I.
Aus der stattlichen Anzahl historischer Identifikationsangebote, die zur Vereinigung der europäischen Völker und ihrer Nationalakteure beitragen können, sei die Paidèia herausgegriffen. Παιδεία/paidèia klingt europäisch, scheint aber was Uraltmodisches und verdächtig Heidnisches zu sein. Dennoch hat Paidèia ebenso wie Europa keine integrale mythische Bedeutung. Obzwar sich der Prometheus-Mythos plausibel zuordnen sowie Europa und der Zeus-Stier gut vermarkten lassen. Die alteuropäische und spätrömische Paidèia ließ sich weder von der abrahamitischen Gotteserzählwelt und ihrem strapaziösen Exklusiv-Monotheismus, weder vom Judentum in Palästina, noch vom Christentum und seinem Mediator, noch im Frühmittelalter vom Islam beeindrucken, obwohl mittel- und neuplatonisches Schrifttum ins Arabische übersetzt und noch im 10./11. Jahrhundert weiterentwickelt wurde (Abū Naṣr Muhammad al-Fārābī/Alpharabius ca.870-950, Abū Alī al-Husain ibn Abdullāh ibn Sīnā/Avicenna ca.980-1037). Erst in der Hochscholastik (13. Jahrhundert) und während der Renaissance (15./16. Jahrhundert) änderte sich das in Europa. Bereits in seinem Erstling De ente et essentia (Über Sein/Seiendes und Wesen), verfasst um 1255 für seine Dominikaner-Mitbrüder, setzte sich Thomas von Aquin mit al-Fārābī, Avicenna, mit dem jüdisch-arabischen Solomon ben Jehuda ibn Gabirol/Avicebron (ca.1021/22-57), sowie mit dem spanisch-arabischen Arzt und Vernunft-Philosophen Averroës/Abū l-Walīd Muhammad b. Ahmad b. Muhammad b. Rušd (1126-98) konstruktiv auseinander. Die interreligiös kontrovers-publizistische und apologetisch-systematische Abhandlung des Aquinaten, später betitelt Summa contra Gentiles (Summe gegen Andersgläubige und Heiden), folgte um/nach 1270.
Rückgriffe auf neuplatonisch beeinflusste Paidèia, römische Kommunikationspädagogik, ihren Wertekanon und ihr rhetorisches Menschenbild sind heute zwar begründbar und aktualisierbar, aber wozu? Geht es ums Primat der Paidèia vor Religion und Region? Um EU-mitgliedstaatliche Kulturkompetenz? Oder gar um die Bejahung von Staatsethos? Wenn schon, dann ohne Vergötzung oder Verherrlichung formaldemokratischer Fassaden und Reglements. Wie Leistungsdruck und Zeitdruck bei der Qualitätsproduktion politischer Entscheidungen jedenfalls ein typisch europäischer Problemkreis, generiert von der Legitimationskraft der Staatsbürger. Paidèia bejaht und akzentuiert Personenrechte, ist wesentlich pluralistisch, pluri-ethnisch, pluri-kulturell, rational-enzyklopädisch, aber nicht wertfrei und nicht zentralistisch sondern dezentral komponiert und rafft nicht bloß omnia ex omnibus zusammen. Paidèia bedeutet das offene Tor der Welt, unabdingbar, ist jedoch kein additiv konzeptionsloses Multikulti aus gebildeter und ungebildeter Mitwelt, keine Spaßgesellschaft. Bildungsfortschritte im Sinne von Paidèia sind persönlich zu erwerben. Erziehung und bindende Führung bedeuten Anstrengung, im Sinne der Paidèia lebenslange Anstrengung, Mühe, Übung, ethische Festigung, sachliche Angemessenheit, Ausbalancieren von Emotion und Kognition mit Einstellungsvariantenänderungen, Gefahr der Marginalisierung, auch Verzicht und Zwänge. Menschenreich, Nous, göttliche Weltvernunft (heute: Intelligent Design) und Götterwelt werden auseinandergehalten, die Differenz von Aletheia und Doxa bewahrt, ohne etwaige Einsichten in die eine oder andere Richtung zu blockieren. Paidèia sträubt sich nicht gegen verbriefte Rechte. Gleichheit vor dem Gesetz, bürgerliche, politische und wirtschaftliche Freiheiten, Staatsethos und Werte wie Arbeit, Libertas, Freundschaft, Humanität und