Gerardo Marotta

im Gespräch mit Steffen Dietzsch und Gian Franco Frigo
Vom Weltgeist in Neapel

Dietzsch/Frigo: Als Sie, verehrter Avvocato Marotta, im Juni 1996 in Paris zum Ehrendoktor der Philosophie promoviert wurden, hat man Ihre geistige Lebensleistung mit dem Diktum eines Landsmannes von Ihnen, dem aus Nola bei Neapel stammenden Giordano Bruno zusammengefasst – als Titel Ihrer Hommage – Al vero filosofo ogni terreno è patria. – Also: Der wahre Philosoph kann nicht einer bestimmten Polis verpflichtet sein, sondern er sinnt dem nach, was jeder Polis überhaupt zugrunde liegt.

Marotta: Dieser Gedanke hat seither die europäische Philosophie, namentlich in ihrer Aufklärungsepoche, bei Spinoza, Vico, Kant, Hegel, auch Marx und Nietzsche geprägt und ihre Problemgeschichte entfaltet. Und diesem Gedanke fühle ich mich mit unserem Istituto italiano per gli studi filosofici verpflichtet; seit nunmehr 35 Jahren. Wir wollen einen Beitrag leisten, die intellektuelle Kraft Europas zu erkennen und zu nutzen. Im kulturellen Schmelztiegel der griechisch-römischen Welt, und Neapel war ihr exemplarischer Vermittler nach Europa, wurde ein ewig wirksames Lebenselixier erzeugt: das philosophische Denken, ein Wissen von Logik und Kalkül, Kenntnisse über den Menschen, seine Abgründe, Hoffnungen und Einbildungen, das unsere Geschichte geprägt hat und dem wir die charakteristischen Züge unserer Kultur verdanken. Jedoch scheint mir die Einstellung der heutigen Gesellschaft zur Philosophie den Problemen der Gegenwart gar nicht Rechnung zu tragen. – In den Schulen vieler Länder werden Philosophie und Ideengeschichte als Unterrichtsfächer entweder von jeher ignoriert oder augenfällig zurückgedrängt; viele, viele Schüler wissen nicht einmal mit dem Begriff Philosophie etwas anzufangen. Wir erziehen technisch-praktische Begabungen und lassen den philosophischen Erfindungsgeist verkümmern. Daraus folgt unter anderem, dass immer weniger Menschen historisch-kulturelle Zusammenhänge begreifen. Aber unsere heutige Welt braucht reflexionsbegabte, kreative Menschen mit weitem Horizont, die die gegenwärtige sozusagen naturalistisch-technizistische Engführung im Denken, auch in Politik und Glauben erkennen und überwinden können.

Dietzsch/Frigo: Das Istituto wurde Mitte der siebziger Jahre begründet, sein Kern war die von Ihnen seit Jugendjahren gesammelte Bibliothek. – Ihr Domizil ist seit langem der Palazzo Serra di Cassano auf dem Monte di Dio in Neapels Altstadt. Dieser Ort ist ebenfalls mit geistigen, kulturellen und politischen Schicksalswenden in Europa verbunden.

Marotta: Gerade hier, im Palazzo Serra di Cassano wurde die Idee einer Parthenopäischen Republik [Januar – Juni 1799] aus dem Geist der französischen Revolution geboren. Dieses Gebäude ist mit der intellektuellen und politischen Geschichte der Stadt so eng verbunden, dass hier Hegel die Tätigkeit eines objektiven Geistes erkennen würde, der alles arrangierte. Eine List der Vernunft, die dazu führte, dass das Institut genau dieses heroische Gebäude als Sitz bekam. Das ist der Palast eines der Märtyrer von 1799. Hier in diesem Palast, in diesen Räumen, hat sich die Società patriottica getroffen – Eleonora Anna de Fonseca Pimental (1752-1799), eine portugiesisch-italienische Dichterin und Zeitungsherausgeberin [Benedetto Croce hat ein Buch über sie geschrieben], der Staatsrechtler Mario Pagano (1748-1799) und Gennaro Serra di Cassano (1772-1799), der Sohn des Hausherrn. Sie alle wurden am 20. August 1799 auf der Piazza del Mercato hingerichtet [wo auch schon der Staufer Konradin starb]. – Es mussten zweihundert Jahre vergehen, bis an diese jakobinische Tradition durch ein von mir angeregtes Denkmal erinnert werden konnte.

Es ist wirklich ein Zeichen des Schicksals. Wenn man daran denkt, hat Hegel doch recht: Der Geist ist in der Geschichte anwesend. Die Fakten ereignen sich nicht zufällig. Nichts ist zufällig. So auch nicht der geistige Platz dieser Institution, die zwei Jahrhunderte nach der Neapolitanischen Republik entsteht.

In der geistigen Entwicklung, der sich unser Institut verpflichtet sieht, können wir folgende Höhepunkte fürs Neunzehnte Jahrhundert ausmachen: nach der Neapolitanischen Republik, dann 1844 die große Tradition der neapolitanischen Junghegelianer (unten, im Castello dell’Ovo wurde Hegels Logik ins Italienische übersetzt) und 1861 das Risorgimento mit Francesco De Sanctis (1817-1883), die Brüder Silvio (1822-1893) und Bertrando Spaventa (1817-1883); Silvio wird Minister, er gründet den Staatsrat, Bertrando wird Professor für Moralphilosophie an der Universität Rom. In dieser Tradition stehen dann noch Antonio Labriola (1843-1904) und Benedetto Croce (1866-1952).

