Ralf Willms
Das Motiv der Wunde im Werk von Paul Celan
und seine Relevanz für die gesellschaftlichen Wirklichkeiten

1.

Der folgende Text geht von zwei Werte-Kategorien aus: zum einen von der normativen Kategorie und zum anderen von derjenigen, die sich bei einem bestimmten Ausmaß oder Grad von Verletzung ergibt. Letztere wird zumeist dem Krankheitsbereich zugeordnet, doch werden damit häufig die Möglichkeiten verkannt, die aus dieser Existenz- und Seh-Weise erwachsen können. Ausgehend von der Dichtung Paul Celans soll gezeigt werden, dass bestimmte Typen von Verletzungen bzw. Wunden kulturell bedingt sind und nach anderen Umgangsweisen verlangen als die bisher üblichen zum anderen aber auch, dass mit solchen Wunden andere Werte entstehen, die nicht nur individuell, sondern auch kulturell von Interesse sind.

2.

Zunächst zum Aspekt der ›Verletzung durch die Kultur‹. Die Sündenbock-Theorie von René Girard und die theoretischen Ansätze um ›Opfer‹ und ›Intimität‹ von Georges Bataille erheben den Anspruch, die Mechanismen, mit denen Menschen aller Kulturen determiniert verletzt werden, aufgedeckt zu haben. Beide Theorien sollen kurz vorgestellt werden:

Der Theorie von Girard zufolge ist allen sozialen Zusammenhängen inhärent, dass im Konfliktfall nach einem ›Sündenbock‹ gesucht wird, und zwar nach einem 4-stufigen Schema (›4 Stereotypen der sozialen Gewalt‹): Das Stereotyp der Krise oder genauer der Entdifferenzierungskrise ist der Ausgangspunkt; es beinhaltet die allmähliche oder rasche Auflösung einer ehemals differenziert ausgebildeten Kultur. Auslöser ist eine ›Katastrophe‹, die bekanntlich in vielerlei Gestalt auftreten kann. Denkbar sind ebenso Natur- wie auch vom Menschen verursachte Katastrophen (wie z. B. eine Weltwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen). Dem zweiten Stereotyp nach, dem Anschuldigungsstereotyp, wird nun nach Schuldigen gesucht. Das dritte Stereotyp ist das der Opferselektion. Bei diesem Vorgang geraten häufig (vermeintlich) Schwächere oder Minoritäten ins Blickfeld. Das vierte Stereotyp ist schließlich das der Gewalt selbst. Sie wird am ›Sündenbock‹, der – zu Recht oder zu Unrecht – ›gefunden‹ wurde, häufig bis hin zur letzten Konsequenz vollzogen, und geht also nicht selten einher mit der Zugrunderichtung und Ächtung sowie ggf. mit späterer ›Sakralisierung‹ des Betreffenden. Der Vollzug dieser vier Stereotypen beinhaltet zwei hauptsächliche Effekte, zum einen, dass die jeweilige Gemeinschaft zu einer gewissen ›Einhelligkeit‹ zurückfindet, da sie sich – einhellig – vom ›Sündenbock‹ absetzt; zum anderen, dass insbesondere durch eine ›Sakralisierung‹ nach vollzogener Gewalt häufig die wahren Ursachen, die zur Krise führten, verschleiert werden. So wird das Ordnungsprinzip bestätigt, mit dem unter ›neuen Vorzeichen‹ fortgeschritten wird. Und zwar so lange, bis es erneut zur Krise kommt, und wiederum die vier Stereotypen der sozialen Gewalt vollzogen werden. Was bleibt? Auf diesem Boden gesellschaftlicher Ordnung kann es nicht zu Veränderungen kommen.

Die theoretischen Ansätze um ›Opfer‹ und ›Intimität‹ von Bataille gehen von Hegels Diktum vom ›Ende der Geschichte‹ aus, das bekanntlich die Verwirklichung des ›Knechtes‹ sowie des ›Herrn‹ (letztlich aller sozialen Schichten) postuliert und die jeweiligen Opfer auf dem Weg dorthin rechtfertigt. Dieses Schema avancierte zum geistesgeschichtlichen Modell, nach welchem die jeweiligen ›Opfer des Fortschritts‹ gebilligt oder gar als sinnvoll betrachtet werden, und wird bis heute und weiterhin – ob es den Beteiligten bewusst ist oder nicht – vielfach angewendet. Dieses Schema unterzog Bataille einer kritischen Revision, indem er auf der Ebene von Tätern und Opfern als eine von mehreren maßgeblichen Unterscheidungen zwischen ihnen einen neu zu verstehenden Begriff der Intimität einführte. ›Intimität‹ unter Tätern oder Menschen, die dazu werden, entsteht nach Bataille im mehr oder weniger kritiklos vollzogenen Zusammenschluss, der sich – z. B. auf der Ebene einer Massenveranstaltung (etwa bei einem Fußballspiel) – im ›kollektiven Einheitserleben‹ und ggf. im ›kollektiven Rausch‹ äußert und jederzeit in soziale Gewalt umschlagen kann – und umschlägt. Und zwar deswegen, weil die jeweiligen Vorstellungen lediglich auf einen Gegenpart bzw. Gegner projiziert werden und zutiefst verankert sind in der ›Herr-Knecht-Relation‹. Der ›Knecht‹ erhöht sich quasi zum ›Herrn‹ qua Zusammenschluss oder Partizipation. Dieser Vorgang ist auf subtilere Ebenen – in den Feldern Wirtschaft und Politik – übertragbar und ist die Ursache für manche grundlegende Fehlentscheidung: Entscheidungen, denen die Menschen, unter entsprechendem Druck, sich lediglich anschließen und nicht selten jeder Verantwortlichkeit entziehen. Auch der Nationalsozialismus ist vor diesem Hintergrund keine ›unerklärliche Verirrung‹ oder ›einmalige Entgleisung‹, sondern kann aus diesem Prinzip verstanden werden: Der kritiklose Zusammenschluss von Führer und Volk exemplifiziert geradezu das Prinzip und deutet auf Formen äußersten Missbrauchs.

