Ulrich Schödlbauer
Poetik des Exzesses. Thomas Körners Das Land aller Übel
und die Funktion der Vergangenheit in der Literatur

Zwei Beispiele

(1) Angenommen, Sie besitzen einen Wasserkessel älterer Machart, der sich beim Erhitzen – genauer: nach Erreichen einer bestimmten Innentemperatur – nicht ausschaltet, sondern ein erst leises, dann schrilles, ›durchdringendes‹ Pfeifen anstimmt. Sie füllen ihn mit Wasser, stellen ihn auf den Herd, schalten die Herdplatte an und warten. Dieses Warten wird abgelenkt – jemand ruft Sie, sei es ein Mensch, sei es die Pflicht, sei es ein lockender Gedanke –, Sie entfernen sich vom Ort des Geschehens. Was wird passieren? Das Pfeifen wird Sie verfolgen. Was bedeutet es? Erstens: das Wasser ist heiß. Zweitens: Gefahr. Im Kessel herrscht Druck. Glücklicher- oder praktischerweise ist die Pfeife ›in Wahrheit‹ ein Ventil, durch das der Kessel den steigenden Druck ablässt. Leider entweicht dadurch in Form von Wasserdampf auch das erhitzte Wasser, mit leicht auszumalenden Folgen für das System Herd/Kessel/Wasser, falls es Sie nicht rechtzeitig herbeipfeift.

(2) Angenommen, es ist gerade der 21. August 1968, ein Mittwoch, Sie sitzen mit tschechischen Freunden in einem Prager Café und draußen rollen Panzer vorbei, darunter auch solche des Landes, aus dem Sie kommen (Sie sind ein Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik), Schüsse fallen, Sie erleben das Entsetzen der Freunde, die, wie Sie selbst, an den Reformsozialismus Dubčeks geglaubt haben. Einige von ihnen werden ins Gefängnis, andere ins Exil gehen, also in den Westen. Sie selbst werden nach Hause zurückkehren. Mit welchen Empfindungen, mit welchen Gedanken und Hintergedanken? Etwas ist da draußen passiert und nun passiert etwas in Ihnen. Beide Vorgänge sind komplex, aber sie besitzen einen einfachen Kern. Draußen wurde soeben der Versuch beendet, den ›real existierenden Sozialismus‹ aus einem geschlossenen in ein offenes System zu verwandeln. In Ihnen geht gerade etwas zu Ende, das sich am ehesten mit dem Begriff ›Gefolgschaft‹ bezeichnen lässt. Bisher hätte man Sie als einen ›gläubigen Sozialisten‹, als einen loyalen Anhänger der herrschenden Ideologie Ihres Landes bezeichnen können. Bisher waren Sie sich sicher, dass die  Dubček-Reformen eine neue Phase des sozialistischen Experiments bedeuteten und über kurz oder lang von den übrigen Pakt-Ländern übernommen würden. Jetzt formt sich in Ihnen die Überzeugung: das System ist nicht reformierbar. Sie sitzen in der Falle.

Offenes vs. geschlossenes System

Beide Beispiele haben eines gemeinsam: sie thematisieren die Grenze zwischen offenen und geschlossenen Systemen. Was würde geschehen, wenn der Wasserkessel kein Ventil besäße? Irgendwann würde er explodieren. Er würde aber nicht explodieren, würde ihm nicht kontinuierlich Energie zugeführt. Es genügt demnach, den Herd abzuschalten, um die Gefahr zu bannen. Haben wir es mit einem geschlossenen oder einem offenen System zu tun? Die Antwort lautet: teils-teils.

Am 13. August 1961 begann die DDR mit dem Bau des sogenannten ›antifaschistischen Schutzwalls‹, in Ost und West kurz ›die Mauer‹ genannt. Die Mauer sollte das östliche System vor dem ›Ausbluten‹, also dem demographischen und ökonomischen Kollaps bewahren. Die DDR als Gesinnungsstaat konnte sich die ›Abstimmung mit den Füßen‹, den Weggang gut ausgebildeter und berufsaktiver Bevölkerungsteile in den Westen, auf Dauer nicht leisten. Sie schob, wie es heißt, einen Riegel vor, verwandelte also ein bis dahin im Prinzip offenes in ein geschlossenes System. Dieses System implodierte am 9. November 1989 mit der versehentlichen oder nicht versehentlichen Maueröffnung durch die DDR-Grenzorgane. Das System implodierte, soll heißen, seine Strukturen lösten sich auf und an ihre Stelle traten die des bislang ausgesperrten Konkurrenzsystems West. Mit den Worten eines Leipziger Rentners im Frühjahr 1991: »Wir müssen nicht mehr in den Westen fahren. Der Westen ist jetzt hier.«

Staatsdoktrin ohne Kredit

Der 21. August 1968 markiert in der Geschichte der DDR – und des sowjetischen Machtsystems insgesamt – einen entscheidenden Einschnitt. Er zerstört den Glauben der Nachwuchselite an die Fähigkeit des Systems zur Selbstkorrektur auf seinem historischen Weg in die ›vollendete‹ sozialistische Gesellschaft. Der Vorgang ist statistisch nicht fassbar, er ist aber biographisch und literarisch eindrucksvoll bezeugt. Die Reformer von Prag stehen für Reformen ›von oben‹ – das heißt, angeordnet und verantwortet von der Spitze des Parteiapparates – in Richtung auf einen ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ mit Versammlungs- und Redefreiheit, Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen und – vielleicht brisantester Teil – freier Wahl des Aufenthalts- bzw. Wohnorts für den Einzelnen. ›Reformfähigkeit‹ in diesem Sinn  hatte z. B. der in den USA lebende Marxist Herbert Marcuse, einer der Stichwortgeber der ’68er Studentenrevolte, dem sowjetischen System durchaus unterstellt und daraus sogar eine strukturelle Überlegenheit gegenüber dem kapitalistischen System hergeleitet. Diese Reformfähigkeit wird dem System nun von großen Teilen der eigenen Bevölkerung, vor allem aber von den Intellektuellen des In- und Auslandes nicht mehr zugetraut. Die DDR ist ein Staat mit einer Staatsdoktrin ohne Kredit. Man kann die Entwicklung der alternativen Szenen mit ihrer Nähe zu kirchlichen – nicht religiösen – Milieus ohne dieses Faktum genauso wenig verstehen wie die Geschichte des Mauerfalls einschließlich des raschen Zerfalls und der Auflösung des gesamten Staatsgebildes.

Erscheinungsort: Westen

Das bedeutet: der realen Implosion des Systems im Jahr 1989 geht die mentale Implosion von 1968 voraus. Nach 1968 stehen dem System kaum mehr ideologisch motivierte, zukunftsgläubige Vordenker zur Verfügung. Ein gutes Beispiel für die nachhaltige Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Partei und Intelligenz bietet die öffentliche Vita des Ökonomen Rudolf Bahro. Wenn es Mitte der siebziger Jahre noch eines Beweises bedurft hätte, dass der poststalinistische Apparat auch konstruktive Modellvorschläge ›aus den eigenen Reihen‹ nicht aufzunehmen imstande war, dann wurde er hier erbracht. Bahro, nach eigenem Bekunden in seinen Anfängen ein ›glühender‹ Stalinist, wollte den Kollaps des Systems durch ökonomische Reformen verhindern. Auch ihn hatten die Ereignisse von Prag auf den Weg gebracht. Sein Buch Die Alternative (1977) konnte in der DDR nicht erscheinen. Bahro emigrierte in den Westen und durchlief eine akademische und politische Karriere, die ihn zu einer der buntesten Figuren des bundesdeutschen, schließlich wiedervereinigten Polit-Establishments werden ließ.

