Ronald Perlwitz
Eheglück und Tabu

Von dem Mann geht Unbehagen aus. Niedergestreckt durch einen Schlaganfall ist er seines Körpers nicht mehr mächtig. Eine Fliege, die auf seiner Nase sitzt, lässt sich nicht einmal verjagen. Da er ein berühmter Maler ist, wohl der berühmteste marokkanische Maler, kommen Freunde zu ihm, besuchen ihn, sprechen ihm Mut zu. Blickt er aber in ihre Augen, beginnt ein Vorgang des gegenseitigen Bespiegelns. Im Blick der Freunde nimmt sich der Maler als Karikatur seiner selbst wahr, die Besucher aber sehen in dem paralysierten Körper das Spiegelbild ihrer eigenen Hinfälligkeit: »Vielleicht sahen sich die Besucher an seiner Stelle, für einige Sekunden betrachteten sie sich in einem Spiegel, der ihnen hingehalten wurde; sie sagten: "und wenn mir das eines Tages passieren würde, wäre ich dann nicht so, würde ich dann nicht in einem Rollstuhl sitzen, den ein gesunder Mann schiebt«. (Peut-être que ses visiteurs se voyaient à sa place, s’observant durant quelques secondes dans un miroir qui leur était tendu, disant: « Et si ca m’arrivait un jour, je serais ainsi, assis dans un fauteuil roulant poussé par un homme en bonne santé ? » - Ben Jelloun 2012, S. 25)

In Gang gesetzt wird der Vorgang einer Introspektion. Seit er nicht mehr malen kann, verbringt der Mann seine Zeit damit, »zu träumen und das Leben neu zu erfinden« (»il passait son temps à rêver et à réinventer la vie« - Ben Jelloun 2012, S. 35). Ein alter, ein wenig angestaubter Künstlertopos taucht wieder auf. Zwar weiß der Roman vom Erfolg des Malers zu berichten, von Reisen nach Mailand, nach New York, nach Shanghai, nach Monaco, von einem gesellschaftlich erfüllten Leben in der Kunstmetropole Paris, von wilden Liebschaften und Heirat, doch am Ende steht die Einsamkeit, die Perspektive des versehrten, allein gelassenen Künstlers. Des Vetters Eckfenster (1822) scheint auch in Marokko den Blick auf die Welt freizugeben: »er stellte sich vor, in einer kleinen Hütte zu leben, von der aus er die Welt betrachten könnte, ohne selbst gesehen zu werden« (»Il aimait se dire qu’il vivait dans une petite cabane d’où il pouvait regarder le monde sans être vu.« - Ebd.). Der Schmerz, den der Künstler im neuen Roman von Tahar Ben Jelloun empfindet ist nicht nur ein physischer. Der Maler, sein Name wird nicht genannt, sieht sich als Opfer, von Neid, Missgunst, Stress und besonders seiner Frau. Schon sein Vater hatte ihn gewarnt: »früher oder später wirst du die Zielscheibe frustrierter Menschen sein; erscheine nicht zu sehr; sei diskret; vergiss nicht, was der Prophet sagte: keine Extreme, das Beste ist die Mitte!« (»Tôt ou tard tu seras la cible des gens frustrés; n’apparais pas trop; sois discret; n’oublie pas ce que disait le Prophète: pas d’extrême, la meilleure des choses, c’est le centre!« - Ben Jelloun 2012, S. 72). Die arabische Angst vor dem bösen Blick schwingt hier mit. Doch nicht nur. Es ist auch die Angst vor der Eifersucht der eigenen Frau. Dem ungeschriebenen, aber doch so gerne befolgten Gesetz arabischer Gesellschaften folgend hat der Maler eine jüngere, eine sehr viel jüngere Frau geheiratet. Er war 40, sie Mitte 20. Die Rolle, die ihr zukommt, ist bestenfalls die der Muse. Sie steht im Hintergrund, soll bei offiziellen Empfängen, bei Vernissagen dem Maler als schöne Staffage dienen. Sogar den Haushalt eines zeitgenössischen Künstlers hat die komplementäre Geschlechtersemantik fest im Griff. Die Hochzeit deutete es bereits an: die französischen Freunde des marokkanischen Paares sind, als sie die Hochzeitsbilder sehen, hellauf begeistert: »oh! Wie aus 1001 Nacht! Wie hübsch die Braut ist! Wie jung sie ist! […] Und all dieses Glück in ihren Augen« (»Oh! On dirait Les mille et une nuits! Qu’elle est belle la mariée! Qu’elle est jeune! [...] Et tout ce bonheur dans vos yeux!« - Ben Jelloun 2012, S. 302). Doch das Glück ist vergänglich und schon bald begnügt die Frau sich nicht mehr mit der Rolle im Hintergrund, mit der Rolle im Haushalt an der Seite der Kinder. Es sind nicht nur die Liebschaften ihres Mannes, die sie aufbegehren lassen, sie will teilhaben an seinem Erfolg, ihren Anteil an seinem künstlerischen Höhenflug, den er – so glaubt sie zumindest – ihr zu verdanken hat. Ein Streit, ein besonders heftiger Streit zwischen den beiden Eheleuten ist die Ursache des Schlaganfalls. Seitdem kann der Maler kaum noch seine Beine, seine Arme bewegen und diktiert seine Impressionen einem Freund, der ihn auf seinem inneren Weg begleitet. Tahar Ben Jelloun liebt das Motiv des ›écrivain public‹, des öffentlichen Schreibers, dem die Menschen ihre Erlebnisse, ihre Kämpfe und Enttäuschungen anvertrauen, damit sie auf Papier fixiert werden. Ähnlich agiert der Freund, auch er wird nicht genannt und hilft dem Maler dabei, sich langsam von seiner Krankheit zu erholen, wieder zu malen, ein neues Leben anzufangen. Hierzu muss er sich von seiner Frau trennen, doch der Kampf mit ihr braucht auch seine letzten Energiereserven auf. So bildet ein langer Monolog der Frau mit dem Titel Ma version des faits den zweiten Teil des Romans. Es ist die Antwort auf den L’homme qui aimait trop les femmes betitelten Bericht des Freundes.