Hiervon unterscheidet die ›Intimität des Opfers‹ sich grundlegend, und zwar dadurch, dass an die Stelle des Zusammenschlusses die Vereinzelung tritt und durch die erlebte soziale Gewalt sowohl Schmerz als auch Intimität ausgelöst werden – eine Intimität, die sich kategorial von derjenigen des Täters (oder des einschlägig Handelnden) unterscheidet.

Bei allen Unterschieden ergänzen sich die Theorien von Girard und Bataille. Sie entlarven, dass und wie es im gesellschaftlichen Prozess immer wieder zu Opfern kommt, und dass dies nicht bloß ›personales Missgeschick‹, sondern strukturell bedingt ist. So wie die Dinge stehen – das ist eine Kernaussage beider Theorien –, muss es zu Opfern kommen. Gerade zu vermeidbaren.

3.

Die Dichtung Celans ist nun aus der ›Intimität des Opfers‹ verstehbar. Die ungewöhnlichen Sprachschöpfungen, die feineren Schwingungen dieser Sprache, die Gewissenhaftigkeit sowohl im Umgang mit anderen Opfern als auch mit gesellschaftlichen Prozessen jedweder Art, verdanken sich eben nicht nur der Veranlagung oder etwa einer besonderen Erziehung oder Ausbildung, sondern jener anderen Werte-Kategorie, zu der der Wunden-Träger häufig kommt und die von ihm repräsentiert wird. Höchste gesellschaftliche Relevanz kommt dabei der (Gedanken-)Figur des Intellektuellen zu, die als ein gewichtiger Bestandteil in der Dichtung Celans auffindbar ist und in ihrer Ausprägung durchaus etwas Neues beinhaltet. Als ein maßgeblicher historischer Vorläufer kann Karl Mannheim gesehen werden, der dafür eintrat, »außerhalb der Parteischulen ein Forum zu schaffen, auf dem der Blick und das Interesse für das jeweilige Ganze bewahrt bleiben« [Ideologie und Utopie]. Mannheim vermisste eine von einschlägigen Interessen freie und damit unbestechliche, komplexe Position mit einem maßgeblichen Stellenwert innerhalb der Gesellschaft. Was das ›Ganze‹, von dem Mannheim spricht, richtungsweise sein könnte, lässt sich in einem ersten Schritt mit Friedrich Schiller erhellen, der 1795 Nachfolgendes feststellte, das eine überraschende Aktualität aufweist: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts.« [Über die ästhetische Erziehung des Menschen] Dies korrespondiert mit Mannheims Position, dem es um die Zurückstellung der ökonomischen Interessen und, wie er vielfach betonte, um ›Gesamtorientierung‹ ging. Bei der Position Celans kommt indessen etwas hinzu, und zwar die Disposition des Opfers. Sie ist, das zeigt Celan, nicht ausschließlich bedauerlich, nicht einfach nur zu überwinden, sondern hat ihren Wert. Es sollen wenigstens drei zentrale Bereiche innerhalb der ›Disposition des Opfers‹, die sowohl mit Blick auf das Werk Celans als auch losgelöst davon betrachtet wird, vorgestellt werden, um dann auf die ›Figur des Intellektuellen‹ zurückzukommen:

Zunächst zur missverständlichen und nicht selten inflationären Rede vom Trauma (altgriechisch = Wunde). Im klinischen Sinne, also im psychoanalytischen Kontext, ist ›Trauma‹, so unterschiedlich es auch definiert wird, eine ›Reizschutzdurchbrechung‹. Nicht als Subkategorien, sondern nebengeordnet finden sich Begriffe wie das ›soziale Trauma‹, das ›ökonomische Trauma‹ oder das ›ideologische Trauma‹. Im Werk Celans finden sich Texte, die explizit auf das Trauma im psychoanalytischen Kontext eingehen, es aber als ein Konzept entlarven, das den Einzelnen nur als Träger von ›Krankheit‹ identifiziert (anstatt den ganzen Kontext in den Blick zu nehmen); dies wird eben dann problematisch bzw. verliert zunehmend an Angemessenheit, wenn ganze Bevölkerungsteile betroffen sind (wie z. B. bei einer hohen Erwerbslosigkeitsrate, einer technischen Katastrophe mit menschlichem Versagen oder einer ausgreifenden Finanzkrise, die für viele zum ›ökonomischen Trauma‹ auswachsen kann). Im Werk Celans werden Prozesse dieser Art aus der Position des Opfers durchschritten, und zwar mit jüdisch-christlichen Implikationen, ohne sich dem Christentum, dem Judentum oder einer anderen Religion oder Ideologie zuzuordnen. ›Durchschritten‹ meint zunächst einmal den ›Abstieg‹ bzw. den Nachvollzug der Disposition des Opfers etwa im Sinne der ›contemplatio crucis‹.

