Denis Walter
Die Krux mit der Paideia

I.

Milutin Michael Nickl fragt in seinem Aufsatz Paideia als Superstrat Europas oder Polittheologie statt Paideia? (in: IABLIS 2012), ob Paideia als Grundlage für ein europäisches Zusammenleben dienen kann. Dabei stellt er sie einem zentralistischen Universalitätsanspruch, wie er aus der christlich-jüdischen Tradition entstanden ist (Polittheologie), entgegen. Leitend für seine Argumentation ist das Beispiel eines römischen Stadtpräfekten des 4. bis 5. nachchristlichen Jahrhunderts, Quintus Aurelius Symmachus, der durch seine Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen einen Gegenpol zum christlichen Absolutheitsanspruch bildete. Dessen Position stünde folglich sowohl für Freiheit als auch für die gebildete Ordnung des Weltreiches Rom, durch seine Bildung aber ebenfalls gegen eine chaotische ›Multikulti‹-Ideologie.

Nickls Darstellung muss jedem Bildungsliebhaber und jeder Bildungsliebhaberin zusprechen. Bei genauer Betrachtung des Textes ist es jedoch zugegebenermaßen schwierig zu verstehen, was er genau mit Paideia meint. Es ergibt sich auch kein zwingendes Motiv, Paideia als Katalysator innereuropäischer Angelegenheiten zu verstehen, sondern sie stünde in ihrer ursprünglichen Bedeutung als Erziehung/Bildung jedem Menschen grenzüberschreitend zu. Wie wird also die Konzentration der Argumente auf Europa begründet? Schließlich muss die Gegenüberstellung zwischen Paideia und monotheistischer Religion ebenfalls genauer dargestellt werden.

II.

Was bedeutet Paideia? Das Historische Wörterbuch der Philosophie zeigt uns, dass der Begriff zwar grundsätzlich den Prozess der Erziehung oder den Status, gebildet zu sein, aussagt, die klassische Auslegung jedoch vielen Interpretationsweisen unterlag. Denn nicht nur Platons philosophisches Curriculum setzte sich mit der Bildung auseinander, sondern auch die machtversprechenden Sophisten. Erst im Hellenismus festigte sich ein umfassendes Verständnis von Paideia, welches für die Zukunft wegweisend werden sollte: Die ›Ausformung der Persönlichkeit‹. Cicero übersetzte sie deshalb später mit humanitas ins Lateinische. Die Verbesserung des Charakters hin zu den Idealen, die Tugenden genannt wurden, bildete also in der Nachfolge der Tugendethiker das zentrale Moment von Paideia.

Nickl gibt uns jedoch Anlass zu glauben, Paideia sei auch in anderer Weise wegweisend geworden, indem er sie als »pluralistisch, pluri-ethnisch, pluri-kulturell, rational-enzyklopädisch […]« charakterisiert und sich damit von der charakterlichen Bildung weg bewegt, um den Akzent auf ein umfassendes Wissen zu legen. Dieser Eindruck festigt sich, wenn der bereits vorgestellte Römer Symmachus für seine Aussage gelobt wird, es gebe nicht nur einen Weg, die Wahrheit zu erreichen, sondern je nachdem, welches Wissen man sich aneigne, verschiedene Wege. Daraus schließt Nickel, dass Paideia die »Andersheit des Anderen« akzeptiere.

Tatsächlich lässt Nickl die Interpretation des zweiten Teils der Aussage von Symmachus aus und behandelt auch die Implikation seines anfänglichen Hinweises auf den Neuplatonismus nicht weiter. Denn sowohl der Römer als auch die philosophische Schule des Neuplatonismus gehen von einer höchsten Wahrheit aus. Mittel, diese Wahrheit zu erreichen, war es, die eigenen Tugenden auszuprägen und außer der ethischen Vervollkommnung auch in der Lage zu sein, ewige Dinge, wie die platonischen Ideen, zu kontemplieren. Das politische Sachwissen wurde aber von den Neuplatonikern grundsätzlich als eine Meinung über nicht-ewige Dinge angesehen und ist deshalb für sie wertlos. Man könnte vermuten, dass sich Symmachus nicht genügend mit Philosophie auseinandergesetzt hat. Die für die Beschreibung von Paideia verwendeten Adjektive lassen leider keine konsistente Definition erkennen und auch die von Nickl selbst genannte Bezeichnung »Sammeltitel« bringt uns nicht weiter, da nicht jede Art von Geistesaktivität Bildung ist, sondern Bildung immer ein Wahrheitsmoment in Bezug auf die Bildungsinhalte beanspruchen muss. Wer möchte schon Unwahrheiten Lernen? Die ›Ungleichheit‹, ›Gegensätzlichkeit‹, ›Widersprüchlichkeit‹ die Paideia ausmachen, finden ihr Ende bei der Frage um die Wahrheit, wenn sie als Wissen verstanden wird, bei der Tugendhaftigkeit, wenn sie charakterlich oder kontemplativ verstanden wird.

