Erkenntnistheoretische Einsichten und methodisches Vorgehen –
Clausewitz und Kondylis

Die kognitiven Voraussetzungen der theoretischen Tätigkeit

Die Analyse der Kriegstheorie von Clausewitz wird durch die Erläuterung des Begriffs vom Kriege »in anthropologischer und kulturphilosophischer Sicht« verallgemeinernd eingeleitet. (Theorie des Krieges (TdK) S.11) Das Voranstellen des ›philosophischen‹ oder ›reinen‹ Kriegsbegriffs hat nicht nur mit möglichen Erklärungsvorzügen einer logischen vor einer genetischen Darstellung der begrifflichen Inhalte zu tun. Es ist Ausdruck einer Überzeugung, die Aufbau und Struktur jedes wissenschaftlichen Versuchs bestimmt, nämlich die Überzeugung, jede Behandlung eines sozialen Phänomens, hier das des Krieges, setze ein bewusstes oder unbewusstes Welt- und Menschenbild voraus, außerdem bewusste oder unbewusste Annahmen über die Beschaffenheit der geschichtlich-sozialen Wirklichkeit als Ganzer. Diese jenseits der Rationalität liegende Überzeugung von der (sinnlich nicht wahrnehmbaren) Struktur der sozialen Wirklichkeit bestimmt von Anfang an die Richtung jeder theoretischen Bemühung, und sie beeinflusst entsprechend ihre substantiellen Resultate. Dabei sind für den Theoretiker die Umrisse des sozialen Ganzen auf der anthropologischen und kulturphilosophischen oder, wie Kondylis sagt, auf der sozialontologischen Ebene präsent. Es ist die Ebene der anthropologisch-sozialontologischen Konstanten, die die notwendigen Bedingungen jedes menschlichen Verhaltens und jedes sozialen Phänomens beschreiben. Diese Umrisse des sozialen Ganzen liefern den ideellen Entfaltungsrahmen des theoretischen Bemühens, das sich dann in der Forschungspraxis in engem Kontakt mit dem Gegenstand der Untersuchung und in den theoretischen Auseinandersetzungen zunehmend konkretisiert und verfeinert. Dabei wird der Blick auf die einzelnen Phänomene – bewusst oder unbewusst – im Hinblick auf die Notwendigkeiten einer aus den Beobachtungen abzuleitenden Theorie gelenkt; »die Induktion wird zu einer verkleideten Deduktion.« (Kondylis, Machtfragen (Mf) S.143 )