Bahros Verhalten als Buchautor – Publikation im Westen und quasi-offizieller Status als Dissident inclusive enger Verbindungen zu führenden westdeutschen Meinungsorganen wie dem Spiegel – folgt dem Muster, das auch für die Literatur der DDR, soweit man sie im Westen wahrnehmen wollte, bis zur Staatsauflösung mehr oder minder prägend blieb. Dass diese – stets gefährdete, gelegentlich devisenbringende – Form der intellektuellen Existenz Privilegien erzeugen konnte, war allen Beteiligten mehr oder weniger bewusst. In welchem Ausmaß das Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi genannt, dabei mit im Spiel und gelegentlich auch im Bunde war, brachte die Öffnung der Archive an den Tag. Was heute noch gern als ›Literatur der DDR‹ bezeichnet wird, war – sagen wir: nicht gerade selten – in diesem bei langjährigen Lieblingen des westdeutschen Literaturbetriebs anzutreffenden grenzüberschreitenden Dreieck aus etabliertem Dissidententum, DDR-Devisenwirtschaft und Stasi-Hintergrund angesiedelt.

Die verschwiegene Bibliothek

Natürlich existierte auch in der DDR eine allen Vorgaben gerecht werdende ideologiekonforme und konformistische Literaturproduktion. Sie soll hier nicht beschäftigen. Unsere Frage ist: Gibt es noch eine andere Literatur der DDR – sieht man einmal von Wolf Biermann ab, der dem System ausdrucksstark den Rücken gekehrt hatte und um der sozialistischen Utopie willen die Ausbürgerung in den Westen in Kauf nahm, wo sich, ähnlich wie im Fall Bahro, die Utopie rasch verflüchtigen sollte, um anderen Einstellungen Platz zu machen? Im Jahre 2004 erschien in der Büchergilde Gutenberg der erste Band einer Reihe mit dem Titel Die verschwiegene Bibliothek, herausgegeben von Ines Geipel und Joachim Walther und unterstützt von der ›Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur‹. Die Reihe sollte der Dokumentation jener anderen Literatur dienen, die erst gar nicht in die Buchhandlungen gelangte oder im Schreibprozess unterbunden wurde, weil ihre Produzenten, darunter nicht selten Frauen, in die Fänge der Staatssicherheit gerieten und Prozeduren unterworfen wurden, die man nur mit Entsetzen und Abscheu zur Kenntnis nehmen kann. Die Textsammlung ist bei der Stiftung Aufarbeitung in Berlin archiviert. Die Reihe stieß sofort auf Kritik seitens etablierter Großautoren (nach dem Motto: ›Was damals nicht publikationswürdig war, kann es auch heute nicht sein‹) und wurde nach Erscheinen des zehnten Bandes eingestellt. Bei der Lektüre dieser Texte erkennt man rasch, dass es sich nicht um ›objektiv‹ staatsfeindliche Umtriebe oder Agentenpoesie handelt, dass in ihnen vielmehr die Integrität der Person und des persönlichen Schreibens einen hohen Rang einnimmt und nicht selten zum alleinigen Maßstab des individuellen Weltverhältnisses wird. Das erschien den Organen jenes Staates ebensowenig hinnehmbar, wie es sich offenbar heute einem breiten Publikum vermitteln lässt.

Das Körner-Projekt

In dieser Reihe erschien 2007 ein Werk des Schriftstellers Thomas Körner mit dem Titel Das Grab des Novalis. Das 250-Seiten-Buch wurde von der Kritik kaum zur Kenntnis genommen. Es enthielt aber ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Joachim Walther und wurde indirekt zum Auslöser der Netzedition des zu Grunde liegenden literarischen Großprojekts mit dem lapidaren Titel Das Land aller Übel.

Die Ausgangslage des Projekts umschreibt Walther so:

»Der Autor ist mit seinem neunteiligen Fragment-Roman »Das Land aller Übel« zweifellos ein literarisches Schwergewicht. Und das meint nicht die pure Quantität, obwohl auch die beeindruckend ist, sondern die literarische Qualität des lange und gründlich geplanten und über Jahre und Jahrzehnte konsequent ausgeführten Projekts, das sich Ende der sechziger Jahre aufmachte, ins Innere einer Weltanschauung vorzustoßen, die das 20. Jahrhundert wesentlich geprägt hat mit einem verführerischen Groß-Entwurf und einem kläglichen Zusammenbruch: der Utopie des Kommunismus. Diesen glühenden Kern, der über Jahrzehnte das Leben von Millionen Menschen beherrscht und epochale Illusionen sowie gigantische Verbrechen hervorgebracht hat, mit allen Mitteln der Kunst aufzubrechen und in seine Teile zu zerlegen, um das historisch relativ lange Funktionieren dieser auf Untergang programmierten Teil-Welt zu verstehen, zu erklären und in seiner projektiven Strahlkraft zu dekonstruieren, war das erklärte Anliegen des Autors als einem der hineingeborenen Insassen des geschlossenen Systems, das er, nachdem er es geistig verlassen hatte, auch physisch verließ und dennoch dabei blieb: als literarischer Analytiker der zur Diktatur verkommenen Utopie, ihrer Sprache und Ideologie.« (235)

Die DDR im Kopf: Anatomie eines ideologischen Traumas

Genau genommen hatte Das Grab des Novalis in dieser Reihe nichts zu suchen. Gingen die Anfänge des Gesamtprojekts Das Land aller Übel in die Sechziger Jahre zurück, so entstand das Gros der Texte, nachdem der Verfasser Ende 1979, im Jahr Drei nach der Biermann-Ausbürgerung,  der DDR den Rücken gekehrt und sich in der Bundesrepublik niedergelassen hatte. Das Grab des Novalis wurde Anfang der Achtziger Jahre niedergeschrieben – als implizite Auseinandersetzung mit der DDR im Kopf, soll heißen einem Komplex von Gedankenobsessionen, der als ›ideologisches Trauma‹ durch den Text geistert. Der vollständige Titel lautet Das Grab des Novalis. Dramatisierter Essay. Fragment von der Weltanschauung. Das erste ›Bild‹ darin trägt  die Bezeichnung Agonie der Utopie. Das Bild (hier als Metapher genommen) der Utopie, die nicht leben und nicht sterben kann, ist das, was man in der damaligen Literatur gern ›Chiffre‹ nannte: ein leicht zu beziehender, aber weniger leicht zu deutender Hinweis auf eine sowohl zeitlich als auch räumlich bestimmbare Konstellation. Diese Konstellation ist durchgehend im Land aller Übel anwesend: es handelt sich um die Zeit zwischen 1961, dem Jahr des Mauerbaus, und 1968, dem Jahr, in dem die Utopie als systemtreibende Kraft den Dienst quittierte, und es geht um die DDR, dieses eingemauerte, durch Stacheldraht und Schießbefehl zusammengehaltene Gemeinwesen, das auf die ideologische Gefolgschaft seiner Teilhaber baute. Explizit schreibt der Autor im Robustes Mandat für den Leser genannten Vorwort:

»Wenn einer sich ein Leben lang sozial maskiert, um die Verhältnisse zu beschreiben, unter welchen siebzehn Millionen Menschen vierzig Jahre lang gelebt haben, ist der nicht auch ein Patriot?«