Menschenwürde, Concordia, Conscientia, Consilium, Cura (Sorge und ordnende Kraft), Solidarität, Iustum bellum, Moderatio, Officium, Pietas, Pax (Frieden als gesicherter Rechtszustand), Urbanitas, Vorfahren, Virtus, nicht zu vergessen Leges, Iura, Iudicia, Tranquillitas, Securitas, um einige zu nennen. All diese schönen Werte werden nicht automatisch durch den Markt erzeugt. Der Markt allein generiert weder Solidarität noch Subsidiarität. Politik muss Macht dafür mobilisieren, damit sich die Renaissance pluralistischer Paidèia durchsetzt. Sonst wird der Einfluß ressourcenreicher, quasi-staatskirchlich privilegierter Religionen auf Politik und Gesellschaft unverhältnismäßig zunehmen. Tolerant, nicht indifferent zielt Paidèia weder auf Aleatorik, noch auf Leitkultur oder etwas Nationalkulturelles, setzt jedoch pluralitätsfreundliche Nationen voraus. Regional und intergouvernemental lässt sich mit Paidèia in Europa Staat machen. Wie eine unerkannte Kulturmacht oder ein ignoriertes Superstrat gestaltet Paidèia Europa mit, weit weniger pompös als die psalmodierende Polittheologie.
Paidèia gilt hier als heterogenes, nicht harmonisiertes, transformationsfähiges Arrangement von konzertanten, konkurrenziellen, komplementären Bildungs- und Wertsystemen, Künsten, Sportarten, Wissenschaften, Wissensformen mit graduell unterschiedlich gewichteter Respektierung bestimmter Interpretationskulturen und Traditionen, je nach Überlieferungsniveau, Standpunkt und Perspektive. Lineamenta, Umrisse und Zugänge zur res-publica-orientierten, pluralistischen, freiheitlich-demokratischen, konkurrenziellen und komplementären, konzertanten, konfliktträchtigen, spannungsreichen, europäischen Paidèia kommen nicht ohne Rückgriffe auf römische, hellenistische, mediterrane und nicht zuletzt abendländische Kultur-Essentials und ihr rhetorisches Menschenbild aus. Es ist in der antiken Menschheitsidee verankert und bezeugt den Primat der Paidèia vor einer einzelnen, alleinseligmachenden Religion oder einer prädominant tonangebenden Region, Aristokratenkohorte oder Priesterkaste mit offenen oder elegant kaschierten Dogmatisierungs- oder Totalitätsansprüchen. Diese nicht nur auf den ersten Blick disharmonisch komplementäre, insgesamt jedoch ausbalancierend und harmonisierenderweise identitätsstiftende Betriebsspannung ist freilich irritierend und widersprüchlich.
Gleichwohl sollen Paidèia und ihre Abgrenzungen, alteuropäische Entwicklungslinien, Erneuerungsbemühungen und Umwege hier nicht in extenso ausgewalzt werden. Nur wenige programmatische Punkte kommen zur Sprache. Frageinteresse bleibt: was ist daran aktualisierbar, und was erscheint (mit allerlei Einschränkungen) überzeugend? In der Rückschau erweist sich Paidèia zwar als erstaunlich pluralistisch und toleranzfähig, aber leider nicht als kontinuierlich strahlende, Toleranz praktizierende, kulturreproduzierende, suprainstitutionelle Verbindlichkeit, also ebenfalls als pervertierbar. Im christlich-jüdischen Interpretationszirkus rangiert Paidèia allerdings despektierlich als etwas ›Heidnisches‹ voller absurder Cartoons und pervertierter polytheistischer Bestimmungsstücke. Geht es also um obsoletes Heidentum als aufpolierte Bildungsprogrammatik mit europapolitischem Integrationspotenzial? Das sogenannte ›Heidnische‹ als das, was übrigbleibt, wenn man die Eliten, Tempel, Ressourcen und Riten intelligibler und tradierter Konkurrenzreligionen abfackelt sowie sozial zerstört und die dann immer noch verbliebenen, nicht mehr komplett aus der Welt zu schaffenden Überlieferungsrelikte quellenmanipulativ ins Dämliche oder Diabolische umdefiniert und umwertet.