Es mag erstaunen, dass Tahar Ben Jelloun, der bedeutendste französischsprachige Schriftsteller Nordafrikas, dessen Streben in den letzten Jahren ausschließlich auf die Unterstützung und Kommentierung des arabischen Frühlings gerichtet war (u.a. für sein Buch Arabischer Frühling wurde ihm 2011 der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück verliehen), pünktlich zum Beginn des literarischen Herbstes in Frankreich, einen Roman über Eheprobleme herausbringt. Nicht von der Hand zu weisen ist sicherlich, dass ihn das Thema aufgrund seiner persönlichen Situation, ganz besonders am Herzen lag. Dennoch ist es erstaunlich, dass Ben Jelloun gerade jetzt, da die Revolution in Syrien zu einem brutalen Bürgerkrieg geführt hat, bzw. in Ägypten oder Tunesien buchstäblich im islamistischen Sumpf versickert, mit einem Buch aufwartet, das sich mit den sehr privaten und gleichzeitig sehr banalen Problemen eines nordafrikanischen Malers beschäftigt. Doch der Schein trügt.

Es wäre zunächst die eingangs bereits erwähnte Spiegelmetaphorik anzuführen, die zu Beginn des Romans auftaucht und beim Maler die Mechanik des In-sich-Schauens, das große Zurück in die eigenen Träume und Fantasien, in die eigenen Erinnerungen in Gang setzt. Überhaupt fällt auf, dass hier eigentlich die Bestrafung eines Mannes in Szene gesetzt wird. Die Perspektive enthüllt die seelische Vergangenheit eines Künstlers, dessen schiere Existenz in einer islamisch geprägten Gesellschaft an sich schon ein Problem darstellt. Der Mann ist Maler, sein Geschäft das Porträtieren, das Widergeben von Körperlichkeit. Beiläufig und doch unüberhörbar erwähnt er seine Liebesgeschichten mit jungen Frauen, die ihm Modell stehen. In seinem Atelier, in dem – aus praktischen Gründen – ein Bett steht, findet seine Frau die klaren Beweise für seine Untreue. Der Maler richtet sich hier gleich doppelt gegen Tabus, die seine gesellschaftliche Umgebung dirigieren. Zum einen trifft ein Grundverbot des Islam die Repräsentation von Körpern, zum anderen stellt die muslimische Gesellschaft, gerade zum Erhalt ihrer tabuisierten Bestände, mehrere Korrektive zur Verfügung, um dem Mann eine gewisse sexuelle Freiheit zu ermöglichen, ohne dabei das Prinzip des sozialen Zusammenhalts zu gefährden. Beides interessiert den Maler wenig. Seine Kunst, seine Leidenschaft ziehen ihn hin zu den Körpern junger Französinnen, mit denen er sich sowohl künstlerisch als auch physisch verbindet.