Dietzsch/Frigo: Sie selber, Avvocato, kommen geistig aus der Nachkriegsbewegung »Cultura Nuova«, die in der »Gruppo Gramsci« einen Höhepunkt fand. Es handelte sich hierbei um außerakademische kulturelle Zirkel, die Sie durch die Mobilisierung vieler junger, italienischer Intellektueller aufrechterhielten, etwa Norberto Bobbio oder Franco Venturi (1914-1994), der ein bedeutender Aufklärungsforscher war. Dann kam die Gründung des Istituto Italiano per gli Studi Storici von Benedetto Croce inspiriert, dessen Bibliothek hier in Neapel ebenfalls ein Zentrum für historische Forschungen ist.

Sie sind in dieser Tradition, wie es Jacques Derrida bei Ihrer Ehrenpromotion gesagt hat, ein letzter großer Homme des Lumières dieser Generation.

Marotta: Es ist eine sehr schöne, ehrenhafte Bezeichnung für meine geistigen Antriebe. Das ist aber natürlich nicht sozusagen historisch zu verstehen, sondern fasst mein übergreifendes intellektuelles Interesse am Verstehen unserer Welt aus ihren Ursprüngen zusammen. Und es erfasst auch mein Interesse, den Fehlentwicklungen nachzuforschen, an denen wir kulturell und politisch in unserer Gegenwart leiden. Auch sie sind mit Konstellationen verbunden, die tief in unserer Herkunft liegen, auch mit aufklärerischen Maximen übrigens. Insofern fühle ich mich vor allem als ein Dialektiker der Aufklärung. Am Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit interessiert mich beispielsweise gegenwärtig, wie es zur – mit dem englischen Aufklärer Francis Bacon gesprochen – Idolatrie von Freiheit und Selbstbestimmung kommen konnte, die in Europa geradewegs zu einer Rückkehr des Nationalpolitischen und völkischer Vorurteile, sowie konfessioneller Provinzialisierung geführt haben. Auch sehe ich eine Zunahme naiver Einbildungen zum Problem von Wahrheit und Objektivität, vor allem bei Massenmedien, bei der Telekommunikation, die auf ein erschreckendes Vergessen von philosophischem Wissen hinweist.

Dietzsch/Frigo: Glauben Sie, dass es einen Weltgeist im Sinne Hegels gibt? Wo sehen Sie ihn und wie agiert er?

Marotta: Da denke ich heute schon anders als z.B. 1970, als wir Hegels zweihundertsten Geburtstag feierten. Ich kann sagen, dass ich den Weltgeist nicht nur auf dieser Erde sehe. Er ist von der Erde wahrscheinlich schon verschwunden und in das Universum, zum Kosmos ausgewandert. Es gab auch auf dieser Erde große Momente des Geistes, aber heute herrscht eine Zeit der Geistlosigkeit, der Imitationen, ja der Unordnung.

Wir sollten uns immer die Intellektuellen, die Leibniz in einem seiner Werke auflistet, und ihr tragisches Ende vor Augen halten. Fast alle diese Intellektuellen wurden getötet oder gedemütigt. Die Liste der Verfolgten ist aber über die Zeiten auch schon für Italien außerordentlich bedrängend: Giordano Bruno, Galileo Galilei und Benedetto Croce, der zwanzig Jahre lang aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde.

Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass wir uns auch heute bedrängt fühlen, umgeben von Unfreundlichkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der Philosophie, der Geschichte, des Denkens gegen den Mainstream und der Wissenschaft. Wir sind vom Idol einer technologisierten Welt erfasst, vom homo oeconomicus, der nichts von Kritik, Humanismus und Philosophie wissen will. Unser Kampf ist heute schwieriger als derjenige der Intellektuellen im 18. Jahrhundert, die, bevor auch sie an den Galgen gebracht wurden, Platz zum Denken hatten, um eine Kultur entstehen lassen zu können, von der wir noch heute zehren. Denken Sie an Spinoza und seinen kategorischen Imperativ [aus dem Politisch-theologischen Traktat], wonach in einem freien Staat jeder denken darf was er will, und sagen was er denkt. – Die Aufgabe der Kultur ist es eben, Personen heranzubilden, die sich nicht verkaufen, sondern die darauf vorbereitet sind, die Welt zu retten, wenn man das etwas pathetisch sagen dürfte.

Dietzsch/Frigo: Wir sind zweifellos umgeben von Strukturen des politischen und geistigen Nihilismus, aber das sind ja auch immer Prozesse, die dem Geist wieder neue Bewegungsräume geben. Die Erfordernisse des Denkens setzen sich immer wieder neu durch. Das bleibt wohl immer lebendig und zu hoffen. Sie selber, Avvocato, trotz der vielen Probleme, haben ja immer wieder eine Hoffnung für den Geist erweckt. Das Leben selbst enthält immer einen Keim der Hoffnung.

Marotta: Meines benötigte weitere 15 Jahre, aber die bekomme ich wohl nicht ...