Paidèia rangiert als Sammeltitel für teils vorchristliche, teils engagiert nichtchristlich-nichtjüdische, überwiegend nicht-monotheistische, pluri- bis polytheistisch orientierte, jedenfalls nicht-totalitäre Erziehungsanstrengungen und Bildungscurricula, die die Einmaligkeit und Verschiedenartigkeit, mithin Identität, Differenz, Gegensätzlichkeit, Widersprüchlichkeit, auch die Originalität, Ungleichheit und Unwiederholbarkeit, damit die konkrete Existenz von Individuen und ihrer jeweiligen empirischen wie spirituellen Persönlichkeitsentwicklung akzeptiert, fordert und fördert. Monotheismus, z.B. im Design des Mithraismus oder Sol invictus, eine Art Monolatrie, wird andererseits akzeptiert. Also kein Einheitsbrei. Evidenterweise artikuliert Paidèia einen Schlüsselbegriff zum Verstehen antiker, graeco-mediterraner und zum nennenswerten Teil europäisch-römischer Kultur. Diese uneinheitliche, Gegensätze in sich verarbeitende, widerspruchserprobte Paidèia hält die Sensibilität für musikalische, pädagogische und religiöse Pluralität wach. Ergo: kein Abonnement auf absoluten Monotheismus und sündhaft teure Konkordatspolitik. Sondern viel Sensibilität für real Versagtes. Etwas für selbstbewusste, stolze Europäer und weniger etwas für Parteipolitiker mit Herrgottswinkel-Mentalität.
II.
Paidèia statt Polittheologie: Ein prototypisches Paidèia-Segment, wenn nicht ein Leitmotiv lässt sich aus der dritten Relatio (9. und 10. Abschnitt) des Senators und Stadtpräfekten von Rom, Quintus Aurelius Symmachus (ca. 342/345 bis 402/403 ? n.Chr.) ableiten. Symmachus war zweifellos ein Protagonist spätrömischer Toleranz, respektierte die überlieferten Kulte und Gottheiten sowie deren Spiritualität in zeitgemäß neuplantonisch-philosophisch vermittelter Form und setzte sich im Jahr 384 n.Chr. für die Wiederaufstellung des Victoria-Altars im römischen Senatsgebäude vor dem noch minderjährigen, 371 in Trier geborenen, römischen West-Kaiser Valentinian II. ein. Wobei es lediglich um das personifizierte Sieges-Symbol ›Victoria‹ ging, nicht etwa um eine bestimmte göttliche Entität der zwölf Dei Consentes oder ein Exemplar aus dem Kreis der zahlreichen weiteren römischen Götter und Geistwesen:
»Nach meiner Lebensweise möchte ich leben, weil ich frei [und nicht als Sklave geboren] bin! … Es ist gerechtfertigterweise akzeptiert, dass gerade dies, was alle [Menschen] pflegen und verehren, als Eines [etwas alle integral Umfassendes angesichts der Vielheit von Verehrungsformen] anzusehen ist. Wir sehen die gleichen Sterne an, der Himmel ist uns gemeinsam, dasselbe Weltall schließt uns ein. Was ist so wichtig daran, mit welchem [noch so ambitionierten] Lehrsystem (prudentia) ein jeder die Wahrheit sucht? Nur auf einem [einzigen] Weg zu solch einem erhabenen [kosmologischen] Geheimnis zu gelangen, das ist nicht möglich«.