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/adlectorem/ad01a.html]

Der Dichter als Beobachter zweiter Ordnung

In Körners Projekt erhält der Terminus ›verschwiegene Bibliothek‹ eine von der Hauptlinie der Reihe abweichende Bedeutung: Es umfasst die Bibliothek der verschwiegenen eigenen und noch zu schreibenden Bücher, die der Autor durch die DDR-Zeit teils im Kopf trägt, teils als sorgfältig abgelegte Typoskripte mit sich führt –  übrigens auch durch die Zeit seiner Tätigkeit als Schreiber für das westdeutsche Musiktheater und als Dramaturg bis zum Erscheinungsjahr des Novalis. Das Verschweigen ist hier nicht passiv, als Verschwiegenwerden, sondern aktiv, als Verschweigen des eigenen Projekts zu verstehen. Wie tief diese Verschwiegenheit in den Kern des Projekts hineinreicht, dafür sei eine weitere Stelle aus dem Robusten Mandat zitiert:

»Mein Interesse gilt einem Modell des Patriotismus, welches die Tatsache anerkennt, daß es für den Dichter keinen Platz in der Gesellschaft gibt.

Von dieser Position aus war zu entwerfen im Osten eine Art theoretischer Literatur, die im Westen durch die Praxis wieder zu zerstören war.«

Praxis bedeutet hier ›Praxis des Schreibens‹, nicht des ›wirklichen‹ oder ›gesellschaftlichen‹ Lebens. Der Dichter ist kein Kämpfer. Konsequenter als seine von den Institutionen des Buchmarkts getragenen und von den Bedürfnissen der Werbung manipulierten Schriftstellerkollegen praktiziert Körner das von dem Kybernetiker Heinz von Foerster Anfang der Achtziger Jahre beschriebene, von dem Soziologen Niklas Luhmann ausgearbeitete und propagierte Modell des ›Beobachters zweiter Ordnung‹. Beobachter zweiter Ordnung ist, wer die Beobachter beobachtet. Beobachter erster Ordnung nehmen am Geschehen teil, sie sind Teil dessen, was geschieht, ohne sich selbst darin so wahrnehmen zu können, wie sie von den anderen wahrgenommen werden. Ihre Wahrnehmung besitzt also, da perspektivisch bedingt, einen blinden Fleck. Die Beobachtung zweiter Ordnung thematisiert diesen blinden Fleck. Sie thematisiert ihn dadurch, dass sie die perspektivischen Bedingungen – man könnte auch sagen: Verzerrungen – präsentiert, die in die Beobachtung erster Ordnung eingegangen sind. Im Prinzip haben wir hier ein Modell soziologischer Beschreibung, das sich von dem alten Objektivitätsmodell  der Wissenschaft verabschiedet hat und auf Wahrnehmungskorrektur durch theoretische Distanz setzt. Dass ein solches Modell in der nach den Prinzipien des Marxismus-Leninismus organisierten Selbstbeschreibung der DDR keinen Ort besitzen konnte, erhellt sich aus zwei Gründen:

  1. es negiert den im dialektischen Materialismus festgeschriebenen Objektivitätsanspruch der Selbstbeschreibung des Systems,
  2. es thematisiert die vorgeschriebene sozialistische ›Perspektive‹ als Verursacher des blinden Flecks in der Selbstwahrnehmung des Systems.

Die dichterische Distanz, so ließe sich sagen, tritt an die Stelle der gesellschaftlich verorteten Pseudo-Distanz der dialektisch-materialistischen Gesellschaftswissenschaft.

Das Bedingungsverhältnis

Körner ist kein Dissident in dem Sinn von ›Abweichler‹, wie er durch das Scheitern des ›Prager Frühlings‹ fester Bestandteil der intellektuellen Wahrnehmung der Länder des sowjetischen Blocks vornehmlich durch die westliche Öffentlichkeit wurde und wie er noch heute gegenüber Ländern wie China und Nordkorea in Geltung gebracht wird. Das Land aller Übel ist kein Plädoyer für Reformen innerhalb einer verkrusteten Parteidiktatur. Im Hinblick auf das Land, dem er das Material für seine Arbeit verdankt, spricht Körner im Robusten Mandat ganz allgemein von ›Bedingungen‹ und ›Konsequenzen‹:

»In meinem Fall hat die DDR mir Bedingungen beschert, woraus sich folgende Konsequenzen ergaben:

  • der soziologische Ansatz nach einer politökonomischen Gliederung
  • die literarische Form, die sich aus dem Zusammenleben der Menschen ergibt
  • die Darstellung eines Systems in Funktion, in welchem ich gleichzeitig ein- und ausgeschlossen bin«

Der Dichter lebt unter den Bedingungen der DDR. Aus diesen Bedingungen erwächst ›konsequent‹ das Projekt, an dem er arbeitet: sein ›theoretischer‹ (oder quasi-theoretischer) Ansatz, seine literarische Form und sein Darstellungsgegenstand. Der Akzent liegt auf dem Wort ›Konsequenz‹. Es kommt von lat. ›consequi‹ und bedeutet soviel wie ›folgen‹, ›sich ergeben‹, man kann darin die ›logische Abfolge‹ erkennen, in der sich eines aus dem anderen ergibt. Man darf also fragen, inwiefern sich das Projekt dieses Autors ›logisch‹ aus der Wirklichkeit jenes Gemeinwesens ergibt. Da es sich um ein ästhetisches Projekt handelt, lässt sich die Frage weiter präzisieren:

  • In welchem Bedingungsverhältnis steht das ästhetische Programm, das dem Land aller Übel zu Grunde liegt, zur Lebenswirklichkeit der DDR, in der (unter deren Bedingungen) es entworfen wurde? (›Lebenswirklichkeit‹ bedeutet jenes »System in Funktion, in welchem ich gleichzeitig ein- und ausgeschlossen bin«, diesmal jedoch nicht – oder noch nicht – als System betrachtet, sondern als Erfahrungshorizont eines Einzelnen.)

Fragmentroman

Das Land aller Übel besteht aus neun Teilen, genannt ›Fragment vom Wort‹, ›Fragment vom Buch‹, ›Fragment von der Weltanschauung‹ – dem Grab des Novalis –, ›Fragment von der Arbeit‹, ›Fragment vom Mensch‹, ›Fragment vom Plan‹, ›Fragment vom Volk‹, ›Fragment vom Staat‹ und ›Fragment von der Flucht‹. Es handelt sich also um ein Werk aus neun ›Fragmenten‹, genauer gesagt: aus neun Fragment-Entwürfen, da die Titel ja nichts über den wirklichen Grad der Ausführung aussagen. Erinnern wir uns an den bereits zitierten Satz aus dem Robusten Mandat: »Von dieser Position aus war zu entwerfen im Osten eine Art theoretischer Literatur, die im Westen durch die Praxis wieder zu zerstören war.« Für die Lektüre der ›Fragmente‹ bedeutet das: sie besichtigt die Zerstörungen, die ›durch die Praxis‹ des Schreibens in das Projekt hineingekommen sind. Einen anderen Weg, das Projekt kennenzulernen, scheint es nicht zu geben. Übrigens taucht das Wort ›Fragment‹ auch in der Gattungsbezeichnung auf, die der Autor dem Werk beigegeben hat: es handelt sich um einen ›Fragmentroman‹. Ein Fragmentroman, so ließe sich der Anlage entnehmen, ist ein Roman aus teils ausgeführten, teils nicht ausgeführten Fragment-Projekten, wobei offen bleibt, ob die Ausführung selbst als Akt der Zerstörung des Projekts oder nur als eine notwendige Folge von Deviationen, also Abweichungen vom ursprünglichen und in der Reinheit seiner Inexistenz nicht bewahrungsfähigen Konzept zu verstehen ist.