Liest man Le bonheur conjugal nicht nur im Hinblick auf die Sitten- und Moralverbote, die überschritten werden, sondern auch im Hinblick auf die kulturkonstitutiven Tabus, die reflektiert werden, so bekommt man Antwort auf die Frage, wie die Geschichte, die in diesem Roman abläuft, durch Gewalt, Herrschaft und den Willen, die Legitimität dieser Herrschaft zu bezweifeln, geprägt ist. Freuds Spekulationsfähigkeit in Totem und Tabu (1913) ist bekannt, genauso wie seine Einsicht in die kulturkonstitutive Funktion des Tabus, dessen Dynamik er gerade darin erkennt, dass es aus zwanghaften Verboten der Gesellschaft gespeist wird, die umso effizienter wirken als die Gesellschaftsmitglieder ein starkes Bedürfnis verspüren, diese Verbote zu übertreten. An dieser Stelle lässt sich ansetzen. Der eigentliche Skandal – zumindest vom Standpunkt der Anderen aus betrachtet – besteht darin, dass der Maler überhaupt keine Scham empfindet. Er geht auf Distanz zur Gesellschaft, ohne gleichzeitig einzugestehen, wichtige gesellschaftliche Verbote übertreten zu haben. Er ist sich keiner richtigen Schuld bewusst und leitet hieraus auch keine Schamreaktion ab.

In diesem Zusammenhang erscheint es wichtig, Tabudefinitionen in Betracht zu ziehen, denn Tabubeschränkungen lassen sich keinesfalls mit religiösen oder moralischen Verboten gleichsetzen. Freud sieht deshalb in der Ambivalenz das eigentliche Kriterium des Tabus: »Uns geht die Bedeutung des Tabu nach zwei entgegengesetzten Richtungen auseinander. Es heißt uns einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein.« (Freud 1991, S. 66) Diese Vorstellung ist seitdem immer wieder aufgegriffen und präzisiert worden. (»Im Sprachbewußtsein der ›Primitiven‹ und im Sprachbewußtsein des Kindes läßt sich diese der vollen ›Konkreszenz‹ von Namen und Sache noch in höchst prägnanten Beispielen – man braucht hier nur an die verschiedenen Formen des Namenstabus zu denken – aufweisen.« – Cassirer 2010, Philosophie der symbolischen Formen, S. 31). René Girard wertet das Wort ›anormal‹ als Tabuwort einer neueren Zeit, die dem Prinzip sozialer Vereinheitlichung unterliegt und deswegen das eigene Gruppenbewusstsein durch jede Form der Abweichung gefährdet sieht: »Das Wort selbst, anormal, wie das Wort Pest im Mittelalter, ist in gewisser Hinsicht tabu; es ist gleichzeitig edel und verflucht, sacer in jeder Hinsicht.« (»Le mot lui-même, anormal, comme le mot peste au Moyen Age, a quelque chose de tabou; il est à la fois noble et maudit, sacer dans tous les sens du terme.« – Girard 1982, S. 29)