Der römische Stadtpräfekt und Senator Symmachus scheiterte bekanntlich an Interventionen intolerant-restriktiver christlicher Polittheologen, die in der Folgezeit die pluralistische Paidèia mit ihrer Glaubensvielfalt und wissenschaftlich fundierten Kritikfähigkeit gegenüber dem Christentum mit nicht gerade zimperlichen Mitteln komplett abwürgen konnten. Christenkritische Schriften wurden verbrannt, konkurrierende Kulte eliminiert, deren Repräsentanten desavouiert und entrechtet. Ein Beispiel: Die 15 Bücher umfassende Schrift des neuplantonischen Gelehrten, Plotin-Herausgebers und Religionskritikers Porphyrius/Πορφύριος (geb. ca.233 in Tyros, † um 301/305 in Rom) Katá Christianōn/Gegen die Christen, zu datieren zwischen 268 und 279 »ist bis auf wenige Fragmente verloren. Bereits Constantin der Große hatte auf dem Konzil von Nicäa ihre Vernichtung angeordnet, die letzten Exemplare wurden auf Befehl der Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. [zur Mitte des 5.Jahrhunderts n.Chr.] vernichtet... Ihre Gefährlichkeit läßt sich auch daran ersehen, daß von christlicher Seite umfangreiche Gegenschriften erschienen, von Eusebius von Caesarea (25 Bücher), Appolinaris von Laodicea (30 Bücher) und vielleicht auch von Hieronymus« (Gyot/Klein 1997, II: 345 f.). Von Porphyrius' akribisch-systematischem Werk »Gegen die Christen« sind sämtliche Abschriften und Handschriften mit staatlicher Unterstützung eliminiert worden.
Und heute? Die in Europa bildungsgeschichtlich aufzählbaren, alteuropäisch indogermanischen, keltischen, skandinavischen oder slawischen Religionen, gleichermaßen wie die drei großen, in Europa heimisch gewordenen, orientalisch-mediterranen, monotheistischen Mysterienreligionen mit ihren zahlreichen Derivaten und definitiven oder verschleierten Absolutheitsansprüchen spielen in zeitgenössischen, westlichen Bildungs-Curricula, z.B. zur Medienpädagogik und Politisch-Rhetorischen Kommunikation keine wirklich tragenden Rollen mehr. Aus religiösen Posaunen sind Bratschenstimmen geworden. Und trotz ziemlich aufwendigem, intensivem Verlautbarungsjournalismus beim abgelehnten EU-Verfassungsvertrag von 2004 spielte der vormals engagiert diskutierte ›Gottesbezug‹ eine nachhinkende, projektive Optionsrolle in seiner Präambel (C 310/3). Er wurde mit übernommen in den Vertrag von Lissabon 2007 (C 306/10), der als völkerrechtlicher Vertrag seit 1.12.2009 in Kraft getreten ist. Was de facto bleibt, ist eine höfliche, aber sehr weit ausholende Referenz aufs facettenreiche »kulturelle, religiöse und humanistische« Erbe Europas, eben keine völkerrechtsvertraglich abgesicherte Prädominanz der christlich-jüdischen Traditionslinien im Rahmen der EU, weder ein singulärer Gottesbezug noch ein Götter-Bezug. Im Wortlaut:
»SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben« (Amtsblatt der EU, 17.12.2007, C 306/10 DE). Was im Einklang steht mit den detaillierten Antidiskriminierungsformeln im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art.10 und Art.18-25 (AEU-Vertrag). Nicht nur eine prätentiöse Invocatio dei, sondern schon eine scheinbar beiläufig mitformulierte, ›diplomatischere‹ Nominatio dei hätte zahlreiche Querschnittsaufgaben, die die EU bei all ihren Tätigkeiten zu berücksichtigen hat, verletzt, vereitelt oder ad absurdum geführt. Das vielzitierte christliche Fundament Europas als Geltungsbedingung einer etwaigen europäischen Verfassung oder eines völkerrechtswirksam vergleichbaren Konstitutionsvertrags bleibt vorerst und wohl dauerhaft eine Illusion. Die EU fußt auf keinerlei spezifizierter Polittheologie oder Theodizee.