Diese Art der Durchschreitung findet sich im Werk Celans auch bei der Thematik des ›Wahns‹. Ausgelöst von der Judenverfolgung findet eine Auseinandersetzung mit ›Wahn‹ statt, und zwar mit dem ›Wahn des Täters‹, der sich auf das Opfer überträgt; eine Auseinandersetzung, die zunehmend einen bestimmten Gegenpol erreicht und festigt: die Vernunft, angereichert um eine Ethik, zu der in dieser Weise nur jemand kommen kann, der sich den ›dunklen Seiten im Menschen‹ hinreichend gestellt hat bzw. stellen musste. Im Kontext der Intertextualität von Dichtung, die einen Zeitraum von 4000 Jahren umfasst, konnte herausgestellt werden, dass es um weit allgemeinere Zusammenhänge geht als um die – bei Celan auslösende – Judenverfolgung. Es geht um den Umgang mit Benachteiligung, mit Stigmatisierung und Integration bzw. ausbleibender Integration und ihren personalen wie gesellschaftspolitischen Folgen auf neuem Niveau.

Ein dritter Bereich, der die Disposition des Opfers kennzeichnet und etwas näher in Augenschein genommen werden soll, ist die Scham. Im Wörterbuch der Brüder Grimm findet sich etwa neben dem Eintrag »empfindung der demüthigung« die »fähigkeit, sich zu schämen«. Dies verweist darauf, dass der Scham eine Reihe von Funktionen zukommt. In den abendländischen Diskursen erscheint die Scham bereits in der Genesis (im sog. ›Sündenfall‹), das Christentum bezieht wesentlich aus seiner Auffassung zur ›Geschlechtsscham‹ seinen moralpsychologischen Standort und Kulturen und Gesellschaften aller Art regulieren sich bis heute hin aus einer Dialektik von Scham und Schamlosigkeit, wobei es vielfach um ›Hemmschwellen‹ geht, um deren Aufrechterhaltung oder Abbau. Aus der Perspektive des Individuums lassen sich wenigstens zwei Grundkategorien von Scham unterscheiden: ›Innerhalb von Schamgrenzen bleiben‹ – etwa im Sinne einer Konvention – ist das Eine, so wie es zum Beispiel zum Sittlichkeitsbegriff in der Tragödie des 18. Jahrhunderts (insbesondere der weiblichen Figuren) oder zu den religiösen Vorstellungen des Islam gehört. ›Beschämt werden‹, ausgehend von der ›Übertretung von Schamschwellen‹, ist das Andere. ›Innerhalb von Schamgrenzen bleiben‹ – zu einem großen Anteil bereits durch den jeweiligen Staat und seine Gesetzgebung erzwungen – ist vielfach positiv konnotiert, wenn auch zu Recht ein ›kritischer Apparat‹ daran haftet, ›beschämt werden‹ ist negativ konnotiert. So existiert bereits in der griechischen Antike ein etymologischer Bezug zwischen Scham und Hässlichkeit (aischyne und aischron), so wie im Deutschen der Konnex von Scham und Schande. Und in der Tat gehört das Beschämtwerden zum Problematischsten.

Um den Zustand des Beschämtwerdens näher zu bestimmen, kann – ausgehend von der Gegenüberstellung von Scham und Zorn – die Unterscheidung zwischen zentrifugal und zentripetal hinzugezogen werden [Hermann Schmitz, System der Philosophie III]. Die zentrifugale Dynamik des Zorns beinhaltet einen »Richtungsraum«, der aggressiv nach außen drängt. Während die zentripetale Struktur der Scham durch Kreisförmigkeit gekennzeichnet ist, zu der »extreme Zusammenziehung«, »Schrumpfen« und »Versinken« gehört. Schmitz spricht des Weiteren von einer »Atmosphäre der Scham«, die »von allen Seiten konzentrisch angreift, wie es die ringsum zeigend auf den Beschämten sich richtenden Finger« verbildlichen und davon, dass dem »von der Scham eingekreisten und durchbohrten Menschen eigentlich kein Fluchtweg« bleibt. Zu den körperlich-psychischen Schamreaktionen im engeren Sinne gehören das ›Senken des Blicks‹, ›Veränderungen der Stimme in Lautstärke und Tonqualität‹, ›Veränderungen der Mimik, Lachen, Selbstberührungen‹ (so die ›reflektorischen Gesten‹ wie das Führen der Hand ans Kinn) [Günter Seidler: Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham]. In der Forschung wird überdies unterschieden zwischen ›schamerregender‹ und ›schamempfindender Instanz‹, eine Unterscheidung, die sowohl das Oppositionspaar ›Zorn/Scham‹ als auch die ›Täter/Opfer-Relation‹ enthält.