Dietzsch/Frigo: Wir glauben daran! Schon weil Sie über die Jahre so lebendig und neugierig geblieben sind. Das Istituto bleibt das Zentrum, viele Projekte werden hier entwickelt. Das alles erfordert Ihren Blick. Sie hatten uns schon erzählt, dass das Institut Ausbildungen in den Schulen durchführt und Bibliotheken gründet. Dadurch entstehen auch weitere Kulturzentren und Initiativen. Darin besteht die politische Rolle des Instituts für Süditalien, für die italienische und die europäische Kultur.

Marotta: Das Kapitel über das Ökosystem, das wir begonnen haben, ist z.B. sehr wichtig und sehr schwierig, weil man versucht, aus Kampanien, unserer Region, eine Mülldeponie zu machen mit dem Müll, der aus Norditalien kommt. Auch der Präsident der Republik, Giorgio Napolitano, hat das beklagt. Er sagte, es gebe eine ständige Zirkulation von Giftsstoffen, nicht nur vom Müll, der in Kampanien vergraben wird und der dort das gesamte Grundwassersystem zerstört.

Dietzsch/Frigo: Wie wollen Sie die Tätigkeit des Instituts in den nächsten Jahren gestalten? Denken Sie an besondere Projekte in Italien und in Europa?

Marotta: Wir betreuen gerade die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke von Giordano Bruno in Frankreich, die vom Verlag Les Belles Lettres veröffentlicht wird. Die Arbeit an der Gesamtedition wird auch in anderen Ländern erfolgreich fortgeführt. Im Zentrum unserer Tätigkeit steht aber noch etwas mehr. Mit dem Präsidenten der Accademia dei Lincei, Prof. Enrico Cerulli und mit Frau Elena Croce haben wir vereinbart, dass wir angesichts des (bürokratisch erzeugten) Misserfolges der Universitäten die Tradition der Akademien wieder beleben sollten. Benedetto Croce belebte, als er das Istituto Italiano per gli Studi Storici gründete, diese Tradition neu. Die Akademien standen in Neapel Jahrhunderte lang im Zentrum des kulturellen Lebens, nachdem hier die Universität des Hohenstaufer Friedrich II. von der katholischen Kirche zum Schweigen gebracht und zur Schande geführt wurde. Auf den Spuren von Benedetto Croce, Bertrando Spaventa, Francesco de Sanctis und Ottavio Colecchi (1773-1848) haben wir die Akademie der Philosophischen Studien gegründet. Philosophische Studien, weil die Philosophie von alters her die Mutter aller Wissenschaften ist. Wir haben auch das Interessengebiet des Instituts auf alle Wissenschaften ausgebreitet. Das Institut fühlt sich deshalb auch verpflichtet, alle großen Akademien wiederzubeleben und weitere zu gründen, so wie es im Deutschland der Aufklärung von Leibniz angeregt wurde. – Wir haben uns zum Beispiel auch an Russland gewendet, dies ebenfalls in Erinnerung an die europäische Aufklärungsperiode. Die russische Akademie hat anschließend mit uns zusammen eine Erklärung abgegeben. Es handelt sich dabei um einen Brief (von Mitte November 2009) an den Präsidenten der Republik Italien. Diese Botschaft ist von vielen Wissenschaftlern, Organisationen und Institutionen Europas unterschrieben worden. Es gibt auch einen Appell der FIS (Förderation der Philosophischen Gesellschaften) über die weitere Forschungsförderung durch unser Istituto. Ich gebe Ihnen diesen Brief als Geschenk mit, damit Sie sehen können, wie breit wir anerkannt und hochgeschätzt werden, bis hin nach Moskau und Sankt Petersburg.

Dietzsch/Frigo: An welche neue Projekte und Initiativen denken Sie?

Marotta: Im nächsten Jahr veranstalten wir mehrere große internationale Konferenzen: eine in Paris, organisiert von Prof. Marc Fumaroli mit vielen französischen Intellektuellen, die schon an unseren vergangenen Veranstaltungen teilgenommen haben; eine Konferenz in Wien, an der großen Wiener Akademie; eine Konferenz in Moskau und Sankt Petersburg; eine Konferenz in Berlin und eine vielleicht in Schweden; eine Konferenz in Peking, eine in Tokyo und eine in New Dehli. Wir wollen damit erklären, dass es nötig ist, Akademien zu gründen, sie zu verbinden, nicht nur, um das schon tradierte und bekannte Wissen zu wiederholen oder zu bewahren, sondern um neue Horizonte zu entdecken und um der Welt, der neuen Generation neue Horizonte vernünftigen Wissens zu eröffnen, und nicht zuletzt auch, um eine neue Elite zu bilden. Wie der Präsident der UNO schon sagte, wir müssen eine neue führende Klasse bilden, die sich aus der Philosophie speist, sonst ist die Welt verloren.

Dietzsch/Frigo: Sie schreiben also der Philosophie eine Rettungsrolle zu. Die Welt wird zumindest in der Kommunikation bei Vernunft und Verstand gehalten, wenn man der Philosophie und der Wissenschaft und nicht nur der Ökonomie einen Wert zuerkennt. Es ist eine nicht selbstverständliche Botschaft.

Marotta: Wir lassen uns von André Malraux inspirieren, der sagte: Dieses Jahrhundert wird eines der Philosophie sein oder es wird nicht sein, bzw. es wird dann ein leeres Jahrhundert sein, in dem die Menschen wie verzweifelte Roboter oder als idolgeleitete Masse gegen andere Menschen wüten, was der Zusammenbruch des Humanismus wäre.