EU-gemeinschaftliches, EU-mitgliedstaatliches Handeln oder supranationales oder internationales politisches Agieren, intellektuelle und soziale Zeitkommunikation bedarf keiner göttlichen Zustimmung. Verhältnisse von Spiritualität und Technologie werden in unserer Zeit ohnehin nicht als Kernfragen angesehen. Moderne, intellektuell und sozial verfaßte Paidèia hat anscheinend schon einen Primat gegenüber nationalkulturellen und monoreligiösen Menschenbildern und Identitätsorientierungen errungen, obgleich die Vielheit religiöser Traditionen und nationalkirchlicher Verehrungsformen teils folkloristisch, teils aus wohlbegründeter Toleranz respektiert wird. Die damit umschriebene, libertas-zentrierte Grundhaltung an praktisch-republikanischer Toleranz ließe sich in gewisser Hinsicht als neosymmachianisch charakterisieren. Unabhängig davon, ob vielen Europäern, die eine vage, interreligiös-pagane, aber konstruktive, als neosymmachianisch dechiffrierbare Einstellungshaltung vertreten, die zugrundeliegenden, neuplatonisch-synkretistischen Kerngedanken vertraut sind. Diese moderate, defensive bis resignative Attitüde wird hier wieder aufgegriffen. Pluri-kulturell respektierende Identität wird als etwas Gutes, Realistisches, typisch Europäisches und Res-Publica-Angemessenes angesehen. Sogar im monarchischen, spätrömischen West-Reich waren einzelne Herrscher bemüht, sich mit tradierter Paidèia zu arrangieren.
Im Codex Theodosianus (des 5.Jahrhunderts n.Chr.) ist dies sogar von Kaiser Constantin († 22.5.337) klar überliefert. Betitelt De Longa Consuetudine, wird aus einem von Kaiser Constantin erlassenem Edikt berichtet, das an Maximus [Aemilius?], praefectus praetorio Galliarum gerichtet ist. Darin schreibt Constantin verbindlich fest, dass es künftig darauf ankomme, die alten Sitten und Überlieferungen beharrlich zu pflegen. Und deswegen sollen die althergebrachten Einrichtungen (besagt: die tradierten, nichtchristlichen Einrichtungen und Kulte), soweit kein gravierendes öffentliches Interesse dagegensteht, kontinuierlich in Geltung bleiben. [Cod.Theod. 5,20,1: Venientium est temporum disciplina instare veteribus institutis. Ideoque cum nihil per causam publicam intervenit, quae diu servata sunt permanebunt.]
Civis Europaeus sum, obzwar ich weiß, dass es ad hoc weder einen europäischen Bundesstaat noch ein Unionsvolk im Framing einer EU-Verfassung gibt. Jener entscheidende, verfassungsgebende Schöpfungsakt eines europäischen Staatswesens, begründet durch das zutreffend definierte europäische Staatsvolk, lässt weiter auf sich warten. Weder pluralistische Paidèia allein, noch gar die politische Bildungsarbeit der parteinahen Stiftungen kann dies herbeiführen oder durch bloße Verhandlungsverbindlichkeiten ersetzen. Mitbedingt durch gemeinsame Kulturanthropologie, Kommunikationspädagogik, Rhetoriktraditionen, Theorien- und Technikgeschichte bildet die stets upgradefähige europäische Paidèia den ostinaten Bass in Bildung, Pädagogik, Medienkommunikation und politischer Öffentlichkeit. Wenngleich sie vielfach unerwähnt oder unexpliziert bleibt. Europäische Paidèia ist gestaltungspluralistisch, rationalenzyklopädisch, aber nicht wertfrei komponiert und rafft nicht bloß omnia ex omnibus zusammen. Paidèia ist kein additiv konzeptionsloses Multikulti dennoch nicht nationalkulturell, eher regionenübergreifend und transnationalkulturell. Wogegen die Multikulti-Ideologie, die nur eine vorrangige Reflexionsbestimmung, die Verschiedenheit, ein zweistelliges Prädikat mit äußerlichen Momenten favorisiert, als barbarisierende und dissoziierende Dekulturationsstrategie