bezeichnende Widmung: »Zur Erinnerung an die Leipziger Tage der Romantik, die im Grunde doch Tage gegen die Romantik gewesen sind … herzlich vom Vf.« (Claus Träger, Titelblatt).
Auf der nächsten großen Romantikkonferenz der DDR, fünfzehn Jahre später, im Oktober 1977 in Frankfurt an der Oder gibt es schon – klandestin – eine Abwendung von jener traumatischen Romantikfeindschaft, – hin zur erneuerten Lektüre von Märchen, Träumen, Grotesken, und ganz allgemein dem Subjektivischen. Hier war es namentlich der Schriftsteller Franz Fühmann, der neue Akzente setzte: in einem Beitrag über Klein-Zaches schrieb er, dass E.T.A. Hoffmann hier »ein Märchen allseitiger Verkrüppelung« schrieb, denn »nicht nur, dass die Entzauberung die Gesellschaft verkrüppelt (…); sie, die Entzauberung selbst, ist schon nicht vollkommen, und das heißt eben: nicht unverkrüppelt zu haben, das Zauberische ist nie ganz auszurotten, Reste des Wunderbaren bleiben, und als Reste pervertieren sie.« (Franz Fühmann, S. 80)
Das aber gab ein ›innere‹ Kritikbedürfnis zu erkennen, dem dann eine ganze Reihe literarischer Zeugnisse folgten, die alle romantische Themen oder Personen zum Thema hatten (von der alten Seghers über Christa Wolf, Günter de Bruyn, Günter Kunert bis Franz Fühmann und Ulrich Plenzdorf). Daneben gab es im letzten Lustrum der DDR auch Textausgaben von Friedrich Schlegel, Novalis, Johann Wilhelm Ritter, Achim v. Arnim und den Brentano-Geschwistern).
Die geistige Wendung hier war dann tatsächlich eine sozusagen romantische, es war, wie damals, eine Frontstellung gegen die Philisterwelt – aber jetzt gegen die Philisterwelt des real existierenden Sozialismus, gegen die »Philister vor, in und nach der Geschichte«. (Clemens Brentano, 1811).
3.
Und in genau diese Tradition gehört Thomas Körners dramatisierter Essay Das Grab des Novalis (erschienen 2007).
Körner will nicht ein ideengeschichtliches neues Novalis-Bild – das wievielte? – entwerfen, sondern mit der Methodik des Novalis analytisch und poetisch – die Freunde Novalis’ nannten das transzendentalpoetisch – seine Gegenwart (der DDR) dekonstruieren. Was heißt das? – Körner aktiviert eine durchaus Novalissche Kombinatorik, um, wie es bei ihm hieß, »aus gegebenen Datis die unbekannten Glieder zu finden.«(Novalis, S. 364)
Dieses auch Enzyklopädie-Projekt genannte Vorhaben ist als eine ars inveniendi (eine Erfindungskunst) zu verstehen, als eine, wieder in den Worten von Novalis, »Kunst aus Bekanntem das Unbekannte zu finden«. (Novalis, S. 259)
Literatur
FÜHMANN, FRANZ (1978), E.T.A. Hoffmanns ›Klein-Zaches‹, in: Weimarer Beiträge, Bd. XXIV (1978), H. 4
HACKS, PETER (2007), an Hans Heinz Holz, v. 18. Febr. 1999. Peter Hacks / Hans Heinz Holz, Briefe, Texte, Erinnerungen, Berlin2007
KÖRNER, THOMAS, Das Grab des Novalis, in der Reihe »Die verschwiegene Bibliothek, hrsg. von Ines Geipel und Joachim Walter, Frankfurt/M. 2007
KÖRNER, THOMAS, Das Land aller Übel, Fragmentroman, in: http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/index.html, hrsg. von Ulrich Schödlbauer
LUKACS, GEORG (1947), Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur, Berlin 1947
MÖRIKE, EDUARD (1910), Gesang Weylas, Sämtliche Werke, hrsg. v. Rudolf Krauß, Zweiter Teil, Leipzig 1910
MÜLLER, ADAM (1922), Versuche einer neuen Theorie des Geldes, hrsg. v. Helene Lieser, Jena 1922
NOVALIS (1960), Schriften hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Bd., 3, Stuttgart 1960
TRÄGER, CLAUS (1961), Novalis und die ideologische Restauration, in: Sinn und Form, Jg. 13, H. 4, Widmung auf dem Titelblatt der Zeitschrift vom 4. Juli 1962
WERNER, HANS-GEORG (1989), Über die Modernität der literarischen Romantik in Deutschland [Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 129, H. 6], Berlin 1989