Dieser Ambivalenz entspricht auch der ungewisse Ursprung der Tabuvorschriften. Zwar argumentiert Freud in seiner Kulturtheorie auf der Grundlage der besonderen Bedeutung von Tabuverboten für die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens und des Gesellschaftsvertrags, doch geht er dabei sicher noch nicht so weit wie Claude Lévi-Strauss, dessen Denken darauf abzielt, die Illusion des »homme normal, blanc et adulte« (Lévi-Strauss 2008, S. 451) als solche zu entlarven. Dem Ostrazismus primitiver Glaubensformen aus der neuzeitlichen Kultur und Religion entspricht der Wille des Menschen, sich selbst aus seinem natürlichen Kontext herauszuschälen. Durch die Errichtung ›primitiver‹ und ›archaischer‹ Formen des Zusammenlebens habe sich der aufgeklärte Mensch, so Lévi-Strauss, die Illusion der eigenen unvermeidlichen Entwicklung hin zum zivilisierten Menschen konstituiert, ja konstruiert. So versucht der Ethnologe, Beweise für die Kontinuität von Mensch und Natur zu erbringen. Diesem Prinzip entsprechend stellt er die Hypothese auf, Tabus im Allgemeinen und das Inzestverbot im Besonderen seien die eigentlichen Voraussetzungen jeder Form von Gesellschaftlichkeit und ergäben sich aus der ›systemischen‹ Notwendigkeit des Gegenseitigkeits- und Tauschprinzips. Im Tabu suche sich soziales Zusammenleben herzustellen und das Fundament für eine gemeinsame, erfolgreiche Existenz zu schaffen. Bedenkt man nun die verschiedenen Tabus in den muslimisch geprägten Kulturordnungen, wie sie Ben Jelloun in seinem Roman unmissverständlich anspricht, so zeichnen sich verschiedene Verbotszonen ab, die in der Tat die Bewahrung der familiären und, weiter gefasst, der gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten scheinen. Gerade ihr Durchbrechen wirkt wie ein Versuch, die Auflösung der familiären Zelle zu bewirken, wodurch auch der gesamte Gesellschaftsvertrag in Mitleidenschaft gezogen würde. Hinzu kommt, dass kaum ein anderer Gesellschaftsentwurf im 21. Jahrhundert eine solche Engführung von kulturellem Zusammenleben und religiöser Deutungshoheit beinhaltet, wie in den islamischen Ländern. Auch hier gilt es, Freuds Tabudefinition mit der ihr eingeschriebenen Vielschichtigkeit zu berücksichtigen:

»›Tabu‹ heißt aber alles, sowohl die Personen als auch die Örtlichkeiten, Gegenstände und die vorübergehenden Zustände, welche Träger oder Quelle dieser geheimnisvollen Eigenschaft sind. Tabu heißt auch das Verbot, welches sich aus dieser Eigenschaft herleitet, und Tabu heißt endlich seinem Wortsinn nach etwas, was zugleich heilig, über das Gewöhnliche erhaben, wie auch gefährlich, unrein, unheimlich umfasst.« (Freud 1991, S. 70)

Wie bereits erwähnt, beginnt Ben Jellouns Roman mit einem Tabu; der Maler, dessen Name konsequenterweise nie genannt wird, verkörpert an sich schon eine Tabuverletzung. Hinzu kommt, die Entweihung des Hochzeitsrituals. »Er war verliebt. Blind vor Liebe« (»Il était amoureux. Aveuglément amoureux.« – Ben Jelloun 2012, S. 57.) Denn nicht die Mésalliance, die Heirat mit einer armen Frau aus einem Berberdorf stellt den Tabubruch dar. Selbstverständlich leidet seine Familie, die sich zur Bourgeoisie von Fes zählt, unter dem »choc des classes«, den ihr der berühmte Sohn zumutet – wunderbar beschrieben wird die Reaktion der Tante, die während der Feierlichkeiten ausruft, sie hätte lieber eine Verbindung mit einer Europäerin gesehen (Ben Jelloun 2012, S. 59-60). Die eigentliche Verletzung richtet sich auf das, was Ben Jelloun eindeutig ein ›Ritual‹, das Hochzeitsritual nennt (»Alles wurde andeutungsweise geregelt; jeder kannte seine Rolle auswendig; das Stück konnte gar nicht misslingen, da alles vorgesehen war, das Ritual wurde problemlos vollzogen« – »Tout se réglait à demi-mot; chacun connaissait par coeur son rôle et la pièce ne pouvait pas être ratée puisque tout était prévu, le rituel se déroulait sans embûches« – Ben Jelloun 2012, S. 60) Die Tante drückt es sehr deutlich aus: die arabische Gesellschaft bietet dem Mann eigentlich mehrere komfortable Möglichkeiten, Mesalliancen zu reparieren. Polygamie wäre eine Lösung, oder, wo sie verboten ist, eine schnelle, unkomplizierte Scheidung die andere. Nur sollte sich der Mann davor hüten, dass seine Frau Kinder bekommt und Ansprüche zu stellen imstande ist. Dennoch reagiert die Tante ungehalten, eben weil sie einsehen muss, dass gerade die Einstellung des Malers mit der Norm männlicher Verhaltensweisen nicht übereinstimmt. Denn die stellvertretend von ihr vorgenommene Tabuisierung richtet sich auf die Gefühle, die es zu kontrollieren gilt, jede Beziehung in den gesellschaftlichen Kontext einzufügen. Die Frau soll schwanger, nicht geliebt werden. Wer die Frau liebt, subvertiert die Solidität des Rituals, räumt die Möglichkeit ein, dass die für die Gemeinschaft so relevante Beziehung zwischen Mann und Frau im wahrsten Sinne des Wortes außer Kontrolle gerät.

