Steffen Dietzsch, Wandel der Welt. Manutius (Edition Zeno): Heidelberg 2010, 335 S.

Das Kreuz mit der Welt


Dass es augenfällig immer-so-weiter-geht in einer linearen Dynamik im Denken und Leiden, haben manche der Modernen als Alltagsausdruck des (politischen wie szientifischen) Nihilismus empfunden. Dagegen gab es zeitgenössisch zwei Strategien: eine sozusagen diesseitige, die darin besteht, einen Bruch dieser Kontinuität zu organisieren, und eine jenseitige, die als religiöses Versprechen auch ein Ende der irdischen Geschichte imaginiert. Beide konvergieren allerdings als apokalyptische Denkformen.
Steffen Dietzsch

Wenn einer ein Buch gelesen hat, hat er etwas zu erzählen. Wer Steffen Dietzsch’ Wandel der Welt gelesen hat, hätte mancherlei zu erzählen, aber er wird den Verdacht nicht los, dass es der Autor schon besser erledigt hat. Von welcher Zeit ist in dem Buch die Rede? Von der Lebenszeit des Verfassers? Nun, es ist ein philosophisches Buch, so verbietet sich ein klares Ja ebenso wie ein deutliches Nein. Die Lebenszeit, wie sie durch die verschiedenen zu Kapiteln geordneten Aufsätze hindurchschimmert, ist hier keine Spanne, schon eher Metapher für die Erwartungseinheit einer Epoche. Eine Metapher also? Oder doch eher das sich Wandelnde selbst, namenlos, gestaltgebend, gestaltlos? Das mag schon sein. Die menschliche Lebenszeit und das philosophische Staunen: hier erscheinen sie aneinander gekoppelt, bedacht in Gestalten der näheren und ferneren europäischen Vergangenheit, deren Schatten auf die eine oder andere Weise in die Gegenwart hineinragen.

Was verbindet den Marquês de Pombal (1699 – 1782) mit Immanuel Kant (1724 – 1804)? Beide genossen, folgt man dem Sog der Jahreszahlen, das Jahrhundertpanorama der Aufklärung, wenngleich aus recht unterschiedlichem Blickwinkel. Beide blieben, folgt man dem Kant-Biographen Steffen Dietzsch, lebendig als Gestalter der Katastrophe. Im Fall des Marquês liegt das auf der Hand – sein Name verbindet sich mit dem Wiederaufbau Lissabons nach dem verheerenden Erdbeben von 1755, das Voltaire zu ein paar vieldiskutierten Versen veranlasste und ein Medienbeben auslöste, das sich bis in die Königsberger Studierstube hinein bemerkbar machte. So geht das: die einen haben zu diskutieren und die anderen handeln, weil gehandelt werden muss. Schwer zu entscheiden, welche Seite unempfindlicher gegen die andere bleibt. Ein Kant steht im Verdacht, die Katastrophe der Metaphysik selbst heraufbeschworen zu haben, auf die seine Kritiken antworten. Richtig ist das so nicht. Immerhin bleibt zu konstatieren, dass die Aufklärung, die den praktischen Sinn des einen befähigte, in der naturverorteten Katastrophe zu tun, was getan werden konnte, philosophisch gesehen zum Auslöser einer Katastrophe wurde, der zum ersten Mal seit zweitausend Jahren wieder etwas Bewegung in die Philosophie zu bringen gelang. Unsere postphilosophischen Zeitgenossen mögen lächelnd darüber hinweggehen, grundlos, wie es scheint, denn so entgeht ihnen, woher die Begriffe stammen, denen sich ihr begriffsloser Modernismus verdankt. Und auch der Neuaufbau Lissabons war schließlich kein Wiederaufbau, sondern Teil eines Plans, der Portugal staatstechnisch und ökonomisch in die Moderne katapultieren sollte.

So steht es in den Geschichtsbüchern. Schumpeter im 18. Jahrhundert? Der Philosoph als rückwärtsgewandter Prophet der schöpferischen Zerstörung? Oder als Apologet jener kleinen und großen Titanen, die sich der Krise zu bemächtigen wissen, um Entscheidungen zu erzwingen, die sich in normalen Zeiten nicht durchsetzen lassen? Das wäre keine besonders gute Rolle und der Verfasser ist zu gewitzt, um sie auszufüllen, auch wenn er gelegentlich in sie zu schlüpfen scheint. Unausweichlich sind nur die Schocks, die den Einzelnen ›über Nacht‹ aus einer Realität in eine andere katapultieren. Ihre theoretische Bewältigung erzeugt auch eine Praxis, während die theoriegesteuerte Bewältigung durch die entsprechende Praxis – das ›harte‹ Regiment eines Pombal, der Leninismus, der zum Stalinismus mutiert – irgendwann den Gulag hervorbringt, der nicht so geplant war, aber dann doch so geplant und realisiert wurde, um weiter im Plan zu liegen.