Der allgemeine Denkrahmen, also die Aussage über die Natur des Untersuchungsgegenstandes (hier des Krieges) ermöglicht und bestimmt zugleich den Einsatz der jeweils zweckdienlichen methodischen Mittel. Diese sind die logische Konsequenz aus dem angenommenen Wirklichkeitsbild und seiner Struktur. Die Erkenntnis der methodischen Bedingtheit aufgrund der angenommenen Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit ist innerhalb der modernen zeitgenössischen Methodologie und Wissenschaftstheorie außergewöhnlich, sogar beispiellos. Sie bietet auch eine Erklärung für das besondere Interesse von Kondylis an der Theorie von Clausewitz. Das methodische Vorgehen des Generals und seine methodologischen Einsichten in ihrer Einfachheit, ihrem common sense, erlauben es, so erkennt Kondylis, sich in engem Kontakt mit einem bestimmten und umfangreichen Gegenstand der sozialen Wirklichkeit (in diesem Fall des Krieges) zu entfalten, was Überwucherung und Leerlauf verhindert, wie er aus modernen methodologischen Debatten bekannt ist. Als Methodologe hat sich Clausewitz nicht auf die Resultate der klassischen deutschen Philosophie bezogen, »sondern er schuf seine Methode selbständig bei seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit den Fragen der geschichtlich-politischen Welt und verstand sie als das geeignete Instrument zur Erfassung dieser und nur dieser Welt.« (TdK S.99) Dieser Satz, der auf den ersten Blick Clausewitz gilt, ist zugleich auch eine Beschreibung des Vorgehens von Kondylis. Mit diesem Satz beschreibt er nicht nur das Vorgehen von Clausewitz, sondern auch sein eigenes. Die damit angesprochene Ansicht über die selbständige Denkbemühung bzw. die methodische Bedingtheit aufgrund der Natur des Gegenstandes bezeichnet den wesentlichen Unterschied zwischen der theoretischen Arbeitsweise von Kondylis und jedem rein philosophischen, also ontologischen oder erkenntnistheoretischen Ansatz. Der von ihm angenommene Charakter (Hypothese) der sozialen Wirklichkeit oder, wie er es formuliert, des sozialen Seins in seiner Komplexität, mit der Vielzahl der in jeder einzelnen sozialen Erscheinung jeweils anders wirkenden Faktoren oder Kräfte in ihrer diachronischen Stabilität und gleichzeitigen, aber nicht gleichmäßigen Wirkung machen die Anwendung der einen universalen Methode oder die Aufstellung eines rigiden für alle Fälle gültigen Hierarchisierungsschemas dieser Kräfte und Faktoren unmöglich. – Dabei bietet sich ein Blick auf die ›Pattern Variables‹ von Parsons an oder ein Blick auf die verschiedenen Versuche der Einordnung der Rationalitätstypen in ein ab- bzw. aufsteigendes Stufenschema, dessen oberes Ende von der wissenschaftlichen Rationalität besetzt wird. In jedem Augenblick der Geschichte ist die gesamte Palette bzw. das Spektrum der sozial wirkenden Faktoren wenigstens summativ vertreten. Die ubiquitäre Anwesenheit aller Kräfte und Faktoren in Verbindung mit ihrer gleichzeitigen aber asymmetrischen Wirkung bedeutet, dass jede oder jeder von ihnen jederzeit in den Vordergrund rücken kann, so dass sich die maßgeblichen Phänomene und Kausalitäten fortwährend abwechseln, »und bald gibt ein historisches Ereignis, bald eine soziologische Struktur, einmal eine psychologische Gegebenheit, ein anderes Mal eine Institution oder eine Rolle den Ausschlag.« (Kondylis, Sozialontologie (SO) S.189) Aussichtsreicher würde der Versuch zur Aufstellung von solchen historisch gesättigten Typologien erscheinen, die soziologisch paradigmatische Fälle umfassen würden. Es ergäbe sich daraus keine Hierarchie, die aufgrund dieses oder jenes ›Primats‹ errichtet würde, sondern ein zur allgemeinen Orientierung dienendes Inventar. Daraus erklärt sich die Weigerung von Kondylis, für historisch-soziale Untersuchungen allgemeine Modelle zu verwenden. Ein allgemeines soziologisches Modell hat die folgende logische Form: »Kriege (Revolutionen, Industrialisierungs-, Institutionalisierungsprozesse etc. etc.) erfolgen dann und nur dann, wenn die Konstellation oder Hierarchie der Ursache X unter den Umständen Y zur Wirkung kommt.« (SO S.131) Solche Modelle, führt er aus, seien oft vorgeschlagen worden, sie erwiesen sich aber allesamt als bald anregende, bald nichtssagende Gedankenspiele, denn keines hat die Gesamtheit der relevanten Fälle erklären können. Die Unzulänglichkeit des Modells in einem einzelnen Fall würde an sich ausreichen, das Modelldenken aufzugeben und zur vergleichenden Analyse von Prozessen und Phänomenen zurückzukehren. (vgl. das Kapitel »Soziologie und Geschichte« in SO S.123)