Die Anlage des Ganzen

Das klingt nach Spielerei oder, vornehmer ausgedrückt, Tautologie, da jede reale Ausführung eines Projekts den materiell inexistenten Entwurf zu modifizieren und im Erfolgsfall gegenstandslos zu machen pflegt. Die Sache gewinnt ein anderes Gewicht, betrachtet man die nach Art zu traktierender Gegenstände aufgelisteten Inhalte, also ›Wort‹, ›Buch‹ ›Weltanschauung‹, ›Arbeit‹, ›Mensch‹, ›Plan‹, ›Staat‹ und ›Flucht‹. Setzt man statt ›Wort‹ Propaganda, statt ›Buch‹ Archiv, statt ›Weltanschauung‹ Ideologie, statt ›Arbeit‹ politische Ökonomie usw., dann zeigt sich, dass man es mit einer lehrbuchartigen Auflistung von Beschreibungs-Segmenten zu tun hat, aus denen sich die Selbstwahrnehmung respektive Selbstbeschreibung des Weltanschauungsstaates zusammensetzt. Der ironische Schnörkel am Schluss – die ›Flucht‹ – vollendet die Selbstbeschreibung und setzt sie gleichzeitig außer Kraft. Das heißt, er thematisiert das Paradox, mit dem diese Überlegungen begannen: dass ein geschlossenes Gesellschaftssystem offenbar seine Grenzen in sich selbst reproduziert und – im Notfall durch den mentalen, im Glücksfall durch den realen Ausstieg seiner Bewohner – kollabieren lässt. (Sinnigerweise ist dies der Teil des Ganzen, der vom Autor bis heute nicht zum Abschluss gebracht wurde.)

Die Verwicklung der Gegenwart in die vergangene Poesie

Betrachtet man es so, dann nimmt die Bezeichnung ›Fragment‹ ein Element der ideologischen Eigen-Bestimmung des Systems auf: da es sich um eine Gesellschaft im Übergang zum vollendeten Sozialismus – dem kommunistischen Paradies – handelt, kann auch die Selbstbeschreibung nur vorläufig, also fragmentarisch gemeint bleiben. In der Sprache des Systems verrichtet hier das Wort ›Dialektik‹ seinen Dienst. Die Bezeichnung ›Fragment‹ bedeutet demgegenüber ideenhistorisch einen gezielten Regress – die Ersetzung des Zentralbegriffs der marxistisch-leninistischen Selbstbeschreibung durch seinen Vorläufer aus dem terminologischen Inventar der Jenaer Romantik.

Unter dem Fragment als literarischer Form verstehen die Romantiker nichts Unfertiges oder Liegengebliebenes, sondern die angemessene Darstellungsform für eine durchgehend dynamisch gedeutete Wirklichkeit. Was das bedeutet, erfährt man zum Beispiel aus dem Schlussteil des Heinrich von Ofterdingen von Novalis, des nicht ohne Grund Fragment gebliebenen Hauptromans der Romantik. Dieser Schlussteil trägt den Titel Klingsohrs Märchen – und es ist ein Märchen, das da im Roman erzählt wird, genauer gesagt: ein märchenhaftes Spiel der Verwandlungen, in dem nichts so ist, wie es scheint, und keiner der, als der er erscheint. Man könnte es ein Spiel der nicht fixierten, der fluiden Bedeutungen nennen, aus dem es kein Zurück in den bis dahin geltenden, immer noch, wenn auch lose, gewissen ›realistischen‹ Konventionen folgenden Erzählduktus des Romans gibt.

Die Gattungsbezeichnung ›Fragment‹ leistet exakt dasselbe gegenüber den verbindlichen Formeln, in denen das System seine eigene Wirklichkeit als Stadium in einem nach dialektischen Gesetzmäßigkeiten abrollenden Geschichtsprozess fixiert. Anders gesagt: der Rückgriff auf die ästhetische Konzeption des Fragments verwandelt die projektierte Selbstbeschreibung des Systems in ein quasi-romantisches Projekt und damit in eine – immer noch projektierte – Fremdbeschreibung aus maximal denkbarer Distanz. Die unausgeführte, also Halb-Wirklichkeit der allseits, also auch gegen die eigene Zukunft abgeschlossenen Welt des real existierenden Sozialismus erscheint als ebenso reale wie irreale Totenstätte der romantischen Idee einer Welt fluider Bestimmungen und fortwährender Verwandlungen. Folgerichtig heißt das ›Fragment von der Weltanschauung‹ Das Grab des Novalis – nicht etwa, weil es der historischen Person des Novalis gewidmet wäre, sondern weil es die herrschende Ideologie des dialektischen Materialismus als Grabstein präsentiert, der auf die romantische Idee eines in stetem Werden begriffenen Universums gewälzt wurde.

Das inexistente Fragment

Vom dreigliedrigen Titelschema – Beispiel: »DDR – Eine Sprachanstalt – Fragment vom Wort« – weicht der ›Fragmentroman‹ in einem einzigen Falle ab: Das »Fragment vom Plan« trägt die Bezeichnung »Vom Elend einer Methode« – nichts weiter. Gleichgültig, ob man den spezifizierenden Zusatz als Gattungsnamen –  Beispiel: »Dramatisierter Essay« – oder als mediale Verortung – Beispiel: »System einer Lebensweise in fünf Karteikästen« – versteht, in jedem Fall bleibt der Titel »Vom Elend einer Methode« ein Un-Titel, weil er sowohl die Auskunft über den Inhalt als auch die Auskunft über die Form dieses Fragments verweigert. Dass dieses Fragment generell aus dem Zusammenhang der übrigen Fragmente herausfällt, lehrt der Untertitel, der den unerschrocken vorrückenden Leser erwartet. Dort steht: »Fiktives Fragment. Unausführbarer Teil des Ganzen«. Auch dieser Text geht weiter. Er beginnt mit einem kurzen briefförmigen Schreiben einer Person a an eine Person e. Es lautet:

»geliebte e

du schreibst

aufgestellt hätte ich die behauptung von der unausführbarkeit nur und eine faule ausrede sei dies - erfunden um mich um ein fragment zu drücken

ich erwidere

man kommt unwissend und geht nichtswissend
wo ist da platz für den PLAN

die zahl der probleme steigt mit jedem
lösungsversuch wo ist da platz für einen
PLAN

lies erst selbst und dann IHM diese
aufzeichnungen vor - danach urteile neu und
teile meine bedenken

und küsse mich

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/6/texte/6000ii.html]

Somit ist das »Fragment vom Plan« als inexistent zu betrachten. An seiner Stelle offeriert a (= Adam = Autor) ›aufzeichnungen‹, die begründen sollen, warum es den PLAN – groß geschrieben – nicht geben kann. Da sie gerade den Platz einnehmen, den das ausgeführte Fragment vom Plan einnehmen müsste, erscheint die Ankündigung nicht ganz schlüssig, es sei denn, man unterstellt, dass das wahrhaft ausgeführte »Fragment vom Plan« eben nur den PLAN enthalten kann und sonst nichts – jedenfalls keine Überlegungen zu seiner notwendigen Inexistenz.