Dietzsch/Frigo: Eine Zeit lang hat das Institut eine Zeitschrift, die Nouvelle République des Lettres herausgegeben.

Marotta: Das tun wir heute immer noch.

Dietzsch/Frigo: Die Idee ist, dass es eine Republik jenseits der politischen und historischen Unterschiede geben solle. So etwas wie eine ›Weltrepublik des Geistes‹?

Marotta: Wir erinnern damit wieder an Konstellationen aus der Frühzeit der Aufklärung, aus dem 17. Jahrhundert: Holland, Venedig und Neapel. Das waren die Republiken, wo alle Gebildeten Latein sprachen. Heute, mit der Fragmentierung der Sprachen, müssen wir eine République des Lettres aufbauen, sagte Hans-Georg Gadamer, wo die Sprachen sich integrieren und die jungen Menschen die verschiedenen Sprachen der Welt lernen können.

Dietzsch/Frigo: In Ihren letzten Worten hört man die Idee einer politischen Rolle der Philosophie und der Wissenschaft.

Marotta: Und genau das will unsere (gegenwärtige) Regierung unterbinden. Weil sie versteht, dass all das eine andere politische Bedeutung von Kultur zur Folge haben wird. Eine neue Generation auszubilden heißt, in die Schule zu investieren. Daher auch die Bedeutung der Akademien. Unser neapolitanischer Aufklärer Antonio Genovesi (1712-1765) verlangte im 18. Jahrhundert, dass ein Staatschef für das intellektuelle Niveau seines Landes verantwortlich sein soll. Von den Grundschulen bis hin zur Sekundarschule, zur Universität und der Akademie soll ein Staatschef die intellektuelle Entwicklung, die Ausbildung eines öffentlichen, objektiven Geistes und einer intellektuellen Exzellenz weiter verfolgen. Das sei der Beruf der Politik! – Auf unseren Konferenzen in Paris, Wien usw. werden wir sagen, dass die Staatschefs, die Könige und Königinnen von England, Holland, Spanien usw. verpflichtet sind, für die Kultur ihrer Länder Verantwortung zu tragen, sie zu inspirieren, zu beleben, zu unterstützen. Sie sollten auch die Regierungschefs ihrer Länder an ihre Pflicht erinnern, neue zukunftsbefähigte Generationen auszubilden.

Wir müssen klar stellen, dass, wenn ein Volk korrupt, die führende Klasse aber noch gesund ist, die Gesellschaft sich noch retten kann. Wenn aber das Volk gesund und die führende Klasse korrupt ist, gibt es keine Hoffnung mehr für die Republik und den Staat. Dadurch erklärt sich, warum viele Staaten und Kulturen verschwunden sind und andere Kulturen die Herrschaft übernommen haben.

Wir haben eine Liste historischer Personen aufgestellt, die Akademien gegründet haben: hier Großherzog Leopold der Erste von Toskana, Peter der Große in Russland, Kurfürst Friedrich III. v. Brandenburg, Christine von Schweden, oder in Frankreich, wo das Collège de France initiiert wurde. Als die Universität in eine Krise geriet und keine Forschung mehr produzierte, als sie steril wurde, wie beispielsweise an der Sorbonne, als die scholastische Philosophie eine dogmatische, unterdrückende Kraft geworden war, haben die Intellektuellen Franz den Ersten gebeten, das Collège de France zu gründen. So ist es in allen Akademien passiert, die unter unterschiedlichen Namen geführt werden. In Princeton heißt die Akademie z.B. The Institute for Advanced Studies, hier in Neapel eben das Institut für Philosophische bzw. für Historische Studien.

Dietzsch/Frigo: Irgendwie haben diese Akademien die gegenwärtig zu beobachtenden Exzellenz-Zentren vorangekündigt. Diese Zentren sollen sich jenseits des bürokratischen Apparats der Universitäten entwickeln, wo – schulförmig – nur ein schon tradiertes Wissen repetiert wird.

Marotta: Wir bilden interessierte Intellektuelle aus, die nicht wegen ihrer akademischen Karriere zu uns kommen, da wir keine Titel vergeben, sondern höchstens ein Zeugnis ausstellen. Die Universitäten hingegen sind korrupt. Dorthin gehen die jungen Menschen nur, um Notare, Banker, Kommunikatoren oder Denkwirtschaftler zu werden, um Geld zu verdienen, um Ökonomen zu werden, um sich nach dem Studium an die großen Finanzkonzerne zu verkaufen. Sie sind dann für die Kultur verloren. Wir hingegen haben echte Ökonomen ausgebildet, die bei uns viele Bücher geschrieben haben. Wir haben immer neue Wege geöffnet, was eben zu den Aufgaben jeder Akademie gehört. Im Auftrag der Wiener Akademie ist zum Beispiel der Bering-Kanal entdeckt worden, der Amerika und Asien verbindet. Viele große Entdeckungen wurden von den Akademien, nicht von den Universitäten gemacht. Das können heutige maßgebliche Politiker nicht so recht in ihre Alltagsarbeit für die Polis integrieren.

Dietzsch/Frigo: Um zum Thema des Philosophen und der Macht, der Philosophie und der Tyrannei zurück zu kehren: Die Akademien sind in der Regel autonom, sie entziehen sich der politischen Macht. In diesem Sinne können sie freie Forschung betreiben. Sie sind frei von den ökonomischen, militärischen und politischen Interventionen, die die Universitäten beeinflussen.