Damit ist die Thematik ›Scham und Gewalt‹ angesprochen. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi schreibt: »Die Gerechten unter uns […] haben Gewissensqualen und Scham, kurz gesagt: Leiden für eine Schuld ertragen, die nicht sie, sondern andere verursacht hatten [Die Untergegangenen und die Geretteten]. Die etwas überkommen anmutende Formulierung ›Die Gerechten‹ verweist indessen auf ein Verhältnis zwischen der erwähnten ›Fähigkeit zur Scham‹ und ›Selbstreflexivität‹. Scham wird erlitten und ist mit Erkenntnissen verbunden. So schreibt Primo Levi weiter: »Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns […] immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Mißhandlung sein oder sie selbst erdulden mußten, jene Scham, die die Deutschen nicht kannten.« ›Scham‹ erscheint hier zusammen mit ›Zeugenschaft‹ und nicht zuletzt eine Auseinandersetzung damit ergibt bei Levi den Terminus des ›Gerechten‹. Umgekehrt ist die ›Schamlosigkeit der Deutschen‹, ausgehend von Levi, bzw. Schamlosigkeit generell kaum oder mit keinerlei Erkenntnissen verbunden – bzw. interaktiv-gesellschaftlich erst dann, wenn die Handlungsgewalt eingestellt wird. Das Verhältnis von ›Scham und Selbstreflexivität‹ wird von der Forschung reich belegt. So spricht Seidler im Kontext kindlicher Schamreaktionen etwa von der »Fähigkeit der Selbstobjektivierung« und von der »Herausbildung des psychischen Selbst«. Auf der Ebene des Opfers, die Levi anspricht, dürften die Erkenntnisse durch die Bearbeitung der Scham-Ausbrüche, ausgehend von den zugrunde liegenden Ereignissen, erfolgen. Claudia Benthien bezeichnet Scham als »eine prozessuale und im Wortsinn ›bildende‹ Form der Selbsterkenntnis« [Tribunal der Blicke].

Kann es also letztlich zu einer Aufwertung von Scham kommen – gerade derjenigen, die besonders bedrückend ist, da sie durch Formen von Gewalt verursacht wurde? Ein erster Schritt wäre sicher, dass der Beschämte selbst die ›Umwertung‹ vornimmt. Diese kann stattfinden, indem die Merkmale der Scham weitergehend herausgestellt und verstanden werden. So etwa – um dies noch zu nennen –, dass Scham genau das realisiert, was ›verhindert‹ werden soll. Folglich wäre ›Verhinderung‹ zu überdenken. Scham gilt als das Misslingen des Ausdrucks und bereits der Wahrnehmung, doch was für ein Begriff des ›Gelingens‹ liegt zugrunde? Schließlich wird Schamempfinden in der Forschung in der Diskrepanz zwischen Selbstbild und Idealbild verstanden, ein Idealbild, das vielfach mit internalisierten Normen und ›interaktiven Toleranzgrenzen‹ korrespondiert. ›Scham‹ im angeführten Sinne überschreitet diese Toleranzgrenzen. Folglich kommt es häufig zu mehr oder weniger automatisiertem Achtungsverlust. Scham wird so zu einer Kehrseite von Anerkennung [Léon Wurmser: Die Maske der Scham]. An dieser Schnittstelle wäre einmal mehr das öffentliche Bewusstsein gefragt. Denn auch in Bezug auf die Scham greift der Sündenbock-Mechanismus. Erste Schritte könnten sein, Thesen in Umlauf zu bringen wie: Scham ist ›identitätsbildend‹ oder ›Scham stellt Werte in Frage‹, und solche Thesen entsprechend zu fundieren. Auch für die Forschung scheint der Weg noch lang zu sein, wenn von einer These wie ›Scham und Kompetenzmangel‹ ausgegangen wird und der Fokus – ausgehend von der Norm – nur auf den Mängeln liegt. Dass gerade im Zustand der Überwältigung durch Scham Kompetenzen erworben werden, zeigen nicht nur die Bücher von Primo Levi. Es können antike Vorbilder hinzugezogen werden – denkt man etwa an König Ödipus, der über öffentliches Beschämtwerden zu seiner eigentlichen Größe gelangt. Bei Celan verhält es sich prinzipiell ebenso; das Werk gelangt über die Auseinandersetzung mit seinen widrigen Gegenständen zu einer durchaus neuartigen Qualität und Größe. Doch bis heute hin wird Scham, wie so vieles, das wenigstens punktuell angeführt wurde, in der Regel als ›persönlicher Fehltritt‹ sanktioniert. Einmal mehr gilt: Anstelle eines ›Tribunals der Blicke‹ könnte der ›liebevolle Blick‹ stehen, der mit Fundierung einhergeht. Der ›liebvolle Blick‹ mit seinen Grundlagen und Desideraten ist im Übrigen eine Kategorie, die erforscht wird – ausgehend von der ›Theorie des Blicks‹, wie sie etwa Sartre entwickelte.