Weitere Tabus betreffen ebenfalls die mit der Hochzeit verbundene Triebentfaltung. So verliebt sich im Mittelteil des Romans der nunmehr behinderte Maler in seine Pflegerin, die sinnigerweise Imane, also Glaube, heißt. Sie erzählt ihm eine Geschichte, die sie im Hammam (noch ein Ort ziemlich ungezügelter Sinnlichkeit) gehört haben will. Es ist die Geschichte Habibas, die ihren Mann nach der Hochzeitsnacht metaphorisch verspeist. Dabei werden weitere Verbote im islamischen Geschlechterverhältnis angesprochen:

1. Das Verbot der Frau, sexuelle Befriedigung zu erfahren. Sehr eindringlich erklärt Ben Jelloun hiermit das Gebot der Jungfräulichkeit der frisch vermählten Braut und das Tabu ihrer Berührung vor dem ersten sexuellen Kontakt mit ihrem Mann: »Dies galt umso mehr, als sie sich von klein auf selbst streichelte und man bei einer ärztlichen Untersuchung festgestellt hatte, dass ihr Hymen zerrissen war.« (»D’autant que depuis toute petite elle se caressait et qu’on avait découvert lors d’une visite médicale que son hymen était déchiré.« – Ben Jelloun 2012, S. 229)

2. Die physische Unterlegenheit und damit auch potentielle Unreinheit der Frau: »In ihrer Hochzeitsnacht gab sie sich ihrem Mann hin wie eine traditionelle Frau, unterwürfig, glücklich ihm zu gehorchen, schüchtern, mit gesenktem Blick, dass er Herr der Lage sein konnte.« (»La nuit de son mariage, elle s’offrit à son homme comme une femme traditionnelle, soumise, heureuse de l’être, timide, les yeux baissés, le laissant maître de la situation.« – Ben Jelloun 2012, S. 229-230) Eingelöst wird das Gebot der weiblichen Passivität beim sexuellen Akt und damit einhergehend die Tabuisierung sexueller Aktivität, die von der Frau ausgehen würde.

3. Das Tabu einer vollständigen Verbindung von Mann und Frau: »Wir werden eins sein und das für die Ewigkeit. Eine vollständige, perfekte, ungeahnte Vereinigung; niemand wird sie auflösen oder sie gefährden können.« (»Nous serons un et cela pour l’éternité. Une union totale, parfaite, insoupconnable; personne ne pourra la défaire ou l’atteindre.« – Ben Jelloun 2012, S. 231)

All diese Tabus verletzt Habiba. Sie sucht selbst nach Befriedigung, vor allem im Ehebett erlaubt sie ihrem Mann nicht, sie zu beherrschen und gerade dadurch, dass sie ihm auch sexuell ihren Willen aufdrängt, verleibt sie ihn ein und vollbringt die Einheit der Liebe (»Endlich eine gelungene Ehe. Er und sie sind eins geworden.« – »Enfin un mariage réussi. Elle et lui ne font plus qu’un.« – Ben Jelloun 2012, S. 231) Dass ihr Mann sie nach einigen Tagen kaum noch interessiert, sie sich bald einen neuen sucht, um ihn zu verschlingen, ist die Konsequenz des wiederholten und sehr konsequent durchgeführten Tabubruchs. Augenzwinkernd fügt Tahar Ben Jelloun an, es habe sich um Habiba, deren Schönheit er – wie könnte es anders sein – als legendär bezeichnet, ein »Stamm der Männer verschlingenden Frauen« (»la tribu des femmes avaleuses d’hommes«, – Ben Jelloun 2012, S. 238) geschart. Im Land, das von diesem Stamm beherrscht werde, herrsche, wie durch ein Wunder, Frieden.