Marotta: Das entspricht dem Modell der platonischen Akademie. Plato gehörte zu einer der regierenden Familien in Athen. Er befragte seine Verwandten, die sich aber nur um ihre Geschäfte kümmerten. Also ging er zu den Händlern und zu den Handwerkern. Auch sie kümmerten sich nur um ihre Geschäfte. Dann verstand er, wie er im Siebten Brief schreibt, dass er nichts anders tun konnte, als eine von diesen Praktiken unabhängige Akademie zu gründen, damit, wie er schrieb, »eine Genossenschaft der echten und wahren Weisen zur Herrschaft im Staat gelange.« Er sammelte andere Interessierte, um eine neue führende geistige Klasse auszubilden, da es im damaligen Athen nach dem Tod von Perikles kein öffentliches Interesse an der Philosophie mehr gab.

Dietzsch/Frigo: Sie sagten bereits, dass die Kultur aus Süditalien der Weltkultur wichtige Impulse gegeben hat.

Marotta: Die süditalienische Kultur ging durch das Martyrium von Giordano Bruno und Tommaso Campanella hindurch. Letzterer wurde ins Gefängnis geworfen und mit Folterinstrumenten, die seinen Körper in die Länge zogen, zu Tode gequält. Er gab der Folter nicht nach. Andere wurden verfolgt oder verhungerten, wie Antonio Genovesi und Gaetano Filangieri (1752-1788), der von Karl IV. aus Neapel und danach auch aus Spanien abgeschoben wurde. Er ging über Mailand nach Frankreich. Als Napoleon erfuhr, dass die Familie Filangieri in Frankreich war, lud er sie zu sich ein und sagte zu Frau Filangieri: »Es ist für uns eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen, weil Gaetano Filangieri das Buch Die Wissenschaft der Gesetzgebung geschrieben hat, das auf allen Schreibtischen Europas steht. Es ist für uns eine große Ehre, die Erziehung Eurer Kinder finanziell unterstützen zu können.« Aus Neapel, von Gian Battista Vico (1668-1744) kam diese Idee einer Neuen Wissenschaft, der Gedanke der Historizität, der sich in ganz Europa verbreitete und den uns auch der Hegelianer Bertrando Spaventa wieder zumuten wollte.

Dietzsch/Frigo: Sie haben jetzt Napoleon zitiert. Sie sind auch Mitglied der Ehrenlegion, die von Napoleon gegründet wurde. Das haben wir aus der Liste Ihrer Veröffentlichungen und Preise sehen können. Das ist ein großes europäisches Ehrenzeichen!

Marotta: Ja, ich bin Frankreich sehr dankbar dafür. Aber noch mehr bin ich Deutschland dankbar, das mir die Goethe-Medaille verliehen hat. Ich bin auch Russland dankbar für die Medaille Peter der Große. Und ich bin der Sorbonne für ihre laurea honoris causae dankbar und auch der holländischen Königin, die mir die laurea honoris causae der Erasmus Universität verliehen hat. Ich habe der Königin vorgeschlagen, eine große europäische Akademie zu gründen, aber nach einer Vorlesung in Rotterdam bin ich von Vertretern der Regierung angesprochen worden, die mir davon abrieten, mit der Königin zu verhandeln. Das Parlament sei der Königin übergeordnet, die Königin sei viel zu reich und das Parlament werde sich gedemütigt fühlen, wenn die Königin eine Akademie gründete. Ich wollte keinen Affront gegen das niederländische Parlament begehen, daher reiste ich mit königlicher Ehre zurück in mein liebes Neapel.

Dietzsch/Frigo: Schade, denn im 18. Jahrhundert. förderten die aufgeklärten Souveräne die Künste und die Wissenschaften. Sie gründeten Institutionen oder Akademien. Aber zurück zu Bertrando Spaventa und seiner These, nach der die moderne Philosophie, die von Campanella und Bruno initiiert wurde, wegen der religiösen Persekution den reformierten Ländern zugeschlagen wurde, während das Risorgimento wieder nach Italien zurückkehrte. – Europa erkennt seit langem an, dass Neapel einen wichtigen Beitrag zur europäischen und globalen Kultur geleistet hat. In diesem Fall haben alle Institutionen und Akademien weltweit den Wert des Istituto anerkannt. Nicht nur, dass das italienische Denken sich hier frei entwickeln kann, Europa erkennt auch an, dass Sie etwas Neues hervorgebracht haben, das alle Europäer sich aneignen sollten.

Marotta: Ich würde mich freuen, wenn z.B. einige Texte, wie Theodor Sträters Briefe über italienische Philosophie auch in Deutschland weiter verbreitet werden könnten. Wir haben einige Briefe auf Deutsch publiziert. In der alten Universität Neapel haben wir die alte Hegel-Zeitschrift Der Gedanke gefunden, die auch für die weitere gemeinsame Arbeit zwischen Deutschland und Italien Anregungen bietet. Vielleicht sind auch die von einem Bonner Professor verfassten Korrespondenzen aus Neapel aus dem 19. Jahrhundert eine philosophisch zu entdeckende Novität.