mehr oder weniger abzulehnen ist. Die Multikulti-Ideologie verhält sich mengentheoretisch; sie ist nicht mit Paidèia gleichzusetzen; sie setzt zwar Gleichheit und Ungleichheit neben Identität, Differenz und numerischer Konkretheit voraus, bezieht sich aber nicht plausibel darauf, expliziert gerade nicht, wie die vielen Verbindungen zwischen Verschiedenheiten zu bestimmen, zu konkretisieren und charakterisieren sind, auch nicht Destabilisierendes, Gegensätzliches oder Widersprüchliches daran. Die Multikulti-Ideologie radikalisiert und vereinseitigt eine einzige reflexionslogische Kategorie und redet abstrakt. Multikulti müßte jedoch zwingend mehrere Anwendungskriterien auf jede Menge komplex zusammengesetzter Realverhältnisse beinhalten. Welche Ganzheit will Multikulti konstruieren? Die reflexionslogisch sinnvolle Kategorie der Verschiedenheit bzw. Verschiedenartigkeit wird additiv radikalisiert und das quantitativ resultierende Konglomerat zur höchsten Kategorie, zum wirklichen Gott hochstilisiert. Von Staatsvölkern ist dann nicht mehr die Rede. Frei geborene, pluri-kulturell lebende Europäer in eine formlose Masse desorientierter Globalisierungssklaven zu verwandeln, dürfte jedoch kaum im erkennbaren Interesse der meisten Menschen in Europa liegen.
Vom derzeitigen Status quo der EU wäre angemessen aktualisierte Paidèia sicher nicht auf einen Streich herzuleiten. Gewiss lässt sich Paidèia sinngemäß als Rahmenkategorie in der Präambel zum Vertrag von Lissabon und in vielerlei EU-Querschnittsaufgaben wiedererkennen und konstruktiv zuordnen, implizit. Zwingend ist es nicht, aber im Dreitausend-Jahre-Kontext Europas sinnvoll. EU-Europa ist auf eine heterogene, konkurrenziell-komplementäre Res-publica-Gemeinschaft hingeordnet, die in der Lage ist, konfligierende, konträre, sogar inkommensurable Überzeugungen, Religionen und Wertvorstellungen auszubalancieren, ohne dabei unterzugehen. Krisenbewältigung funktioniert auch, weil die EU kein irreparabel verbürokratisierter Zentralstaat, auch keine supranational entgrenzte und verschleierte Tyrannis, eben keine ›EUdSSR‹ ist.
Obgleich Grauzonen politischer Legitimität und fragwürdig delegitimierend herbeigetrickste EU-Verbindlichkeiten darin kaum zu verkennen sind. Dort, wo es eingeübte, praktizierte pluralistische Paidèia und entsprechende Partizipationschancen gibt, funktionierende, nicht nur formalisierte Plebiszit-Verfahren (Bürgerentscheide), werden weniger Opponenten und Repräsentanzkommunikatoren bei fragmentarisch und problematisch legitimierten Ad-hoc-Konfrontationen zusammenstoßen.
Seit der Antike bejaht Paidèia die Andersheit des Andern. Und Paidèia erzieht zur Skepsis gegenüber simplen politischen Bandwagon-Effekten. Krethi und Plethi wollen stets auf der Siegerseite der Politischen Kommunikation stehen und sind meistens bereit, allerlei Ritualschlachtungen dafür in Kauf zu nehmen. Falsch wäre es zu leugnen, dass einflussreiche Gegner der pluralistischen Paidèia existieren, z.B.: Teile der Administrations- und Funktionseliten, Feudal-Adel und zuzuordnende Monarchisten, Territorialnationalisten und Volksgruppen-Verächter, demokratisch nicht-legitimierte, usurpatorische Gremien und Kontaktgruppen, mafiöse Akteure und Verbrechergruppen, Anarchisten, Zentralisten, Terroristen, nicht zuletzt auch staatskirchliche Protagonisten. Europäische Staaten und Staatsgebilde, auch die EU, sollten keine Konkordate bzw. privilegierende Verträge mit Religionsgemeinschaften abschließen dürfen. »Jeder (soll) nach seiner Façon Selich werden«, wie der Preußenkönig Friedrich II. im Jahr 1740 feststellte.