Überträgt man das Schema analogisierend auf die anderen Fragmente, so wird klar, dass auch in ihnen nur jeweils enthalten sein kann, was die Fragment-Ankündigung benennt, also das ›Wort‹, das ›Buch‹, die ›Weltanschauung‹ usw. – und sonst nichts. Das literarische Verfahren, das dies gewährleisten soll, nennt der Autor ›kommentarloser Realismus‹. Der Ausdruck bedarf selbstverständlich eines Kommentars.

Die Methode des Schriftstellers

Bekanntlich bezeichnete der Terminus ›sozialistischer Realismus‹ die offizielle Kunstdoktrin des sozialistischen Blocks und natürlich auch der DDR. Diese Doktrin enthielt verbindliche, auf diversen Kongressen durch berufene Schriftsteller-Funktionäre spezifizierte Vorgaben, mit denen unmittelbar Einfluss auf die schriftstellerische Produktion im Lande genommen wurde. Nun enthalten die aufzeichnungen in der Tat Aussagen zur Methode des Schriftstellers und setzen sie in Relation zu dem, was von den ›zuständigen Organen‹ gefordert wird:

»SAGTEST DU NICHT SELBST ZUM ELEND MEINER METHODE GEHÖRE SCHLIESSLICH ABER AUCH DASS DAS DEN ZUSTÄNDIGEN ORGANEN ZU ÜBERGEBENDE PÄCKCHEN KEIN EINSCHLÄGIGES WERK ENTHÄLT SONDERN EIN CHAOS VON BRUCHSTÜCKEN SCHERBENHAUFEN WAS ZEIGE DIE BUCHINDUSTRIE GLÄTTE KLEBE KLEISTERE KLITTERE BIS ZUR KÜNSTLICHKEIT MAN SELBER ABER ARBEITET WIE EIN ELEFANT IM PORZELLANLADEN LEBENDES SCHREIBEN IST ETWAS DEMOLANTES ALSO HERUNTERREISSENDES DIE FRAGE NACH DER METHODE DA ANTWORTE ICH EUCH WAS KANN MAN LEISTEN AUSSER DIE FAHNE HOCHHALTEN UND FALLEN UND ICH FRAGE EUCH HABE ICH DAS GELEISTET MEINE METHODE«

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/6/texte/60014.html]

Die Methode dieses Schriftstellers, so ließe sich leicht folgern, besteht darin, sich den »zuständigen Organen« zu verweigern und nicht zu liefern, was sie von ihm erwarten. Doch so einfach ist das nicht. Er liefert ja, und die Reaktion der ›zuständigen Organe‹ lässt nicht erkennen, ob sie von ihm etwas anderes erwarten. Die Aussage, »DIE BUCHINDUSTRIE GLÄTTE KLEBE KLEISTERE KLITTERE BIS ZUR KÜNSTLICHKEIT«, stellt keine Beziehung zu den ›Organen‹ her. Das heißt, es bleibt völlig offen, ob sie und die Buchindustrie ein und dasselbe sind. Offen bleibt auch, wie allgemein diese Aussage zu nehmen ist – ob also der Schriftsteller generell als Teil der Buchindustrie zu betrachten sei oder als ihr Zulieferer, der prinzipiell vor der Wahl steht, das fatale Geschäft des Klebens, Kleisterns und Klitterns selbst zu betreiben (soll heißen, sich auf die Bedingungen der Buchindustrie einzustellen) oder es anderen zu überlassen, was unter Umständen bedeuten könnte, den Bedingungen einer möglichen oder unmöglichen Publikation keinen Einfluss auf die Arbeit zu gestatten. Und weiter: während der Ausdruck ›die zuständigen Organe‹ automatisch an die Organe des vormundschaftlichen Staates denken lässt, gibt der Ausdruck ›Buchindustrie‹ nicht zu erkennen, auf welcher Seite der Systemgrenze hier gesprochen wird. So bleibt als positive Aussage zur Methode die Formulierung: »LEBENDES SCHREIBEN IST ETWAS DEMOLANTES ALSO HERUNTERREISSENDES« sowie eine provisorische Antwort auf die sofort im Raum stehende Frage, wie weit man damit komme: »DA ANTWORTE ICH EUCH WAS KANN MAN LEISTEN AUSSER DIE FAHNE HOCHHALTEN UND FALLEN«. Wessen Fahne? Die des Systems? Ganz sicher nicht. Die des Ich? Das wäre zuviel der Ehre für den Einzelnen, der da spricht. Es wäre auch zuviel Konformität, da es nichts anderes bedeutete, als dass das Ich im System seinen Platz beansprucht. Wenn gesagt wird, der Schriftsteller »ARBEITET WIE EIN ELEFANT IM PORZELLANLADEN«, dann heißt das: an Integration, erfolgreich oder nicht, auf welcher Seite auch immer, ist nicht gedacht. Die Ortlosigkeit des Schriftstellers ist seine Methode.

Was ist ein Exzess?

In einem beliebig herausgegriffenen Online-Lexikon liest man:

»Der Begriff Exzess (von lat. excedere heraustreten, über etwas hinausgehen) bezeichnet:

  • eine Ausschweifung, Maßlosigkeit oder Übertreibung
  • ein statistisches Verteilungsmaß, siehe Wölbung
  • eine Winkelsumme des Dreiecks über 180°, siehe sphärischer Exzess«

[http://www.woxikon.de].

Ausschweifend, maßlos, übertreibend: hinter solchen Vokabeln steckt, wie alle wissen, ein Verurteilungsmechanismus, der ein Verhalten auf eine Verhaltensnorm bezieht und es sub specie dieser Norm verwirft. Eine Ausschweifung liegt dann vor, wenn jemand die gerade Bahn verlässt, maßlos ist der, der sich mit keinem Maß begnügt, und wer übertreibt, nun, der übertreibt – das heißt, er treibt sein Spiel über einen gesetzten Rahmen, über ein gesetztes Maß, über eine gesetzte Grenze hinaus und haftet dementsprechend für die Folgen. Wer sich nicht damit begnügt, in die Verurteilung einzustimmen – also der Abweichung mit Unverständnis zu begegnen, die gesetzte Norm zu respektieren und den Regeln entsprechend mitzuspielen –, wer stattdessen den Verurteilungsmechanismus selbst ins Auge fasst, stößt auf bestimmte Fragen: etwa die, wohin die gerade Bahn, auf der die Konformen dahinziehen, wohl führen mag. Oder: wer die Norm gesetzt hat, welchem Zweck sie dient und wie sie sich begründen lässt. Oder: wer die Grenze gesetzt hat, was diese Grenze ausgrenzt und ob es überhaupt möglich ist, eine gesetzte Grenze zu respektieren und sie nicht, zumindest in Gedanken, zu überschreiten. Wer letzteres tut, der stößt auf ein Paradox: er kann das Problem der Abweichung nicht thematisieren, ohne sich selbst einer Abweichung schuldig zu machen. Der Intellektuelle, so die Regel unter Regimen, die ihre Denker für ihre Gedanken haftbar machen, steht immer mit einem Bein im Gefängnis. In einem solchen Regime besitzt die etwas pathetisch anmutende Formel »DA ANTWORTE ICH EUCH WAS KANN MAN LEISTEN AUSSER DIE FAHNE HOCHHALTEN UND FALLEN« einen präzisen Sinn: Die kompromisslose Ausschweifung des schreibenden Intellekts ist durch Lebensklugheit, das heißt durch die Fähigkeit, sich gezielt und rechtzeitig anzupassen, nicht zu retten.