Diese theoretische Grundhaltung entspringt einer strikt historisch relativistischen Einstellung, die paradoxerweise der theoretischen Arbeit feste Orientierungspunkte in einer Welt der ständigen Veränderung geben kann, Orientierung in den historisch wandelbaren Kristallisierungen und dem sich ständig transformierenden und permutierenden Geflecht der Kausalitäten des Spektrums der sozialontischen Kräfte und Faktoren – sei es in Gestalt prozesshafter (›westlicher Rationalisierungsvorgang‹) oder mehr oder weniger stabiler institutioneller Gebilde. Wie aber sind die kognitiven Voraussetzungen des Handelns, auch des theoretischen, innerhalb einer menschlichen Realität aufzufassen? Einer ständig fließenden Realität, die nur Wahrscheinlichkeiten kennt und keine fest umrissenen Gebiete der Dinge und der Lagen bestehen lässt, aus denen sich irgendwelche Gesetze und darauf beruhende Handlungsnormen ableiten ließen? Die Struktur der Wirklichkeit, wie sie aus der Sicht des historischen Relativismus erscheint, erlaubt keine erfolgreiche Tätigkeit eines über den konkreten Fall hinaus generalisierenden Intellekts, der sein Kalkül auf feste Größen überall geltender Anwendbarkeit aufbaut. Eine solche Wirklichkeit erfordert als kognitive Voraussetzung des Handelns »einen ›bloßen Takt des Urteils der mehr oder weniger gut trifft, je nachdem mehr oder weniger Genie‹ im Feldherren ist und ›der, aus natürlichem Scharfsinn hervorgehend und durch Nachdenken gebildet, das Rechte fast bewusstlos trifft‹«. ( TdK S.72f zitiert Clausewitz) Was für den Feldherrn gilt, muss in gleicher Weise für den Wissenschaftler und den Handelnden allgemein gelten. (Über die Auffassung des Handelns im allgemeinen und des wissenschaftlichen Handelns im besonderen als Kunst: s. TdK S.68ff und das Kapitel »›Rational choice‹ und Takt des Urteils« in SO S.604)

Die zwei Etappen der Theorieentwicklung

Der Titel des zweiten Kapitels von Theorie des Krieges nennt mit »›Reiner‹ und ›wirklicher‹ Krieg in anthropologischer und kulturphilosophischer Sicht« die zwei Etappen der Erfassung und Erklärung des Krieges. Die erste Etappe zielt auf die Erfassung des Kriegsgeschehens im engeren kriegstheoretischen Sinn. Aus der angenommenen Beschaffenheit der Wirklichkeit des Krieges ergibt sich die ihr angemessene methodische Behandlung.

Der Untersuchungsgegenstand ›Krieg‹ ist ein veränderliches, vielschichtiges und vielfältiges Phänomen. In dieser ›Materie‹ wirkt eine Vielzahl von Kräften und moralischen Größen, deren Plastizität und Schwankungsbreite den Ausgang des Geschehens unsicher und unvorhersehbar machen. Es kommt nach Clausewitz so sehr auf die ›Eigentümlichkeit‹ und die ›individuellen Züge‹ des Falles an, auf so viel ›kleinliche Umstände‹, dass jeder Versuch, diesen schillernden und vielgestaltigen Gegenstand in ein strenges begriffliches System zu zwingen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Dieses unzählige Gestalten annehmende Phänomen lässt sich begrifflich erfassen, indem man einen festen, allen Kriegsformen gemeinsamen Kern ermittelt. Diesen Kern des Phänomens bildet der Begriff des ›reinen‹ Krieges, der, wie sein Attribut ›rein‹ anzeigt, aus einer Reinigung, Kondensierung und Steigerung der verwirrenden empirischen Wirklichkeit der ›wirklichen‹ Kriege entsteht. Die komplexe Natur des Gegenstandes verlangt eine Theorie, die die Natur und den Zusammenhang der Dinge durch Abstraktionen und Fiktionen erfasst, die vom Zufälligen des individuellen Falles absehen. Die Natur des Gegenstandes ist doppelseitig: sie meint nicht nur die Natur des äußeren Kriegsverlaufs, sondern und vor allem die Natur der daran Beteiligten. Clausewitz setzt gleich auf der anthropologischen Ebene an, er will umfassend anthropologisch argumentieren, weil er von Anfang an überzeugt ist, »die Kriegskunst habe ›mit lebendigen und mit moralischen Kräften zu tun‹: kein anderer als der Mensch ist aber der Träger dieser Kräfte und deshalb muss hier die Frage nach seiner Beschaffenheit in den Vordergrund rücken.« (TdK S.21, zitiert Clausewitz)

Der aus der Reinigung bzw. Abstraktion der Wirklichkeit des Kriegsphänomens entstandene Begriff des Krieges an sich bildet eine Konstante, weil er auf Konstanten menschlichen Verhaltens, also auf anthropologisch-psychologische Grundgegebenheiten zurückgeführt wird, die bei jedem Menschen anzutreffen sind. Der ›reine‹ Krieg bildet die existentielle Grundlage, die ›Quelle‹ oder den ›Nerv‹ jedes ›wirklichen‹, d.h. jedes historisch geformten Krieges. So wird das ›Zwitterwesen‹ des Krieges aus dem ›Zwiespalt‹ im Menschen selbst erklärt.