Einmal kam Hans Georg Gadamer nach Neapel und veranstaltete ein paar Seminare über Neapel in Deutschland. Er sagte, dass er jedes Jahr, wenn er nach Neapel komme, das Gefühl habe, zu seinen tiefen kulturellen Wurzeln zurückzukehren. Wenn die Franzosen und die Engländer Gadamer berichteten, sie seien in Italien gewesen, dann fragte dieser: »Welche Stadt haben Sie besucht?« - »Mailand, Turin, Venedig, Florenz.« - »Und dann?« - »Wir sind bis Rom gefahren.« – »Aber haben Sie nicht Herder gelesen? Herder schrieb seiner Frau: ›Ich bin nicht lange in Rom geblieben, weil das italienische Mezzogiorno noch schöner ist. Neapel ist eine wunderschöne Stadt und ich werde dort lange bleiben.‹ – Und den Deutschen möchte ich sagen, sie sollen nicht in Rom stehen bleiben, sondern zu ihren kulturellen Wurzeln zurückkehren, zur Magna Graecia.«

Als Gadamer emeritiert war, fragte er den Rektor der Universität Heidelberg, ob er zwei Räume mit der Bibliothek an der Universität behalten könne, um weiterhin einige Seminare und Besprechungen mit den Studenten abhalten zu können. Der Rektor verneinte. Nachdem aber in der FAZ ein Artikel über das »Wunder in Neapel« und Gadamers gute Beziehungen zu der Stadt erschien, erlaubte der Rektor ihm, an der Universität zu bleiben. Gadamer wurde zuerst in Neapel bekannt, dann in Paris und später in den USA. Daher gratulierten ihm in Heidelberg zu seinem 100. Geburtstag alle Philosophen der Welt und die deutschen Politikern. Als er die Journalisten und Philosophen empfing, standen wir neben ihm. Er sagte, »meine Neapolitaner sind bei mir, Marotta ist bei mir.« Gadamer hielt 25 Jahre lang jedes Jahr Seminare am Istituto.

Dietzsch/Frigo: Erlauben eine andere neapolitanische Reminiszenz? Schätzen Sie den Schriftsteller, der hier in einer europäischen Schicksalsstunde gearbeitet hat – Curzio Malaparte? Ist er eine intellektuelle Größe für Sie?

Marotta: Seine Werke Die Haut oder Kaputt sind hervorragend! Ein Genie. Er wollte das Elend von Neapel nach dem Zweiten Weltkrieg beschreiben und wie die Neapolitaner sich durch das Schmuggeln mit den Zuständen arrangierten. Einmal sind die Amerikaner fast verrückt geworden, weil sie einen Panzer nicht mehr finden konnten. Sie fanden nur einige Teile und einen großen Ölfleck, da die Neapolitaner den Panzer sehr schnell in seine Einzelteile zerlegt hatten. Malaparte schaffte richtige Meisterwerke und machte Neapel bekannt, genau so wie Edoardo de Filippo die neapolitanische Folklore bekannt gemacht hat. Malaparte wollte das leidende Neapel nach dem Krieg, die Erfindungsgabe der scugnizzi beschreiben. Er war ein großer Schriftsteller.

Dietzsch/Frigo: Sie haben auch Eduardo de Filippo zitiert. Gibt es weitere Autoren, Schriftsteller oder auch Maler, die Sie schätzen, die Sie in Ihren Gedanken begleiten? Wir denken z.B. an dieses wunderschöne Bild Luisa Sanfelice in Carcere. Die Revolution von 1799 hat auch viele Kunstwerke, z.B. in der Malerei hervorgebracht.

Marotta: Neapel hat im 18. Jahrhundert nicht nur Philosophie produziert. Nachdem der König alle Intellektuellen und Patrioten zum Tode verurteilt hatte, verfolgte er Jahre lang auch die Kultur. Die Neapolitaner konnten sich kaum noch kulturell betätigen, keine philosophischen Bücher mehr schreiben. Aber das große Herz von Neapel stand nicht still, es suchte eine Zuflucht im Chanson. Die neapolitanischen Schlager wurden dann in der ganzen Welt berühmt. In Amerika, New York, Baltimore, Kalifornien werden Sie immer einen neapolitanischen Schlager hören, er reist durch die ganze Welt. Die Wörter und Melodien des neapolitanischen Lieds findet man in der ganzen Welt wieder. Und warum? Weil der unterdrückte philosophische Geist sich im Lied wieder Luft verschaffte. Das neapolitanische Lied ist Poesie und Philosophie. Auf den Schiffen, die die emigrierten Italiener nach den USA brachten, hörte man die neapolitanischen Lieder, die schönen Verse von Raffaele Viviani, Vincenzo Russo, Salvatore di Giacomo, von vielen anderen Dichtern. Es war die Rache des philosophischen Geistes. Ein Freund von Betrando Spaventa sagte einmal: »Wohin werden uns diese Gedanken führen?«; Spaventa zeigte auf San Martino, Castel Sant’Elmo: »Zu diesen Gefängnissen.« Der philosophische Geist wanderte also in die Lieder, die unübertroffen bleiben, die eine große Nostalgie für die verfehlte Revolution zum Ausdruck bringen. Benedetto Croce sagte: »Wenn diese Patrioten gewonnen hätten, wäre die europäische Kultur viel schöner und reicher geworden.« Europa ist also unterdrückt worden. Auch in der Provence bei dem Massaker an den Katharern ist etwas Ähnliches passiert. Der Geist der Provence ist in der provenzalischen Poesie geblieben. Der philosophische Geist von Neapel in den Liedern. Mit Spaventa, Labriola, Croce und diesem Institut wurde der Faden der Revolution wiedergefunden.