III.
EU-Europa entwickelt sich als rationale menschliche Gründung. Auf jeden Fall als wertgebundene Ordnung mit Defiziten, konfliktbejahend und kooperativ, trotz aller Krisenrhetorik. Ohne humanitas, libertas, concordia, dignitas, verecundia, virtus und constantia bliebe diese Res publica Europaeorum sogar per consensum Europaeorum unerreichbar. Als zwischenstaatliches Gebilde von derzeit 27 Vaterländern (mit Kroatien ab Juli 2013 dann 28) einschließlich kolonialzeitbedingter überseeischer Hoheitsgebiete ist die EU grob skizzierbar: legitimiert ist sie degressiv-proportional mit signifikanten Demokratiedefiziten. Organisiert ist sie intergouvernemental und technokratisch-funktionalistisch. Alles andere als ein leicht vermittelbarer Kosmos. Kein originäres, sondern ein derivatives Völkerrechtssubjekt. Seine sogenannte Kompetenzkompetenz zur Gestaltung politisch-rechtlicher Zuständigkeiten verbleibt bis auf weiteres bei den die EU konstituierenden Mitgliedsländern, bei den derzeit 27 Nationalstaatsgebilden mit unterschiedlichem Demokratisierungsgrad. 7 konstitutionelle Monarchien sind in die EU eingebettet, in dieser Form ein operettenhafter, opulenter Ballast. Trotz dieses mehr als fragwürdigen systempolitischen Impacts nimmt die EU allmählich die Gestalt einer supranationalen Res-Publica-Gemeinschaft an.
Zweifel sind angebracht, ob das gutmenschlich verständliche Konzept der (aleatorisch-quantitativen?) Zivilgesellschaft und der ›Zivilität‹ des politisch-sozialen Handelns in Europa wirklich greift. Die Konzeption einer Zivilsocietät im Unterschied zur Res publica findet sich schon im Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft von Jürgen Habermas (1962) mit Querverweis auf einen angeblich ›klassischen Begriff‹: die societas civilis (nach Manfred Riedel, Aristotelestradition am Ausgang des 18.Jahrhunderts). Auch wenn man Traditionslinien, Fortschreibungen und Interpretationen basierend auf Aristoteles-Latinus und Aristoteles-Graecus beiseite lässt, dürfte das angreifbar sein. In weiteren Arbeiten wie Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit (1992), oder in Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie (2006) wird dem hergeleiteten Zivilgesellschaftskonzept eine unverhältnismäßig aufklärerische Bedeutung beigemessen. Zwar lässt sich altgriech. koinōnia politikē im Hinblick auf Aristoteles/Politik,I,1252a in ›eine Art von politischer Gemeinschaft‹ übertragen, die man weiter umschreiben könnte mit ›eine politische Gemeinschaft von Freien und Gleichen (d.h. von ausgewählten Bürgern: z.B. Hausherren) mit synchronisierbaren Mentalitäten, Tugenden, Zielen und Glücksvorstellungen‹. Wobei es sich im Corpus Aristotelicum nicht etwa um einen Fachbegriff handelt, sondern um das zustimmungsfähige Aufzeigen von Aspekten des praktischen Lebensvollzugs. Civilitas ist im römischen Traditionsstrang an staatsbürgerlich klar definierte Rechte gebunden. Diese Civilitas mit ›Zivilität‹ ins Gegenwartsdeutsche zu übertragen und einfach ein Integral oder irgendeine große, zivilgesellschaftlich organisierte oder versammelte Menge damit zu bezeichnen, wäre nicht nur grotesk, sondern irreführend. Wenngleich das Bedeutungsfeld von civilitas nicht fachjargonhaft eingrenzbar erscheint, bleibt es fest an den