Die zweite Etappe will die Verwurzelung des Krieges im soziokulturellen Ganzen nachweisen. Es geht hier um die Betrachtung des Krieges innerhalb des weiten Gebietes der Gesellschaft – in der Terminologie von Clausewitz – innerhalb des ›politischen Verkehrs‹ oder des ›gesellschaftlichen Verbandes‹. Das Verlassen der engeren anthropologisch-psychologischen oder existentiellen Ebene und die dadurch gewonnene Erweiterung des theoretischen Blicks wird durch die zweite Denkkomponente von Clausewitz möglich. War die erste von einer tiefen anthropologischen Überzeugung geprägt, so wird die zweite von einer strikt historisch relativistischen Einstellung beherrscht. Der historische Relativismus ermöglicht die Überschreitung der engeren kriegstheoretischen Perspektive. Die ›Eigentümlichkeit‹ des Falles im Kriegsgeschehen weitet sich aus zur ›Eigentümlichkeit‹ einer ganzen historischen Epoche. Clausewitz hebt hervor, dass alle Epochen ihre Kriege »›auf ihre Weise..., anders, mit anderen Mitteln und nach einem andern Ziel‹ führten und daß ›jede Zeit ihre eigenen Kriege, ihre eigenen beschränkenden Bedingungen, ihre eigene Befangenheit hatte‹« (vgl. TdK S.67, zitiert Clausewitz) Damit werden die ihn bewegenden Fragen als geschichtliche Fragen gestellt und verstanden. Der historische Relativismus verschiebt die Betrachtungsweise derart, dass die Natur des Krieges durch die Natur der Verhältnisse bedingt erscheint und nach diesen Verhältnissen gefragt wird.

Die Theorie des Krieges als historische Soziologie

Die Einordnung des Krieges in das soziokulturelle Ganze stellt die kausale Verbindung zwischen der Natur des Krieges und der Natur der Verhältnisse oder der Sozialstruktur her. Durch diese Wendung der Betrachtung gelangt Clausewitz bis an die Schwelle einer echten, historisch verfahrenden Soziologie. In diesem Zusammenhang bedeutet ›echt‹ für Kondylis die konsequente epistemologische Verbannung von Psychologismus und Finalismus aus dem theoretischen Konstrukt (theoretische Fiktion oder Idealtyp), das Soziologie heißt. Für Kondylis ist die Gesellschaft das Reich der unbeabsichtigten Folgen des Handelns. Das bedeutet, dass alle Erscheinungen und Gebilde innerhalb der Gesellschaft ihre Entstehung der Wirkung des Mechanismus der Heterogonie der Zwecke verdanken. (Dies ist selbstverständlich nur eine ex post facto und nur in der Beobachterperspektive mögliche und sinnvolle Aussage.) Also ist die Gesellschaftstheorie dazu verurteilt, auf der allgemein-abstrakten Ebene anzusetzen, die dieser theoretischen Einstellung entspricht. Kondylis schiebt von Anfang an die von niemandem bestrittene Trivialitäten über Faktizität beiseite, wie etwa die, die in dem Satz formuliert ist: ›Gesellschaft besteht ausschließlich aus Individuen, die ihr Handeln aneinander orientieren.‹ Er fragt stattdessen, von welcher Abstraktionsebene an Soziologie als autonome Wissenschaft beginne. Soziologie beginne da, wo wir von persönlichen Motiven (Psychologismus) und Zwecken (Finalismus) abstrahieren, da ein Verweilen bei ihnen keine epistemologisch eindeutige Unterscheidung zwischen Psychologie oder Geschichtswissenschaft einerseits und Soziologie andererseits gestatte. (vgl. das Kapitel »Zwei Grundlegungen der Soziologie« in SO S.108) Der Schritt über diese epistemologische Schwelle gelingt Clausewitz nicht mehr, und zwar deshalb, weil er weiterhin am Begriff des politischen Zwecks festhält, der ihm als Einordnungskriterium eine große Hilfe war, (ein begrenzter politischer Zweck bedinge den begrenzten Krieg, ein großer politischer Zweck den Vernichtungs- bzw. napoleonischen Krieg.) Die Wechselwirkung von Zweck und Mittel als absteigende Stufenfolge und die Absolutsetzung des letzten politischen Zwecks verhindert die völlige Entsubjektivierung einer Theorie des ›politischen Verkehrs‹, die nach eigener Überzeugung eine historisch-soziologische Analyse des ›gesellschaftlichen Verbandes‹ implizieren würde. Trotzdem ist in der Struktur der Zweck-Mittel-Hierarchie eine maßgebliche Einsicht enthalten, nämlich die von der möglichen Verwandlung der Zwecke in Mittel.