Dietzsch/Frigo: Gibt es aktuelle philosophische Strömungen, die Ihrer Meinung nach dem Institut nah stehen? Die dieser Tradition des Idealismus, der revolutionären neapolitanischen Junghegelianer folgen? Hegel wurde in Preußen nicht als Revolutionär gelesen, während Francesco de Sanctis, Pasquale Villari (1826-1917) und die anderen, bis hin zu Bertrando Spaventa und Croce eine Lektüre Hegels als Revolutionär entwickelten. Gibt es im aktuellen philosophischen Spektrum Positionen, die dem Institut und seiner geistigen Tradition nah stehen?

Marotta: Das ist eine Tragödie. Benedetto Croce sagte: »Ich wollte ein Institut für Philosophische Studien gründen. Aber: Warum habe ich ein Institut für Historische Studien gegründet?« Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Philosophie in Europa präsent. Es gab den Idealismus, den Marxismus, die Phänomenologie, den Existentialismus, den Positivismus. Da die Philosophie präsent war und da Croce mit Vico an die Einheit von Philosophie und Geschichte, an das Konzept der Geschichte als Synthese zwischen Philosophie und Philologie glaubte, wollte er lieber ein Historisches Institut gründen. Die Philosophen sollten nach Croce die historischen Dokumente analysieren und Geschichte schreiben: der Marxist eine marxistische Geschichte, der Idealist eine idealistische, usw. Ein Jurist schrieb im Bezug auf Croces Projekt: »Eine Kinderschar von Historikern wurde geboren.« Als wir unser Institut – 1975 – gründeten, haben wir uns von der akademischen Form des Instituts für Historische Studien inspirieren lassen. Ich zusammen mit Enrico Cerulli, Elena Croce und Giovanni Pugliese Carratelli haben aber ein italienisches Institut für Philosophische Studien gegründet, weil die Philosophie schon damals in einer Krise steckte.

Wir haben einen wichtigen Weg eröffnet. Zuerst haben wir Hegel von Heidegger befreit, behauptet Remo Bodei. Alle deutschen Philosophen, die damals Hegel erforschten, waren Heideggerianer. Sie lasen Hegel mit einer Heidegger-Brille. Die jungen Menschen wollten Heidegger. Wir haben Hegel befreit und diese angeblichen Hegelianer entlarvt, die in der Tat Kantianer waren. Heidegger sagte: »Dieter Henrich, ein großer Gelehrter und Präsident der Hegel-Vereinigung – aber leider ein Kantianer.« – Und wie ist die Situation heute? Der Angriff der analytischen Philosophie hat auch Deutschland erreicht, nach Amerika und England; überall finden Sie Institutionen, die diese analytische Engführung fächerübergreifend betreiben. Es überrascht uns, dass die Lehrstühle in Berlin von analytischen Philosophen besetzt werden. Oder in Bonn, wo es noch gute Philosophen gibt. Aber die meisten deutschen philosophischen Lehrstühle sind alle von der analytischen Philosophie besetzt.

Dietzsch/Frigo: Überrascht Sie die gute Nachricht, dass die Amerikaner inzwischen vielfältige Wege beschritten haben, Hegel zu erforschen? Sie lesen ihn noch häufig vom Standpunkt der analytischen Philosophie, aber sie haben den Wert und den Inhalt des Hegelismus jenseits der Sprachanalytik entdeckt. Die neue Bibliographie über Hegel weist zum größten Teil US-amerikanische Autoren aus. Klar, ihre Perspektive wird immer noch von der analytischen Bildung geprägt, aber es ist interessant, welche neuen Perspektiven sie bei Hegel wiederentdecken.

Marotta: Natürlich, wir kennen sie auch ganz gut. Wir haben einige dieser Hegel-Kenner eingeladen. Es sind aber nur wenige. – Es gibt eine hegelianische Tradition in den USA. In der Public Library in New York findet man alle Bücher von Spaventa und Hegel. Aber die Lehrstühle in Amerika sind von analytischen Philosophen besetzt und sie haben es geschafft, in Europa einzudringen. Es gibt in Deutschland nur noch einen namhaften Philosophen – in Regensburg hat er gelehrt hat – Imre Todt, der gegen die analytische Philosophie ist. Er hat wichtige Bücher geschrieben, um die Größe der Philosophiegeschichte zu beweisen.

Dietzsch/Frigo: In welchen Beziehungen steht das Institut von Neapel zu den Kulturen des Mittelmeers, zur arabischen oder jüdisch-christlichen Tradition? Vielleicht ist dies eine etwas abwegige Frage?