Über die Zurichtung von Theorie in der Praxis und deren Rückübersetzung in Theorie gibt der Text eines Dritten eindringlich Auskunft, den Dietzsch in sein Buch übernommen hat (»Zur Kritik der politischen Theologie«, Anhang, inzwischen auch als Einzelpublikation greifbar): Oskar Levys Offener Brief an Hitler aus dem Jahr 1938. In diesem liegengebliebenen Brief geht es um das, was man heute Deutungshoheit nennt. Der engagierte – und enrangierte – Londoner Nietzsche-Übersetzer, -Herausgeber und -Apologet Levy bestreitet dem damals aktuellen Großprofiteur einer gerade einige Jahre zurückliegenden Wirtschaftskatastrophe das vollmundig in Anspruch genommene Recht, sich auf Nietzsche, den Apologeten des Immoralismus der Macht, diesen, aus britischer Sicht, schlimmen Genius der Deutschen zu berufen. Mit wenigen Griffen verwandelt Levy den Lieferanten der nationalsozialistischen Weltanschauung in ihren schärfsten Kritiker, ja posthumen Feind: eine Lektüre, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt, doch in ihrer intrikanten Verwobenheit mit dem Gegenstand den Heutigen wohl nur mit einem gewissen Kommentar-Aufwand nahegebracht werden kann. Als Levy-Herausgeber diskutiert Dietzsch gekonnt die Grundlagen und Nuancen des Levyschen Geist-Aristokratismus, lässt dabei Verwandte im Geiste wie Ernst Jünger und Ortega y Gasset zu Wort kommen. Auch hier regiert der Schock die Wahrnehmung: der real existierende nationalsozialistische Volksgenosse wird zum Inbild dessen, was noch nie ging, und Nietzsches Kritik an ›den Deutschen‹ darf einen Antigermanismus der Attitüde würzen, der viel mit dem Bedürfnis des Intellektuellen zu tun hat, sich vom Humus kollektiver Gesinnung zu emanzipieren, aber ebenso viel mit der Verlegenheit, auf diesen un/deutschesten aller Denker zu setzen in einer Umgebung, in der dergleichen als Peinlichkeit wahrgenommen wird.

Was ist politische Theologie? Dietzsch führt auf zweifache Weise in den Themenkomplex ein: negativ über den metaphysischen Furor der bolschewistischen Revolution und ihre verheerenden Folgen für Staat, Recht, Lebensverhältnisse und die Konstitution des Individuums selbst, die Quelle und den Ort aller Erfahrung, die von den Ideologen des Kollektivs allzu rasch verabschiedet wird, – positiv über eine Reflexion, über der in seltsamer Offenheit die ›Pathosformel‹ Golgatha steht: »Die Welt ist von kreuzartiger Natur« (9). Ist sie das? Wie hält es Dietzsch, nach Nietzsche oder Rorty oder Derrida oder Habermas, mit dem Postkulturalismus eines jeden Denkens, dem noch als Philosophie aufzutreten erlaubt ist? Die Antwort ist denkbar einfach: »Man wird in den anthropologischen Implikationen von Golgatha rechtens Konstellationen erkennen können, in denen – mit modernen Termini gesprochen – der empirisch-sinnliche Mensch als abhängiges Gemeinschaftswesen sich transformiert in eine je individuell-interindividuelle Person. Seine neue, moderne Lebensform ist der von Kant so identifizierte ›Antagonism der ungeselligen Geselligkeit.‹« (17) Golgatha also ist der Ursprung jenes Gesellschaftswesens Mensch, dessen primären Handlungs- und Orientierungsrahmen heute die Weltgesellschaft bildet, mit allen rechtlichen und technischen Sicherheiten, die sie zu bieten und gelegentlich zu entziehen weiß. Das entfernt sich vom traditionellen Christentum, es setzt Nietzsches »Gott ist tot« ineins mit der Botschaft vom Kreuzestod und wirbt am Ende mit dem Jesuiten Xavier Tilliette, für eine ›Hermeneutik des Kreuzes‹ als »Selbstüberstieg der reflektierenden Vernunft«. (24)