III.

Die Gegenüberstellung zwischen toleranter Antike und intolerantem Christentum ist nicht gänzlich überzeugend. Weder wird Bezug genommen auf Basilius des Großen Schrift Ad adolescentes, wo der Kirchenvater zugunsten der heidnischen Bildung argumentiert, noch ein Wort zu der großen antiken Bildung anderer wichtiger christlicher Autoren der Spätantike, wie Gregor von Nazianz oder Gregor von Nyssa gesagt. Dodds zeigte uns in seinem Buch Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst deutlich, dass die antiken Kulte in einer Mischung aus selbstgebrühtem Aberglauben und falschverstandenen orientalischen Esoteriken aufgelöst waren, als das Christentum Fuß zu fassen begann. Noch im 11. Jahrhundert zeigt ein Autor wie Michael Psellos, wie präsent das antike Wissen im christlichen Kontext war. Nickl verzichtet schließlich auch darauf, den Einfluss der Byzantiner auf Thomas von Aquin zu benennen, wie uns beispielsweise Michele Trizio in seinen Aufsätzen gezeigt hat, die das antike Wissen bewahrten und sowohl in den Osten, der dann ebenfalls in den Westen kam, als auch unmittelbar in den Westen verbreiteten.

IV.

Schließlich ist die Frage nach dem Nutzen von Paideia für die europäische Integration interessant, jedoch kompliziert. Kompliziert ist die Sachlage, weil Paideia sowohl als Bildung wie auch als charakterliche Verbesserung persönliche Ziele darstellt, die nichts mit Staatlichkeit zu tun haben. Jeder Mensch auf der Welt ist potenziell in der Lage, diese Ziele zu erreichen und es ist nicht überzeugend, daraus eine territorial begrenzte Einigung von Staaten abzuleiten. Wie auch? Folglich müssen weitere Elemente hinzugenommen werden, welche den Übergang zwischen der einzelnen Person und der politischen Einheit dieser begrenzten Staatenanzahl erklären: Dies sind die Gewohnheiten. Häufig sind es Gewohnheiten, die trennen und verbinden. Zu den Gewohnheiten gehören z.B. die Tradition ähnlicher staatlicher Institutionen, ähnlichen positiven Rechts, welches den Alltag strukturiert, ein Mindestmaß an Übereinstimmung bezüglich dessen, was ein gutes Leben ausmachen würde etc., ähnliche Diskussions-, Streit- und Erinnerungskulturen, auch gemeinsame Feste.

Wenn wir nun zur Paideia zurückkehren, die ihre beiden Wahrheit beanspruchenden Facetten Bildung und charakterliche Schönheit anbietet, können wir folgenden Nutzen für die europäische Integration aus ihr ziehen: Beide zielen letztlich auf einen wahrscheinlich utopischen Kosmopolitismus. Auf dem Weg dorthin liegt die Ähnlichkeit der Gewohnheiten, die uns in Europa stärker verbinden als trennen. Paideia und Gewohnheiten müssen zusammenwachsen, um einerseits in die richtige gemeinsame Richtung zu schreiten und um die europäische Vielfalt aufgrund des gemeinsamen Substrates in Einheit fördern zu können. Paideia ist deshalb das Substrat Europas.

Literatur:

Milutin Michael Nickl, Paideia als Superstrat Europas oder Polittheologie statt Paideia?→Iablis 2012