Das Problem der Anerkennung

Werden wir etwas genauer. Im Exzess steckt das lateinische ›cedere‹, zu deutsch ›weichen‹, ›Raum geben‹, ›eine Konzession machen‹. In gewisser Weise partizipiert auch der neudeutsche ›Aussteiger‹ an diesem semantischen Feld. Wer einen Exzess begeht, steigt aus: er betrachtet sich nicht länger als Teil des Systems und wird von diesem nicht länger als solcher akzeptiert. Er ist ›weg‹. Exakt das meint der Ausdruck ›einem Exzess frönen‹: der Exzedierende untersteht einer anderen Dienstbarkeit, er hat seine Loyalität ›aufgekündigt‹. Auch dieser Ausdruck enthält eine externe Verurteilung: ›Dem Exzess frönen‹ heißt: sich (etwas) herausnehmen, sich erdreisten, ›eine Dreistigkeit begehen‹. Wenden wir diese Überlegung auf Das Land aller Übel an, dann sehen wir, dass es mit einer Serie erdachter Dreistigkeiten beginnt. Hinter dem Titel DDR – Eine Sprachanstalt verbergen sich Entwürfe zu einer Serie von Installationen im öffentlichen Raum der DDR, präziser: im Stadtbild der Hauptstadt Ost-Berlin. Dieser öffentliche Raum ist ein Raum der Propaganda, erfüllt von Fahnen, Parolen und ikonischen Elementen des parteioffiziellen Personenkults. Die Vorschläge des Autors sind offenkundig ergänzender Natur. Sie beanspruchen nicht, völlig neue Elemente ins Stadtbild einzufügen. Allerdings sind die vorgeschlagenen Ergänzungen des Stadtbildes von solcher Art, dass sich das Nachdenken über ihre Realisierung aus Gründen einer rigide gefassten Staatsräson – praktisch von selbst verbietet. Die Dreistigkeit der Vorschläge besteht darin, dass sie neuralgische Punkte des Systems beschriften und ausstellen, als handle es sich um seine obligaten Erfolge. Gleichzeitig aber stellen sie die Verfahren aus, nach denen diese Erfolge propagandistisch produziert werden. Ein einfaches Beispiel: Die DDR der Sechziger Jahre, in denen die Aufzeichnungen zum Fragment vom Wort entstehen, ist ein Land, dessen diplomatische Anerkennung durch die westdeutsche Hallstein-Doktrin in westlichen und neutralen Ländern systematisch ver- und behindert wurde. Die DDR ringt also, gemäß der pathetisch-komischen Sprache politischer Propaganda, um Anerkennung. Dem trägt Körners Vorschlag Rechnung, die gestufte Zeichenfolge »d!d!r!« an den »hauptstadthimmel« schreiben zu lassen:

»von düsenjägern
in den wind geschrieben
mit farbigem rauch
schwarz rot und gold

im blauen dunst
des hauptstadthimmels

stündlich«

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/1/10002.html]

Das ist nicht tief, das ist nicht komplex, es ist einfach und gleichzeitig schlagend.

Großes Publikum oder keines

Sehen wir uns um: wir  befinden uns in den späten Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die ästhetische Avantgarde des Westens betrachtet Installationen im politisch-öffentlichen Raum – permanente und temporäre, letztere gern Happenings genannt – als das ultimative Kunstmittel zur Veränderung von gesellschaftlichem Bewusstsein: weg von Konsum-Idiotie und internalisiertem Leistungsdruck, hin zu einer solidarischen und libidobetonten Konzeption des sozialen Ego. Die östlichen ›Organe‹ folgen dem ideologischen Treiben mit gemischtem Interesse. Auf eigenem Territorium treten sie ihm entschlossen entgegen. Die ästhetische Übernahme kommt einer Anleihe beim Klassenfeind gleich. Entsprechend aussichtslos bleibt die Hoffnung auf Realisierung. Erhalten bleibt der Anspruch auf Präsenz im öffentlichen Raum – dort also, wo die literarischen Partial-Öffentlichkeiten Buchmarkt, Theater und Oper – Körner schreibt auch Stücke für das Musiktheater – nicht hinreichen. Der Anspruch gerät zum ästhetischen Zeichen, zur poetischen Figur innerhalb einer Produktion, die über Jahrzehnte nicht das Licht der Öffentlichkeit erblickt, weil sie mit ihr nicht kompatibel erscheint. Zum ästhetischen Exzess (verstanden als Austritt aus dem Spiel mit politisch erlaubten Formen) gesellt sich der soziale. Das Schreiben löst sich radikal von der Vorstellung des Adressaten. Das adressierte Publikum – die gedachte hauptstädtische Öffentlichkeit als Teilhaberin einer Inszenierung im öffentlichen Raum – erscheint im Ansatz dekonstruiert durch die Macht, die Öffentlichkeit im gleichen Zug herstellt, in dem sie sie wirksam mit Hilfe ihres allgegenwärtigen Repressionsapparates verhindert.

Das Paradox der Autonomie

Warum beraubt sich ein Autor am Startpunkt seiner ›Karriere‹ mit einer einzigen Entscheidung seines gegenwärtigen und künftigen Publikums? Die Frage lässt sich so stellen, weil die Literatur, die hier entsteht, nicht auf bessere Verhältnisse hofft. Damit stemmt sie sich einem Verständnis der ästhetischen Dinge entgegen, das mittlerweile so allgemein geworden ist, dass es als selbstverständlich gilt. Ein Autor wie Körner will nicht verändern, er will gestalten. Der Gestaltungsimpuls verträgt weder den Primat des Politischen noch den des Sozialen. Körner vertritt mit selten gewordener Entschiedenheit den Primat des Ästhetischen, man kann auch sagen: er vertritt die Autonomie der Kunst. Aber dieser Ausdruck ist missverständlich. Er bedeutet nicht, dass Künstler tun und lassen können, was sie wollen, oder dass im Bereich der Kunst ›alles möglich ist‹. Wäre im Bereich der Kunst alles möglich, dann sollte es auch möglich gewesen sein, die mehr oder minder plausiblen Ansprüche von Feierabendlesern, Zensoren, Polizeispitzeln, Westredakteuren, Parteikontrolleuren und Stasi-Überwachern wenn schon nicht zu befriedigen, so doch wenigstens so weit in die eigene Arbeit einzubeziehen, dass einer wohlwollenden Aufnahme, sei es im Osten, sei es im Westen, nichts im Wege gestanden wäre. Dass dem nicht so war, hat im gegebenen Fall einen einzigen Grund. Das Konzept, dem Körner sich verschreibt, fordert die totale Überschreibung der Selbstbeschreibung des Gemeinwesens, des ›gemeinen Wesens‹, das zugleich das ›böse‹ ist, wie es süffisant zu Beginn des Fragments vom Mensch mit einem Nietzsche-Zitat heißt:

»Wer hier nicht lachen kann,
soll hier nicht lesen!
Denn lacht er nicht,
faßt ihn das böse Wesen.«

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/5/index.html]

Das Selbstbeschreibungsmonopol im real existierenden Sozialismus liegt bei der Staatspartei und ihren ›Organen‹. Da liegt es auf der Hand, dass der ästhetische Exzess (›Ausstieg‹) nur als politischer wahrgenommen werden kann. Die allgemeine Wahrnehmung schließt sich also selbst aus. Darin liegt das fundamentale Paradoxon einer so gefassten Kunst.