Warum? Der Hauch einer praktischen Begründung streift den Leser in der Wendung von der »straf-(ja todes-)bewährte[n] Irreversibilität des einmal bekundeten Credos« (19) anderer Formen der Religiosität – nicht Religionen –: die Formel gibt das Buch dem Heute wieder und weist ineins zurück auf die »Genealogie des Schreckens« der Terror-Jahre unter Stalin: Moskau 1936-1938. Dietzsch ist ein ebenso beschlagener wie leidenschaftlicher Analytiker des Stalinismus und dieses Kapitel gehört nicht nur zu den lesenswertesten des Buches, sondern vielleicht der einschlägigen Literatur überhaupt. Im Zentrum steht die aus der Forschung zum Nationalsozialismus vertraute Figur des Kulturbruchs: »Diese Zeit des exzessiven, nach innen gerichteten und längst nicht mehr schichten-, sozial- oder klassenorientierten Massenterrors in den Dreißigern markiert einen definitiven Bruch in der Kultur sozialer Revolutionen überhaupt.« (163) In einer Zeit der starken Formeln kann so ein Satz leicht untergehen. Er besitzt aber einen analytischen Sinn. Der revolutionäre Impuls, mit aller bisherigen Menschheitsgeschichte zu brechen (Marx: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«), umschließt zwar den Gedanken der Kulturrevolution, aber er reicht nicht aus, um jenen ›definitiven‹ Bruch der Revolutionskultur zu erklären, den Dietzsch mit den Folgen des Mordes an dem Parteifunktionär Sergei Mironowitsch Kirow (am 1. Dezember 1934, Beginn des Großen Terrors) erreicht und in den Moskauer Schauprozessen vollendet sieht. Terror, so Dietzsch, ist nicht gleich Terror – während sich der revolutionäre Terror der Bolschewiki ideologisch-historisch sehr wohl begreifen lässt, auch wenn man ihm ablehnend gegenübersteht, tritt im Fall des Großen Terrors Stalinscher Prägung jene Figur des Unbegreiflichen in Funktion, die der Historiker Koselleck einst für die nationalsozialistische ›Endlösung‹ reklamierte. Es ist der Vorgang, der sich dem Begreifen verweigert.

Diese Denkfigur, falls sie nicht der Bequemlichkeit dessen dienen soll, der nicht begreifen will, führt zwangsläufig auf jene bereits erörterte ›kreuzförmige Natur‹ der Welt zurück, die im Zusammenhang dieses Kapitels leider keine Erwähnung findet. Denn in der Sache sind es die Bolschewiki, die von ihrer Bewegung überwältigt und am Ende verschlungen werden: »Jedenfalls schien es, als brach jetzt bei allen, die um den Aufbau der Neuen Welt bemüht waren, das ›Karamasoff‹-Syndrom aus, nämlich: ›sie waren nicht gewachsen dem Aufruhr, den sie selbst anzettelten‹.« (170) Entsprechend kommen die antiken Tragödienbegriffe ›Furcht‹ und ›Schrecken‹ in Anschlag, die in der Kriegsrhetorik der Bush-Ära wieder auftauchten und seither eine gewisse Präsenz in Fragen der Zerstörung gewachsener Strukturen zur Durchsetzung (post)moderner Herrschaft beanspruchen. »Dass man eben von den Prinzipien des originären Marxismus abgewichen sei, wäre als ›Erklärung‹ ungefähr so hinreichend wie die, dass der Serienmörder das fünfte Gebot des Dekalogs nicht eingehalten habe...« (169f.) Das fünfte Gebot des Marxismus hätte wohl darin bestanden, Klassen und Klassenverhältnisse statt Menschen zu eliminieren – worin Dietzsch übrigens selbst noch den Unterschied des Stalin-Terrors von den »Schrecken der rassistischen, xenophobischen Auslöschungsexzesse des deutschen Nationalsozialismus« (179) erkennen zu können glaubt.

In gewisser Weise hält auch Dietzsch an der These fest, beim stalinistischen Massenmord, dessen Dimension er kennt und mehrfach hervorgehoben hat, habe es sich, gemessen an den ideologischen Prämissen der Täter, eher um einen Kollateralschaden der Geschichte als um ein intendiertes Geschehen gehandelt. Das ist zum Teil der forcierten Ablehnung der Totalitarismus-These geschuldet, zum anderen der banalen Einsicht, dass es selten ausreicht, den großen Tätern der Geschichte kriminelle Energie zu attestieren. Wo die Herrschaft des – universal, d.h. ›kreuzförmig‹ gedachten – Rechts als Unrechtsquelle identifiziert und im vollen Bewusstsein der Tat ausgeschaltet wird, kommen Prozesse in Gang, von denen der einfache Mordbube sich nichts träumen lässt. Selbst wenn er sich einfallen ließe, von ihnen zu träumen, würde es ihm nichts nützen: darin besteht das Raskolnikow-Problem. Der Historiker des Grauens aber hat die Aufgabe, Büchners Aufforderung (in Dantons Tod) Folge zu leisten und die Ideen in die Handlungen hinein zu verfolgen, in denen sie sich verkörpern.