Allen genannten Bereichen – Trauma, Wahn und Scham – ist gemeinsam, dass aufrührend destruktive wie konstruktive Prozesse mit ihnen verbunden sind; die konstruktiven beinhalten, wie erwähnt, reflexive Prozesse, die die Situation umfassend analysieren mit dem Ergebnis, dass andere Werte als jene, die nicht standhalten konnten (die etwa der Täter-Position inhärent sind), hervorgebracht werden, und zwar mit entsprechender Fundiertheit und Entschiedenheit. Trauma, Wahn und Scham gehören zu jenen Bereichen, die der Betroffene ›nicht einfach wieder loswerden kann‹ – und möglicherweise liegt bereits darin ein sinnhaftes Element, ohne die auslösenden Ereignisse damit zu rechtfertigen. Die Auswertungen dieser Bereiche können unter anderem auf der Ebene des ›Warnsystems‹ verstanden werden, das sich weder von selbst versteht – also eines kontinuierlichen Lernprozesses bedarf – noch auf die einzelne Person begrenzt ist. Bevor darauf weiter eingegangen wird, soll auf die ›Figur des Intellektuellen‹ zurückgekommen werden bzw. darauf, welche Funktion und Bedeutung die ›Disposition des Opfers‹ für die intellektuelle Disposition in Celanscher Ausprägung hat.

Mit Karl Mannheim teilt Celan den von einschlägigen (bloß ökonomischen) Interessen unabhängigen Standort, der die ›Aufrechterhaltung von Komplexität‹, die ›Sorge um die Gesamtorientierung‹ und das ›Nichtaufgehen in absolute Entwürfe‹ beinhaltet. Hinzu kommt, dass der ›Intellektuelle‹ im Werk Celans ein besonderes Verhältnis zur historisch-biografischen Wunde hat. Dies drückt sich etwa darin aus, dass Opfer oder Benachteilige nicht geradewegs mit dem ›Telos einer besseren Welt‹ konfrontiert werden, sondern vielmehr Raum für die nötige Durchschreitung geschaffen wird mit allen Irritationen, die ausgelöst werden, und nicht bloß eine Delegation an psychologische Instanzen erfolgt, die politisch ebenso einflusslos wie von der Öffentlichkeit weitgehend isoliert sind. Der Opfer-Zustand, die notwendig sich verändernde Identität, wird prinzipiell in die gesellschaftlichen Prozesse einbezogen und nicht ausgeklammert. So induziert die Dichtung Celans, dem Opfer eine wenigstens gleichberechtigte Stimme zu geben, und zwar mit gesellschaftspolitischen Implikationen, wenn man so will: mit einem Mandat, mit welchem die gesamte politische Situation in Frage steht oder wenigstens der Möglichkeit einer tatsächlichen Revision untersteht. Hinzu kommt, dass die Opferdisposition im Werk Celans über Kenntnisse, über eine Art der Bildung verfügt, die fächerübergreifend ist (so werden kulturwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Bereiche gleichermaßen berücksichtigt), in dem Bemühen, einen Weg gangbar zu machen (bzw. diesen überhaupt zu erkennen), der zuerst und zuletzt ›dem Menschen‹ gut tut. Eine Bildung, die sich nicht einfach aneignen lässt, sondern von der Thematik sozusagen eingefordert wird. Eine solche umfassende Disposition und Authentizität stellt einen fundamentalen Unterschied dar zur heutigen Ausprägung des ›Medien-Intellektuellen‹, der immer auch in Unterhaltungsprogramme eingebunden ist und politisch in dem Sinne keine Funktion erhält. Der – sofern er überhaupt zu üblichen Sendezeiten berücksichtigt wird – immer auch den ›Clown‹ zu geben hat.

4.

Die politische Situation diesseits wie jenseits der Landesgrenzen sah und sieht also bekanntlich bei Weitem anders aus als das, was die Dichtung Celans für die Wirklichkeit postuliert. Wohl allen gesellschaftspolitischen Situationen ist gemeinsam, dass wesentliche Aspekte, die anklangen, in den täglichen Prozessen vielfach verdrängt werden, sofern sie überhaupt gesehen werden, bzw. strukturell schlicht keine Rolle erhalten. Was aber geschieht? Es wird weiterhin personalisiert, das heißt, wenn etwas schief geht, wird nach Schuldigen gesucht, denen der jeweilige Komplex zugeschrieben wird. Und zwar im Sinne Girards: Es findet – ob es der jeweiligen Öffentlichkeit bewusst ist oder nicht – ein weitreichender Zusammenschluss gegen den ›Sündenbock‹ statt. Der Vorfall wird schließlich vergessen, der Betroffene ggf. ›sakralisiert‹ – da er es doch war, der die Schuld auf sich nehmen musste und für die ›Einhelligkeit‹ der andern verantwortlich ist (womit vorgeblich eine gewisse Normalität wieder hergestellt werden konnte) – , strukturelle Ursachen oder der ganze Kontext geraten erst gar nicht in den Blick und beim nächsten ›Vergehen‹ wird dieses Schema bloß wiederholt, ohne jede Erkenntnis des Vergangenen. So wird es immer Menschen geben, die sich bereichern.