Das Grab des Klassikers

In diesen Überlegungen steckt auch ein mediales Problem. Wenn sich die öffentliche Inszenierung als gesuchtes und gemeintes Medium ›von selbst verbietet‹, wenn das traditionelle Buch als konventionelles Medium der Literatur aus konzeptionellen Gründen nicht in Betracht kommt, dann bleibt als legitimes Medium zunächst nur das den öffentlichen Blicken entzogene Manuskript des Autors übrig. Am Land aller Übel ist die Richtigkeit dieser Diagnose zu besichtigen: Es gilt das Manuskript, wie es im Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur aufbewahrt und zu Forschungszwecken zugänglich ist. Ablesen lässt sich das an der einzigen bisher existierenden Buchpublikation eines Fragments – Das Grab des Novalis –, in dessen Vorspann es lapidar heißt:

»Die komplette Textsammlung ist in der Stiftung Aufarbeitung archiviert.«

Der Schriftsteller, heißt das, positioniert sich als einen künftig zu edierenden, zu seiner Zeit inexistenten Klassiker. Allgemein sichtbar wurde dieser Tatbestand nur durch den realen Zusammenbruch des östlichen Herrschaftssystems und die darauf folgende Einrichtung des Stiftungsarchivs. Der – cum grano salis – ideale Verwahrort wäre das jeder Öffentlichkeit entzogene Archiv der Staatssicherheitsorgane Ost gewesen. Es hätte die Zeitentrücktheit des Œuvres staatlicherseits sichergestellt. Wem das grotesk vorkommt, der sei daran erinnert, dass über Jahrzehnte genau darin das reale Los unliebsamer literarischer Erzeugnisse bestand, von denen nicht wenige mit großer Sicherheit als endgültig verloren betrachtet werden müssen. Der Autor des ›Fragmentromans‹ sucht – darin liegt die offenkundige Stärke und das abgründige Geheimnis seiner Methode – den Ort der maximalen Schriftsteller-Angst im säkularen Raum auf, um ihn als auf unbestimmte Zeit vorläufigen Ziel-Ort aller nicht-botmäßigen Literatur zu markieren.

Dieser ebenso imaginäre wie nicht-imaginäre Ort ist nicht das reale Stasi-Archiv, sondern seine Gegenschöpfung. Der Titel Das Grab des Novalis führt auf ihre Spur: Die Selbstabschließung der lebenden, noch im Entstehen begriffenen Literatur bewahrt wie ein Grab das Gedächtnis der Klassiker, die unter anderen, glücklicheren Bedingungen produzieren konnten. Und sie rückt sie an die Seite der Klassiker, weil sie im Kern nur ihre Methode der freien, keinem Plan und keinem Sinn-Diktat unterworfenen Gedanken-Produktion fortführt. Man erinnert sich an das Geplänkel zwischen a und e zu Beginn des Fragments vom Plan: natürlich liegt ihm die Paradiesszene aus dem ersten Buch Moses zu Grunde, was die Rede von ›IHM‹ (groß geschrieben) nahezu plakativ verdeutlicht. Wie die Realutopie selbst zitiert das freie Wort des Autors den Paradiesmythos. Anders als diese bleibt es den Anfängen verpflichtet – bleibt anfängliche, im Kern bewegliche und auf kein vorgängiges System verpflichtete Rede.

Die Bewahrform

Die Literatur kennt flüchtig hingeworfene, als Systeme verschachtelter Korrekturen angelegte, formal entgleiste, ausufernde und sorgfältig die Druckeinrichtung vorausorganisierende Manuskripte. Daneben kennt sie das penibel ausgeführte und gestaltete Manuskript, das gegenüber jeder Reproduktion des Textes seinen formalen Eigenwert bewahrt. Zu letzterem Typus zählt auch das Körnersche Manu-, eigentlich Typoskript. Körners Schreibwerkzeug bis heute ist die mechanische Schreibmaschine, ein Gerät, das im allgemeinen Gebrauch seit den Neunziger Jahren erst durch die elektronische Schreibmaschine und später durch PC, Notebook, Tablet PC u.a. abgelöst wurde. Bei einem Schriftsteller des Jahrgang 1942 wirkt das nicht besonders auffällig, auch wenn man weiß, dass Schreibmaschinen in der DDR registriert waren und nicht jedermann zur Verfügung standen. Im Papier kommen unterschiedliche Formate zum Einsatz, darunter ein verkürztes DIN-A3- Format von 29,9 x 33,5 cm. Das entspricht dem Faltformat eines EEG-Papiers aus der Ostberliner Charité der Siebziger Jahre. Solche Details sind nicht unwichtig, weil sich das Verfahren in den Text hinein fortsetzt. Auch hier finden Materialien und Textbausteine aus der Realzone Verwendung, auf die der ›kommentarlose Realismus‹ sich einlässt.

Von der Buch- zur Karteiform

Das Körnersche Typoskript ist keine private Vorform des gedruckten Buches, eher ein Abgesang. Man könnte es auch die materielle Gestalt der konkreten Reflexion auf die zeitgenössische Gestalt dessen nennen, was einmal Buch hieß. Im Fragment vom Buch wird das konsequenterweise zum Thema gemacht. Vom Buch als dem klassischen Mitteilungs- und Archivierungsmittel der Literatur ist darin kaum einmal die Rede. Bedeutsamer noch: das Fragment vom Buch ist nicht etwa als Buch konzipiert, sondern als System einer Lebensweise in fünf Karteikästen – also als Kartei. Sie trägt die Bezeichnung EGSS oder Die Einheitskartei. Die Buchstabenfolge ›EGSS‹ steht für ›Entwickeltes Gesellschaftliches System des Sozialismus‹. Die Anspielung lässt sich leicht auflösen: es ist die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, kurz SED, in deren Händen das Selbstbeschreibungs- und Erfassungsmonopol des Systems liegt. Wer Einheitskartei auf Einheitspartei reimt, parodiert dieses Monopol durch Übertragung auf das eigene Projekt. Übertragen wird ein Anspruch, der nicht übertragen werden kann. Es handelt sich um eine Luftbuchung. Die Praxis solcher poetischer Luftbuchungen nennt der Autor ›barbarocken Kabarettismus‹. Der Neologismus enthält erkennbar die Terme ›barbarisch‹, ›barock‹ und ›Kabarettismus‹. Gemeint ist nicht etwa ›barbarisch-barockes Kabarett‹, sondern: kabarettistisches Verfahren mit barbarischer, sprich: norm-unterlaufender Tendenz (der Elefant im Porzellanladen!), und barocker, sprich: Welttheater-Attitüde. Der barbarocke Kabarettismus ist die Kehrseite – des kommentarlosen Realismus. Dem Systemerfassungs- und Beschreibungsmonopol der Partei gegenüber positioniert sich das Projekt des Fragmentromans als Verzettelungsinstanz aus poetischem Eigenrecht.

Formal ist das Fragment vom Buch ein System aus Verzettelungssystemen, die unterschiedlichen Ordnungsmustern folgen. Die lineare Lektüre scheidet als adäquater Lesezugang aus. Vom konventionellen Leser unterscheidet sich der Benutzer der Einheitskartei durch die ihm vom Autor abverlangte Praxis des ›Ensemblierens‹.