Soweit Erklärungen reichen, sieht Dietzsch im Stalinschen Herrschaftssystem zwei verhängnisvolle Komplexe am Werk, die am Ende den großen Schrecken und das große Sterben zu verantworten haben: einen ideologisch-strukturellen – die große Lüge – und einen organisatorisch-strukturellen – das große Chaos oder den geringen Organisationsgrad der russischen Gesellschaft, für den die Bolschewiki nicht verantwortlich waren, der aber ihren Plan vom Aufbau der neuen Gesellschaft von Anfang an torpedierte. Beide bedingen und ergänzen einander. Dietzsch erinnert an das ›irre Lachen‹ Lenins bei seinem letzten öffentlichen Auftritt vor dem Sowjetkongress am 19. November 1922: »Die Notwendigkeit, die für die Menschen neu anbrechende Leidenswelt des alltäglichen ökonomischen und kulturellen Scheiterns der Befreiung durch eine alltägliche Lügenwelt zu überdecken, gehört seither zur Alltagsarbeit jedes sich sozial alternativ zum Kapitalismus verstehenden Lebensversuchs, vom Kriegs- zum Eurokommunismus (von Nordkorea ganz zu schweigen).« (186) Dass dergleichen auch im Kapitalismus jederzeit möglich ist, davon müssten die failed states der jüngsten Vergangenheit Zeugnis geben. Dennoch darf man nach dem Konvergenzpunkt fragen, in dem sich die vormoderne Organisation der sowjetischen ›Massen‹ und die hypermoderne Scheinwelt der sich an den Menschen vollziehenden Ideologie treffen. Dietzsch macht den Antimodernismus Stalins, das brachiale Herunterbrechen von Gesellschaft auf Gemeinschaft, für die in Permanenz sich vollziehende Katastrophe der ›Stalin-Gesellschaft‹ verantwortlich. Wenn der nationalsozialistische Terror den Versuch enthält, den Dekalog zurückzunehmen, dann enthält der stalinistische Terror den Versuch, die Aufklärung zurückzunehmen, also jene ›ungesellige Geselligkeit‹ des interessegeleiteten Einzelnen, in der Kant die Grundlage aller Gesellschaft und insbesondere allen gesellschaftlichen Fortschritts zu erkennen glaubt (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784). Dem Modernismus Kants antwortet der radikale und radikal fehlgehende Antimodernismus derer, die es im ›stahlharten Gehäuse‹ (Weber) der Modernität nicht auszuhalten wünschen.

Ein Ideenbiograph wie Dietzsch lebt nicht aus der Abfertigung von Ideen, sondern vom Studium ihrer Wirkungen. Diese Wirkungen aber sind, aufs große Einzelne der Menschenbiographie bezogen, in der Regel paradox. Die Kunst, gelebte Paradoxien anschaulich werden zu lassen, prägt dieses Buch, sie tritt in den Kapiteln über Karl Rosenkranz in Königsberg (»Die Entdeckung des Deutschen Idealismus«) oder Karl Joël in Basel (»Nietzsche und die Romantik«) vielleicht stärker hervor als in denen über die Hauptmatadore der Geschichte. So bleibt als anrührendstes Kapitel vielleicht das über Konstantin Paustowskis vergessenes Buch 1938 über den damals gerade in Ungnade gefallenen Marschall der Sowjetunion Wassili Konstantinowitsch Blücher im Gedächtnis (»Auf den Amurklippen«). Es beginnt mit dem fulminanten Satz: »Konstantin Paustowski (1892-1968) hätte – nach Iwan Bunin und Boris Pasternak – der dritte russische Nobelpreisträger für Literatur werden sollen, das war 1965.« (190) Dass – und warum – er es nicht wurde, führt direkt in das eigentümliche Dunkel jener Jahre, in denen der revolutionäre Schein das Bewusstsein überwältigte, ohne es gänzlich auslöschen zu können. Und so endet der Auszug aus der Bewusstseinsgeschichte dessen, was sich noch immer Menschheit nennt, obwohl viele an diesem Titel Zweifel säen: »Paustowskis Buch war gerade fünf Monate in der Öffentlichkeit, da wurde sein Held, der fünfte Marschall der Sowjetunion, am 9. November 1938 in der Moskauer NKWD-Zentrale, der sogenannten Lubjanka, totgeschlagen, von den sowjetischen Schigalews oder dem ›Larven-Gelichter aus den Niederungen‹, wie Ernst Jünger jene Büttel nannte. ›Wir gingen in die Lemuren-Wälder ohne Menschenrecht und -satzung, in denen kein Ruhm zu ernten war. Und ich empfand die Nichtigkeit von Glanz und Ehre, und große Bitterkeit (…) und ich beschloß, mich nicht der Furcht anheimzugeben und nicht dem Übermut.‹« (203f.)

Ulrich Siebgeber