Zu den Gründen, dass dies so ist, gehört, dass in der Öffentlichkeit durchaus die falschen Fragen gestellt werden. Möglicherweise ist es weit weniger aufschlussreich zu fragen, wer sich in welchem Ausmaß bereicherte (über einen längeren Zeitraum betrachtet erscheinen die Personen ohnehin wie austauschbar), als eine Frage zu stellen, die die ›Wurzel‹ in Augenschein nimmt: Welcher Art sind die Strukturen, dass jemand sich in dieser Weise bereichern und bedienen kann? Wie ist dies möglich, wie wird das gemacht?

Aufschlussreich bzw. komplementär ist auch das Verhalten desjenigen, der in seiner Bereicherung entlarvt wird, und auch dieses erscheint – über längere Zeiträume betrachtet – ›austauschbar‹. Es lässt sich fast durchweg reduzieren auf das Phänomen der ›Leugnung‹. Erst wenn Beweise erbracht wurden, erfolgen Schweigen und ggf. Anklänge eines Eingeständnisses. Prinzipiell sind hier keine Unterschiede auszumachen zwischen den sozialen Schichten, so etwa zwischen einem Hilfsarbeiter und einem Minister. Und zwar deswegen, weil es hier wie da keine gesellschaftliche Praxis gibt, die ›Wunde‹ zu zeigen. Im Gegenteil bleiben Menschen weiterhin etwa für ganze Berufsfelder unberücksichtigt, wenn nur verhältnismäßig geringfügige ›Blessuren‹ identifiziert werden. Das wiederum bedeutet, dass häufig eine bloße ›Gewinner-Verlierer-Struktur‹ protegiert wird. Das ›Spiel‹ besteht eben darin, vermeintlich Negatives an Sündenböcke zu delegieren und dabei selbst ›frei zu gehen‹. Und dann gibt es das vielfach unausgesprochene Tabu, dass ›das Spiel an sich nicht analysiert werden darf‹. Dies greift auch auf sog. Freizeitbeschäftigungen über und geht einher mit Batailles ›utilitaristischer Interpretation des Festes‹. Das ›Existenzielle‹ wird bei einem Fest ausgeschlossen, es fordert in der Regel ›diverse Lustbarkeiten‹ und den (Alkohol-) Rausch. Dies alles, dieses Konglomerat, mag wesentlich die Gründe dafür liefern, dass selbst bei Ministern mit Doktorwürden im Falle ›sozialer Dissonanz‹ (also bei der Aufdeckung eines begangenen Deliktes) nicht selten ein Profil zum Vorschein kommt, das diese Bezeichnung kaum verdient (weil eine ›Praxis des Leugnens‹ besteht, die weit über die jeweilige Persönlichkeit hinausreicht).

Sicherlich trägt das Angeführte Züge der Vereinfachung, um das Prinzip entsprechend zu verdeutlichen. Was also könnte sich ändern, wenn das Opfer eine ›gesellschaftliche Stimme‹ erhielte bzw. wenn die ›Wunde‹ in dieser Weise gezeigt würde?

Sicherlich fänden sich gleich Stimmen, und das nicht zu Unrecht, die anmerkten: Wie lassen sich Opfer von ›Pseudo-Opfern‹ unterscheiden, und geht nicht das ›Spiel der Täuschungen‹ dann auf dieser Ebene weiter? Das hat es doch auch schon gegeben! Oder: Soll etwa eine Welt eingerichtet werden, die ›in Düsternis versinkt‹? Solche Fragen sind überdies seit vielen Jahren bekannt.

Auf beide Fragenkomplexe lassen sich Antworten geben: Es ginge darum, sich auf neuer Stufe zu sensibilisieren für das, was Echtheit, Aufrichtigkeit, Wahrheit (im erweiterten Sinne) sein könnten bzw. sind. Und dies in einem Prozess, der langfristig anberaumt werden muss, und auf breiterer Ebene nicht stattfinden kann, wenn es keine wirtschaftspolitische bzw. tägliche Praxis dafür gibt. Hier reichen schlichte Belohnungssysteme nicht aus. Und auch bloße Aufklärung geht, wie sich vielfach erwies, weitgehend ins Leere, bewirkt manches Mal eher das Gegenteil. Es ginge wesentlich um die Veränderung des ›Klimas‹. Und dies kann sich nicht verändern, wenn Erfolg zuerst und zuletzt an der Summe bemessen wird, die am Ende des Monats auf dem jeweiligen Konto steht. Wenn darüber hinaus keinerlei Ethik verbindlich ist, da sie in die Bereiche Religion und Philosophie delegiert wurde, die so ein entsprechendes Ansehen haben: vielfach also keines. Jedenfalls nicht bei Menschen, die, um nur ein Beispiel zu nennen, als Unternehmer ihren Betrieb so organisieren, dass Angestellte im Außendienst weiterhin 6000 Kilometer in der Woche mit dem Auto fahren müssen, während zugleich der Umweltschutz (weiterhin) verhöhnt wird oder etwa die Aufrechterhaltung eines Stadtarchivs mit öffentlichen Geldern als völlig sinnlos eingestuft wird. Es stellt sich die Frage, in welcher Weise die Politik eines Landes von solchen Vorkommnissen überhaupt Kenntnis hat oder gar vom selben Schlage ist? Das Beispiel repräsentiert indessen dominante gesellschaftliche Strömungen, die lediglich zeitgemäß transformiert aus der Nachkriegszeit hervorgingen. Und es handelt sich bei ihnen um mehr oder weniger kulturlose, hermetische Systeme, die so etwas wie Offenheit aus einschlägigen Gründen lediglich simulieren, und in denen (nicht nur) im Zweifelsfall kaum etwas anderes als personale und strukturelle Gewalt zum Vorschein kommen. Sie muten nur deswegen unveränderlich an, weil ihnen die gesellschaftlichen Hauptprinzipien gut zuspielen. Solche Leute sind es dann – kollektiv vielfach gestützt und verstärkt –, die sich über Erwerbslose und Ausländer aufregen dürfen, vielmehr über all jene, die am Ende des Monats nicht auf die ›entsprechende Summe‹ kommen. Es überrascht also nicht, wenn in einer Rede im Bundestag festgestellt wird, dass es in Deutschland verschiedenen (statistisch unterlegten) Schätzungen zufolge in der Bevölkerung wieder einen Anteil von 20 Prozent gebe, der zumindest latent antisemitisch gestimmt sei.