Wir bemerken: den Roman durchzieht ein komplexes Geflecht an Tabubrüchen. Dem männlichen Tabubruch durch den Maler entspricht die Inszenierung weiblicher Tabubrüche in der Habibageschichte. Wie ein Echo auf diese Geschichte wirkt wiederum das Ignorieren kulturell fixierter Geschlechterrollen durch die Frau des Malers. Wie bereits erwähnt ist der Roman so aufgebaut, dass auf den Bericht des Malers die Widerlegung durch seine Frau antwortet. In diesem Abschnitt geht sie auf ihre Jugend ein, auf ihren Wunsch, in die Schule zu gehen verbunden mit ihrer Weigerung, jenen Bereich im Haus einzunehmen, den ihr der Vater zuweisen wollte: »Wozu lesen und schreiben lernen? Hat er zu mir gesagt. Du solltest lieber lernen, wie man eine Kuh oder ein Schaf entbindet. [...] Mein Vater war lieb mit ihr [meiner Mutter], aber er sagte ihr, dass es besser sei, wenn jeder dort blieb, wo er hingehörte.« (»À quoi bon apprendre à lire et à écrire? m’a-t-il dit. Vaut mieux que tu apprennes comment accoucher une vache ou une brebis. [...] Mon père était gentil avec elle [ma mère], mais il lui disait qu’il valait mieux que chacun reste à sa place.« – Ben Jelloun 2012, S. 266) Im Gegensatz zum Maler wird Amina, seine Frau, beim Namen genannt, die Traditionen ihres Dorfes, die Bräuche ihrer Familie sind in ihr noch lebendig. Als sie erfährt, dass ihr Mann sie betrügt, taucht in ihr das uralte Verbot islamischer Gesellschaften auf. Ehebruch ist ein moralisches Verbot, das beide Ehepartner betrifft, das grundsätzliche Tabu aber betrifft den Körper der Frau. Er darf nur einem einzigen Mann zu Gebote stehen, nicht geteilt werden. Und so denkt Amina, als sie ihren Mann mit verschiedenen Geliebten vor dem inneren Auge sieht, an ein Mädchen aus ihrem Dorf, das untreu geworden war, das Tabu verletzt hatte, und im Gegensatz zu so vielen Männern, die Ähnliches getan hatten, empfindet sie Scham. Sie hat Angst von der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Sie schämt sich für ihren Mann und verurteilt eine Gesellschaft, die eine solch ambivalente Reaktion heraufbeschwört, »die von Heuchelei und Oberflächlichkeit durchsetzt ist« (»rompue à l’hypocrisie et au paraître.« - Ben Jelloun 2012, S. 291). Sie bleibt ihrem Mann treu, verletzt aber das Tabu der weiblichen Minderwertigkeit. Ihr Mann verwandelt sich durch seine Behinderung in ihr Objekt, das sich ihrer Kontrolle nicht mehr zu entziehen vermag, dass seine Autonomie für immer eingebüßt hat.

Wir haben also einen Tabubereich ausgemacht, der wie eine Negativfolie der Handlung unterlegt ist und die Spannungsverhältnisse zwischen den Figuren beherrscht. Bliebe noch die Frage nach dem subversiven Charakter der von Ben Jelloun konstellierten und konfigurierten Tabuverletzungen. Hierzu vermag wieder Freud, einen Erklärungsansatz zu liefern. Treibt man den Gedankengang des verletzten Tabugeflechts weiter, ja der Inkompatibilität dieses Geflechtes mit den Gegebenheiten der modernen Welt, so fällt auf, dass gerade hier die Sprengkraft des Romans liegt. Freuds ›unerledigte Situation‹ wirkt im Roman umso bedrohlicher, als die Öffnung der marokkanischen Gesellschaft hin zur westlichen Welt mit der fortdauernden Entlarvung der Unterdrückungsprozesse in dieser Gesellschaft einhergeht. Hinter den Anachronismen der arabischen Gesellschaft treten dann immer deutlicher jene verborgenen Tabuzonen hervor, die der kulturelle Mechanismus zu verbergen versucht hatte.

Freud spricht von der ›Geschichte des Tabu‹, von der Geschichte uralter Verbote, die »infolge der Tradition durch elterliche und gesellschaftliche Autorität« weiter verfestigt worden seien. So fremdartig die Thesen von der Urhorde und dem Mord am Urvater auch heute wirken mögen, so zutreffend ist die Verbindung der Tabuprozesse mit der Herrschaftsproblematik und so unzweifelhaft ist es, die Errichtung von Tabubereichen mit der Zementierung von Herrschaftsansprüchen zu erklären. Wahrscheinlich ist auch, dass einer der ersten großen Entmachtungsschübe im Verhältnis zwischen den Geschlechtern stattfand und die schiere Möglichkeit einer Gegenseitigkeit zwischen Männern und Frauen schon sehr früh zerbrach.