staatsbürgerlichen Rechtsrahmen gebunden, gerade auch dann, wenn politische Öffentlichkeit, Staatskunst, staatsbürgerliche Angelegenheiten inbegriffen sind, oder ein vir civilis (politischer Redner) mit konkreter Rollenunion und appropriierter oder legitimierter Kommunikationsrepräsentanz agiert. Heutige Begriffskonnotationen von Konzepten über Zivilgesellschaft zielen jedoch auf anders gelagerte Zusammenhänge zur meinungs- und willensbildenden Rolle aller Bürger bei öffentlichen, überregionalen, nationalen, internationalen bzw. transnationalen oder aggregatdemokratisch-transversalen Diskursen, um Einfluß auf institutionalisierte Entscheidungsabläufe zu gewinnen. Ins Erkenntnisinteresse geraten nicht nur unmittelbar wahrnehmbares Engagement, sondern humankommunikativ komplexe, mehrfachvermittelte Aspektierungen, Dimensionierungen, Delegitimierungsfragen, Interrelationen, Segmentierungen, Rücksichten, Ressorts und Sparten von ›Public Communication‹, was kein festes Sozialgebilde darstellt. Darin geht es maßgeblich um rhetorisches Engagement und Repräsentanzkommunikation, wofür als ideengeschichtliche Anknüpfungskategorie die Res publica besser passt als eine prekär konstruierte Amplifikation und Drechselei mit dem angeblich ›klassischen‹ Begriff von Zivilgesellschaft als definierbarem sozialen Gebilde mit aufklärerisch-konsensualistischer Grundorientierung, trotz fragmentierend unsteter Publica.
Auch die derzeit eher missachtete Paidèia verweist auf eine Aufklärungs- und Superstrat-Funktion in Europa, asymmetrisch, institutionalisiert, individuell und selbstbestimmt, nicht en gros egalitär radikalisiert, sondern partikularisiert, gemeinwohlorientiert und mit formalisierten Vertretungsmechanismen personal verantwortlich angewandt. Medientechnisch modifizierte und etappenweise neu justierte Verhältnisse von plebiszitärer und parlamentarischer Demokratie, Effizienz, Partizipation, Repräsentanz, Transparenz, Willensbildung, Durchführung und Controlling defizitärer Realisierungen, dies zählt zum normalen, europäischen Reformpotenzial. Postdemokratie? ˗ gibt es vielleicht woanders, aber die permanente Aktualität des Prometheus-Mythos eignet sich gut als explikationsfähiger Anknüpfungspunkt, zusammen mit europäischen Kardinaltugenden. Zu den heutigen, europäischen Paidèia-Tugenden zählt nicht zuletzt das Erlernen von Transfersprachen. Wie soll man sonst dem Kenntnismangel der vielen Völker übereinander abhelfen? Lingua-franca-Kommunikation weist eine gemeinschaftskonstituierende und gemeinschaftsfördernde Qualität in Europa auf. Und bei ad hoc 23 EU-Amtssprachen (ab Juli 2013 voraussichtlich 24) ist Lingua-franca-Kommunikation ebenso notwendig wie die pluralistisch konstituierte Paidèia, nicht allein ihre alte Beharrlichkeit. Was wäre gegen einen europäischen Patriotismus, der sich global behaupten muss, einzuwenden? Die Einigung der Völker Europas und ihrer europarechtsfreundlichen Nationalakteure war nicht nur eine überkommene politische Idee des 20. Jahrhunderts. Warum soll die EU-Staatsbürgerschaft nicht bald die erste Staatsbürgerschaft werden? Und nicht bloß als Wurmfortsatz soundso vieler nationaler Staatsbürgerschaften ad Calendas Graecas mitfolgend geduldet sein?
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