Auf den zweiten Fragenkomplex ließe sich antworten, dass es vor allem aus dem fehlenden Kontakt mit Opfern herrührt, anzunehmen, dass dort nur ein ›düsteres Weltbild‹ zu erwarten sei. Zunächst auf theoretischer Ebene wurde von Bataille eindrücklich gezeigt, dass die ausgelöste ›Intimität des Opfers‹ zugleich die ›Fruchtbarkeit‹ der jeweiligen Person lockert und mit in den ausgelösten energetischen Strudel reißt. Vielfach bekannt ist, dass nahezu alle Künstler bzw. zur ›Bedeutsamkeit‹ gereifte Menschen, die allerdings weder auf einen Bereich wie ›Kunst‹ noch auf einen anderen einzuengen sind, eine Wunde in sich tragen, die im Verborgenen liegt und ein großes oder ein bestimmtes Thema bzw. eine herausragende Lebensleistung hervorbringen kann. Müssen also die Menschen zu Opfern gemacht werden, um zu reifen? Nein. Es handelt sich, so Bataille, wenn ein Mensch zum Opfer wird, um einen »irreversiblen historisch-biografischen Moment«, der zunächst einmal nicht begrüßt werden kann. Dennoch ereignen sich solche Momente immer wieder und sind, so Girard, »kaum aus der Welt zu schaffen«. Jeder Gründung einer Kultur liegt eine Wunde – nämlich die untergegangene, vorausliegende Kultur – zugrunde, die sich dann im ›Sündenbock-Mechanismus‹ weiterhin vielfach manifestiert. So sind in das allgemeine Bewusstsein Formeln wie ›In der Krise liegt die Chance‹ eingegangen, wenn auch bereits die Sprache anzeigt, dass hier kaum begriffene Phänomene verhandelt werden. Die Erfahrung von Schmerz und Entbehrung scheint indessen eine anthropologische Konstante für Entwicklung zu sein, die von der sogenannten Spaßgesellschaft, oder wie man weitere Transformationen auch nennen mag, auf neuer Stufe ausgeblendet wurde und wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus ein sinnhaftes Element darin sehen, dass bei verschiedenen indianischen Kulturen Jugendliche über Monate in ein Erdloch gesperrt wurden, um den Umgang mit Schmerz, Entbehrung, ›existenzieller Orientierung‹ und Wertschätzung gegenüber allen Erscheinungen einzuüben. Und möglicherweise ist das, was dort erlernt wurde, nicht weit entfernt von jener humilitas im Sinne Bernhard von Clairvaux' – jene Art der Demut, die mit heutigen Konnotationen im Sinne von gebrochenem Selbstvertrauen und beschädigter Selbstachtung nichts gemein hat, sondern den ›Abstieg des Menschen‹ mit einhergehender ›Selbsterkenntnis‹ meint, um zu neuer Betrachtung und Wertschätzung zu gelangen.

Allein die Vorstellung, dass es dominante Strömungen innerhalb einer Gesellschaft geben könnte, die eine solche Art bzw. ihre Art der Authentizität in den täglichen Prozessen vollzieht, könnte einem Massenphänomen wie der ›Entsolidarisierung‹, das seit vielen Jahren ebenso schleichend wie offen anzutreffen ist, entgegenwirken. Eine ›Entsolidarisierung‹, die wohl dann zu Recht besteht, wenn zur ›Lernpsychologie‹ oder zum ›Lernvorbild‹ einer Gesellschaft eine ›Kultur der Täuschung‹ und eine ›Kultur der Ausnutzung‹ oder des bloß zahlenmäßigen Umgangs gehören, die buchstäblich und gerade jedes Kind durchschaut oder wenigstens spürt.