»systematik und feinabstimmung der kästen untereinander sind deshalb so wichtig weil sonst das ganze als ›neue form von buch‹ nicht funktioniert

zu drucken wäre die kartei beispielsweise auf karten die in kästen übereinander gestapelt sind

der leser kann sich zum buch dann in der weise verhalten wie er sich sonst zu einem buch nicht mehr verhält denn er muß beim lesen mit den karten hantierend ensemblieren einfach um beziehungen zusammenhänge herauszufinden und kommt so vielleicht auch der ›neuen art zu lesen‹ ein stück näher«

[http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land/2/texte/2010001.html#f2010004a]

Anders ausgedrückt: mit der Theorie des ›Ensemblierens‹ bekommen die Leser ein Werkzeug in die Hand, mit dessen Hilfe sie durch selbstverantwortete Zusammenstellung des Lektürematerials die Freiheit der Sinnsupposition und -aggravierung behalten – oder überhaupt erst ausbilden. Der Autor, soweit er in Erscheinung tritt, ersetzt in diesem System also – quasi eigen-mächtig – die Partei als perspektivierende und aufzeichnende Instanz (Exzess 1) und fordert seine Leserschaft auf, sich von seiner, des Autors, Perspektive ebenfalls freizumachen (Exzess 2).

Klapprechner und andere Objekte der kommunikativen Phantasie

Installationsentwürfe, Karteisysteme, ›dramatisierter Essay‹ resp. ›Textspiel‹, mikrologische Herstellungsanleitung für einen ungeschriebenen Roman, philologische Rekonstruktion behördlich geschredderten Materials – die Liste der Formen, in denen sich das ›Projekt‹ der Selbstbeschreibung des Systems entgegenstellt, ist ebenso lang wie die der ›Fragmente‹ selbst. Ein einheitliches Formschema ist nicht erkennbar und offenbar nicht intendiert: die Logik des Exzesses wird auch am Kollaps formaler Homogenitätsvorstellungen ablesbar. Den vier ›Lesespielen‹ des Fragments vom Staat hat der Autor sogenannte ›Manuskript-Modelle‹ mitgegeben. Sie besitzen den Charme von Bastelanleitungen und sind möglicherweise auch so gemeint. In das ›Werk‹ geht also nicht nur der reale Autor, sondern gleichermaßen seine reale, wenngleich inexistente Leserschaft ein. Sie sieht sich an solchen Stellen unvermittelt in die Gestaltung, sprich: handgreifliche Formung des Manuskripts einbezogen – jedenfalls dann, wenn die Regeln, nach denen gespielt wird, es erfordern.

Das wirft die Frage auf, in welchem medialen Raum das zeitentrückte  Œuvre der Selbsteinkapselung überhaupt entkommen kann, die nacheinander als Entwurfsbedingung und Bewahrmodus in Erscheinung trat. Anders gefragt: Wo jenseits von staatlich gelenkter und/oder marktorientierter Buchindustrie findet dieses Werk jene uneingeschränkte Öffentlichkeit, für die es geschaffen wurde? Es wundert einen nicht, dass die erste Antwort des Schreibers auf diese Frage utopischer Natur ist. Es müsste möglich sein, heißt es in einem Karteieintrag, die Texte des Projekts ins Fernsehen einzuspeisen und durch dezentrale Zusammenschaltung von Geräten allgemein zugänglich zu machen. Es ist der Traum der Sechziger und Siebziger Jahre vor der Einführung des Privatfernsehens vom Unterlaufen des staatlichen Sendemonopols, der einem noch heute in den Museen der westlichen Hemisphäre aus in die Jahre gekommenen Video-Installationen entgegendämmert. Bald rückt die Entwicklung der Computertechnologie ins Zentrum medialer Phantasien. Im Fragment vom Buch finden sich kluge, skurrile, gelegentlich bizarre Überlegungen und Vorschläge zu einer literaturgerechten Computertechnik. Auch terminologische Anregungen finden sich darunter: der ›Klapprechner‹ (für das allseits beliebte ›notebook‹) wartet noch auf seine Entdeckung.

Die Netzedition

Eines ist es, eine im Entstehen befindliche Technologie im Medium träumerischer Entwürfe auf künftige Möglichkeiten des Schreibens und Publizierens hin abzutasten, ein anderes, das Projekt als solches im Internet zu publizieren und damit – in Anbetracht der gewollt defizitären Manuskript- oder Buchform – medial im öffentlichen Raum zu realisieren. Das world wide web ist formal ubiquitär, inhaltlich chaotisch, soll heißen strukturneutral, und herrschaftstechnisch gesehen zwar nicht unkontrolliert, aber bislang erstaunlich kontrollresistent, um nicht zu sagen -renitent. Das sind Eigenschaften, die es zum idealen Erscheinungsort des Körnerschen Projekts qualifizieren. Man versteht die ungeheure subversive Kraft des Netzes in deutungsmonopolistischen Gesellschaften, wenn man den Umstand bedenkt, dass der allgemeine Zugang zu nicht konformen Projekten durch die relative Ortlosigkeit bzw. beliebige Reduplizierbarkeit einer Netzpublikation nur behindert, aber nicht umfassend verhindert werden kann. Die radikale De-Montage von Deutungsmonopolen ist der produktive Kern des ›Fragmentromans‹. In diesem ›demolanten‹ Zug trifft er sich mit der Logik des Netzes, die auf die radikale und formal beliebige Gruppierbarkeit, sprich: Perspektivierung sämtlicher Inhalte hinausläuft. Das www als medialer Realisationsraum des Fragmentromans behebt das Adressierungsdilemma des ›Fragmentromans‹ (seine ›Ortlosigkeit‹) und macht ihn kommunikationshistorisch lesbar. In einem anderen Register könnte das heißen: der Fragmentroman ist im Netz ›angekommen‹. Das Netz ist das Jenseits der Grenze, die das ›Projekt‹ zu demolieren sich anheischig macht. Gerade deswegen ist die Netzedition nicht mehr Teil des Projekts, sondern seine Einlösung in einem Medium, dessen reale Gestaltungsmöglichkeiten so, wie sie sich nun einmal ergeben haben, innerhalb der Texte keine Rolle spielen. 

Vortrag, gehalten im Rahmen der Hagener Ringvorlesung »Klassiker: lesen!« am 15. Juni 2012 (redigierte Fassung)

 

Literatur

THOMAS KÖRNER, Das Grab des Novalis, Frankfurt/M.-Wien-Zürich (Büchergilde Gutenberg) 2007. Darin: Joachim Walther, Thomas Körner – Gegen den Strom (Nachwort, S. 235-249)
THOMAS KÖRNER, Das Land aller Übel. Fragmentroman, hrsg. v. Ulrich Schödlbauer, 2008ff. [http://www.iablis.de/actalitterarum/koerner/land]
GABI RÜTH, Die Kästen des Herrn K. – (K)eine Handreichung zu Thomas Körners Fragment vom Buch, in: Iablis 2010 [http://www.iablis.de/iablis_t/2010/rueth10.html]
ULRICH SCHÖDLBAUER, Editionsprojekt Thomas Körner: Das Land aller Übel. Fragmentroman [http://www.fernuni-hagen.de/EUROLIT/US/lektionen/koerner/tk_projekt.html]
ULRICH SCHÖDLBAUER, Lesespiele, in: Mikropoetik, Acta litterarum 2010ff [http://www.actalitterarum.de/us/mp/ml03001.html]
JOACHIM WALTHER, Der fünfte Zensor: Unterdrückte Literatur in der DDR, in: Claudius Rosenthal, Zensur (Schriften der Konrad Adenauer-Stiftung, 2003)