Dieser Umstand ist es nun, dem Ben Jellouns Buch all seine Brisanz verdankt. Eine Szene taucht auf, die ganz besonders zu verstören vermag: der Maler träumt und sieht seinen Vater als jungen Mann, der auf ihn zukommt und ihm die Hände küsst. »Le monde à l’envers«. Genauso verhält es sich mit dem entworfenen Tabugeflecht und den aus ihm hervorgegangen Verboten: sie werden umgedreht, in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Vorgehen, das von Seiten des Autors der Nuit Sacrée nicht zu verwundern vermag. Der Maler, als inkarnierte Tabuverletzung, beugt sich der Lust seiner Frau, lang tradierte Verbote zu missachten. Das Eherne, Festgefügte gerät nicht deswegen ins Wanken, weil ein religiös motiviertes Tabu einmal verletzt wurde. Denn hinter jedem Tabu verbirgt sich ein weiteres. Die ursprüngliche Verführung durch die Kunst, das Bild, der einfache Tabubruch, hätte eigentlich den nächsten nach sich ziehen müssen, wodurch dem Mann seine dominierende Stellung in der Gesellschaft streitig gemacht worden wäre. Insofern ist es zutreffend: die Frau ist auf den Erfolg des Mannes eifersüchtig, oder besser, sie ist eifersüchtig, weil ihr Mann erfolgreich war. Mit dem Auftreten der Frau verschiebt sich das einmal verletzte Tabu, wendet sich nun gegen sich selbst. Herrschaftsstrukturen bröckeln und gefährden schlussendlich das so solide geglaubte kulturelle Gefüge. Denn auch ein Tabubruch will beherrscht werden; und so begreift der Maler spät, viel zu spät, dass Tabus wie unsichtbare Spinnennetze über der Gesellschaft liegen. Er, der Tabubrecher, wird Opfer seiner Frau, die ihm den Spiegel seiner Ohnmacht vorhält. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass Spinnweben nicht mit dem Durchtrennen eines Fadens zerstört werden. Vielmehr stellt sich heraus, dass derjenige, der dem Gesetz zuwiderhandelt, als sein eigentlicher Bewahrer fungiert. Der Delinquent, so René Girard, wird zum »Pfeiler der sozialen Ordnung« (»Le délinquant suprême se transforme en pilier de l’ordre social - Girard 1982, S. 66) und der Maler, der ausgezogen war, die althergebrachten Tabus einer archaischen Gesellschaftsordnung zu brechen, zu einem ihrer sichersten Vertreter. Wäre da nicht noch seine Frau, die im Umkehrschluss und gegen ihn selbst, das einmal Begonnene weiterführt.

In Zeiten, in denen aus dem arabischen Frühling der Triumph islamischer Fundamentalisten hervorgeht, widmet sich Ben Jelloun also doch den Herrschaftsverhältnissen, die bisher durch die Tabubestände in islamischen Gesellschaften perpetuiert wurden. Doch nicht das deviante Verhalten beschäftigt ihn, sondern der spiegelbildliche Umgang mit diesem. Der Autor taxiert den Tabubrecher und entlarvt seine aufklärerische Arbeit. Mit einem Tabubruch ist es in diesem gesellschaftlichen Kontext noch nicht getan. Nicht der Maler ist Gegenstand der erzählten Geschichte, sondern die Frau, die den in seiner Krankheit isolierten Künstler am Schluss des Werks vollständig unter ihre Kontrolle bringt. Erst hier, in der doppelten Denunziation des Tabus ergeben sich aus dem subversiven Verhalten neue soziale, neue existentielle Möglichkeiten. Die letzten Worte des Romans gehören ihr. Während der Maler weiter an seinen Rollstuhl gefesselt ist, entwirft sie ihr neues Leben, da sie die Beziehung zu ihrem Mann, dem Tabubrecher an ihrer Seite, umgekehrt hat:
»Enfin libre, enfin j’existerai«

Literatur

BEN JELLOUN, TAHAR: Le bonheur conjugual, Paris 2012; (Ben Jelloun 2012)
CASSIRER, ERNST: Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg 2010; (Cassirer 2010)
FREUD, SIGMUND: Totem und Tabu. Frankfurt/M 1991; (Freud 1991)
GIRARD, RENE: Le bouc émissaire. Paris 1982; (Girard 1982)
LÉVI-STRAUSS, CLAUDE: Œuvres. Paris 2008; (Lévi-Strauss 2008)