Die Zurückstellung der ökonomischen Interessen im Verein mit häufig vollständig ausbleibenden ethischen Gehalten ist – um Missverständnissen vorzubeugen – nicht gleich Marxismus, der in perfider Auslegung bzw. Verdrehung in den Ostblockländern zu weiteren Belegen menschlichen Bankrotts führte; eine inzwischen weitgehend historische Erfahrung, wenn man etwa auf die DDR blickt, aus der entsprechende Schlüsse zu ziehen sind. Das Angeführte sollte auch nicht mit einem Wort wie Utopie oder Vision belegt werden, weil diese Wörter in ihrem Gebrauch auch illusorische Konnotationen hervorrufen und implizit verschleiern, dass die Realien jeder Gesellschaft weitgehend gesetzt sind. Ein Wort wie Entwurf erscheint tauglich, so wie jede Gesellschaft auf theoretischer, also vorausliegender, struktureller Ebene ein solcher Entwurf ist. Und Entwürfe enthalten Axiome bzw. Setzungen, die veränderlich sind und im Rahmen gesellschaftlicher Praktiken auch veränderlich wirken.

5.

Welche Veränderungen wären also wünschenswert, würden tatsächlich einen kategorialen Unterschied ausmachen, und was ließe sich mit ihnen erreichen?

Diese Fragen können in aller Kürze noch einmal richtungsweise beantwortet werden anhand des Umweltschutzes, etwa am Extremfall der globalen Klimaveränderung. Es existieren zwar durchaus vernünftige Meinungen, aber es existiert kein unabhängiges Forum – im Sinne Karl Mannheims –, das bislang entscheidenden Einfluss genommen hätte. So wurde und wird die weiter anwachsende Erderwärmung von einer ›Diktatur des Geldes‹ oder einer ›Ökonomie ohne Ethik‹ (um eine abgenutzte Wendung wie wirtschaftliche Interessen, die nicht mehr gehört wird, zu vermeiden) nicht verhindert, sondern im Gegenteil ermöglicht. Ein solches Thema verlangt nach absoluter Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit über einen langen Zeitraum, die offenbar nur von Menschen geleistet werden kann, die über die nötige Reife verfügen, langfristig-strukturell denken und denen ein von Wirtschaftsinteressen unabhängiger Handlungsspielraum eingeräumt wird. Menschen, die über wundhafte Erfahrungen zu einer entsprechenden Auswertung gekommen und nicht mehr bereit sind, eine bestimmte Qualität ›unsauberen wirtschaftlichen Spielchen‹ zu opfern. Dass und in welcher Weise solche vorhanden sind, zeigt folgendes Beispiel ›auf höchster Ebene‹: Zum 25-jährigen Bestehen von Greenpeace wurden in der Öffentlichkeit bekannte Musiker angeschrieben und gebeten, ein Lied eigens für diesen Anlass zu schreiben und in einer Fernsehsendung vorzutragen. Diese Fernsehsendung wurde von der seinerzeit amtierenden Bundesregierung kurzfristig abgesagt mit der Begründung, dass man es nicht einsehe, einen »Werbespot für die Grünen« auszustrahlen [Achim Reichel bei einem Konzert in der Stadthalle in Rheine am 11. November 2011]. Generell lässt sich sagen: Was es bisher gab – ob es den Klimaschutz oder anderes betrifft –, ist vielfach die Einreißung und Unterhöhlung von Vereinbarungen jedweder Art. Was offenbar zur ›Gesundheit‹ des Menschen gehört; eine ›Gesundheit‹, die manchem bisweilen das Leben kostet oder erhebliche Nachteile einbringt, eine ›Gesundheit‹, die keine ist, folgt man den überaus plausiblen Erklärungsansätzen von Girard und Bataille. Dabei kann vielfach gesehen werden, wie unglücklich eine ›Kultur der Verdrängung‹ doch operiert, etwa dann, wenn Scham, Formen von Traumen oder überhaupt soziale Dissonanz implizit oder explizit nur das Stigma des Negativen erhalten und möglichst alle Vorkommnisse dieser Art aus den Berufsfeldern und dem Alltag gedrängt werden oder nach ›bloßer Überwindung‹ trachten sollen, mit welcher es global ›nichts zu lernen‹ gilt. Dass gesellschaftliche Prozesse veränderbar sind – insbesondere durch strukturelle Setzungen, anhand derer bislang ungewohnte Praktiken in den sozialen Prozessen und Berufsfeldern eingeübt werden können –, kann abschließend mit einem Wort Paul Celans bekräftigt werden, das weit über das Phänomen Dichtung hinausreicht, vielmehr lediglich im Bereich der Dichtung gesagt wird:

»Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nicht, ›poetisiert‹ nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen. Freilich ist hier niemals die Sprache selbst, die Sprache schlechthin am Werk, sondern immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich, dem es um Kontur und Orientierung geht. Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.« [Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker]

Dieser ›besondere Neigungswinkel‹ – um auch hier Missverständnissen, die wiederum nur auf Personalisierung hinauslaufen, entgegenzutreten – ist letztlich nichts anderes als die Historizität selbst; der jeweilige Standort und die jeweilige Zeitstelle, an der Menschen unvermeidlich stehen.