Marotta: Nein, nein. Wir haben arabische Texte über die griechischen Werke gesammelt, die verloren gegangen waren. Die Europäer kannten diese griechischen Texte nicht, während die Araber sie gesammelt hatten. Wir haben diese Texte herausgegeben, Forschungsstipendien vergeben und Konferenzen in Ägypten, in Tunesien, in Algerien und in Timbuktu organisiert. In Timbuktu, wie in vielen Orten Nordafrikas, gibt es Bibliotheken, die in großen Hallen in schlechtem Zustand gelagert werden, in denen es aber richtige Schätze, Manuskripte und Pergamente gibt. Die Rektorin der Sorbonne hat zusammen mit uns ein Forschungszentrum in Paris eröffnet, in dem wir Gelder für Stipendien gesammelt haben. Die Stipendiaten sind zu diesen Bibliotheken gefahren, haben die Manuskripte kopiert und Vorträge in Timbuktu gehalten. – Wir waren einmal in Timbuktu mit der Rektorin der Sorbonne und warteten mit unseren Stipendiaten auf den Bus. Der Bus wurde von Räubern angehalten, die den Fahrer erschossen. Durch die Intervention der französischen und italienischen Botschafter wurde die Regierung von Timbuktu dazu gebracht, die Stipendiaten zu retten.

Man muss diese Bibliotheken retten, die nach und nach von Spekulanten ausgeraubt werden, weil diese Manuskripte großen Wert besitzen.

Die Professoren des Istituto Orientale di Napoli kommen lieber zu uns, um Seminare zu halten, da hier das Publikum interessierter ist an der islamischen Kultur.

Dietzsch/Frigo: Das Institut spielt also auch für die Pflege der kulturellen Tradition im Mittelmeer eine bedeutende Rolle.

Marotta: Insbesondere für den Mittleren und Nahen Osten. Wir haben auch Vorlesungen über deren Kultur veranstaltet. Dort sind die Wurzeln der griechischen Philosophie. Bevor Pugliese Carratelli das Institut mitgründete, hatte er in Florenz Lehrstühle zur Erforschung der asiatischen Kultur etabliert. Bei der Gründung des Instituts brachte er eine seiner Studentinnen mit. Zusammen mit ihr, Frau Garbini, gab er die Edikte der Ashoka zunächst auf Englisch heraus.

Als der Sohn Alexander des Großen die persischen Kriegen beendete und zum Buddhismus konvertierte, ließ er die Edikte der Ashoka in allen indischen Dialekten auf alle Tempel schreiben, weil sie eine Botschaft des Friedens sind.

Pugliese Carratelli kannte zum Glück alle diese Dialekte und konnte die Edikte entziffern. Sie sind vor kurzem im Adelphi Verlag erschienen und wir haben Lesungen organisiert. Es gibt noch eine Menge Kunst in den arabischen Ländern, die gesammelt und gerettet werden sollte. Wir hätten gerne noch mehr gemacht, aber leider ist Carratelli gestorben. Unsere Beziehungen nach Peking lassen uns aber hoffen, dass das Projekt der Sammlung von Kunstobjekten aus dem Nahen und dem Mittleren Osten und aus Afrika weitergeführt werden kann. Die Regierung hat aber sowohl uns als auch den Universitäten die Finanzierungen gekürzt. Pugliese Carratelli hat die Gesellschaft Magnia Graecia gegründet, die für die archäologischen Ausgrabungen in Taranto und in Sardinien zuständig ist.

Wir stehen auch Israel und Palästina sehr nah. Auf dem Sinai haben wir palästinensische und israelische Wissenschaftler eingeladen und sie in Turin mit Sergio Furbini und anderen italienischen Wissenschaftlern bekannt gemacht. Wir haben sie dazu gebracht, sich zu umarmen. Wir haben eine große Veranstaltung des Friedens und der Wissenschaft organisiert. »Macht Frieden!«, sagten wir ihnen; »Wir sind Brüder«, sagten sie, »aber die politische und finanzielle Macht, die Atombomben, die gebaut werden ...« Da ist derzeit wenig Hoffnung.

Gerade für diese Widersprüche aber muss die Philosophie fruchtbar gemacht werden. Wie man das auch falsch angehen kann, zeigt die marxistische Philosophie. Insbesondere Friedrich Engels beging einen Fehler, als er sagte: »Die Philosophie ist Mutter aller Wissenschaften, also sollten diese die Aufgaben der Philosophie übernehmen.« Philosophie wurde dadurch auf eine Methodologie reduziert und das ist ein Fehler, da die Philosophie immer weitere Gedanken und neue Kategorien hervorbringen muss, damit alle Kulturen der Welt als verbunden gedacht werden können.

Dietzsch/Frigo: Vielen Dank, hochverehrter Avvocato, für dieses Gespräch. Ihr Tun und Ihr Leben zeigen, wie wichtig für die Polis im allgemeinen die Philosophie ist. Für Sie gilt insbesondere auch, was Sokrates über sich vor den Richtern sagte: »Dass ich aber ein solcher bin, der wohl von dem Gotte der Stadt mag geschenkt sein, das könnt ihr heraus abnehmen. Denn nicht wie etwas Menschliches sieht es aus, dass ich das Meinige samt und sonders versäumt habe, und es so viele Jahre schon ertrage, dass meine Angelegenheiten zurückstehen, immer aber die eurigen betreibe, an jeden einzeln mich wendend und wie ein Vater oder älterer Bruder ihm zuredend, sich doch die Tugend angelegen sein zu lassen.«

Literatur

GIORDANO BRUNO, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einem, Leipzig 1955, S. 38: für den wahren Philosophen ist jedes Land Vaterland
PLATON, Siebenter Brief, 326 b
PLATON, Apologie, 31b