Vom Vorrang des Zweckes zur Eigendynamik des Mittels

Clausewitz wurde die Bedeutung des Mittels immer bewusster, er dachte in diese Richtung weiter und stellte fest, dass die Wirkung des politischen Zwecks (der subjektiven Politik) von der Beschaffenheit des ›politischen Verkehrs‹ (von der objektiven Politik, den sozialen Rahmenbedingungen des Handelns) abhänge. Denn derselbe politische Zweck könne bei verschiedenen Völkern, oder selbst bei einem und demselben Volk zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Wirkungen hervorbringen. (vgl. TdK S.86) Die allgemeinen Verhältnisse, aus denen ein Krieg hervorgeht und die seine Grundlage ausmachen, bestimmen auch seinen Charakter. Dies ist im Wesentlichen der Inhalt der berühmten Formel. Kondylis denkt den Primat des Mittels zu Ende und reinigt dadurch die Theorie von jedem subjektivistischen Motiv und Zweck. Damit wird das Mittel nicht eng kriegstheoretisch als Waffe, Truppe o.ä. aufgefasst, sondern das Mittel wird direkt auf die Beschaffenheit des politischen Kollektivs als Träger des gesamten Kriegspotentials bezogen. Die Beschaffenheit des Mittels entspricht der Beschaffenheit des ›politischen Verkehrs‹ bzw. ›gesellschaftlichen Verbandes‹, es umfasst nun sowohl die Produktionskräfte und -verhältnisse als auch die einer bestimmten Gesellschaftsformation eigentümlichen sozialen Verkehrsformen. Mittel ist somit ein anderer Ausdruck für Sozialstruktur.

Primat des Mittels bedeutet Primat der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, was gewichtige theoretische und praxeologische Folgen nach sich zieht. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen setzen den Rahmen der Handlungen (der subjektiven Politik) fest. Seine jeweilige geschichtliche Erscheinungsform bestimmt den Spielraum der subjektiven Politik jeweils anders. Der Rahmen der Handlung steht also unabhängig vom Willen der Handelnden fest, und seine Beschaffenheit bedingt das Verhalten der Akteure auf der geschichtlichen Bühne. »Gerade deshalb, weil Rahmen bzw. Grenze und Spielraum der Handlung zusammengehören, besteht die elementare Aufgabe subjektiver Politik im Falle eines Krieges darin, durch den ›großartigsten‹ und ›entschiedensten‹ ›Akt des Urteils‹ ausfindig zu machen, was der Krieg ›der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann.‹« (TdK S.76f) Die ›bellizistischen‹ oder ›pazifistischen Neigungen‹ der Kriegsgegner weichen der unerbittlichen Logik des Mittels.

Die apokalyptischen Infernos des 20. Jahrhunderts, die man als ›totale‹ Kriege apostrophiert hat, bilden das beste Beispiel der Kapitulation der subjektiven Politik vor den Zerstörungskapazitäten des objektiv gegebenen ›politischen Verkehrs‹ bzw. ›gesellschaftlichen Verbandes‹. Der ›totale‹ Krieg (I. und II. Weltkrieg) vollzog sich in Ländern mit unterschiedlicher Vorgeschichte und politisch-institutioneller Struktur, die aber alle industrielle Massengesellschaften waren. (vgl. TdK S.138) Das gesamte Kriegspotential umfasst, wie oben beschrieben, nicht nur die wirtschaftlichen Kapazitäten, sondern auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen der ›totalen‹ Mobilmachung, wie sie in einer potentiell egalitären Massengesellschaft gegeben sind. Dass von diesen Kapazitäten schließlich Gebrauch gemacht wurde, obwohl das von den Kriegführenden zunächst nicht beabsichtigt war, verweist direkt auf die Eigendynamik und das Autonomisierungspotential des Mittels (vgl. TdK S.137): a) entwickelte Industrie, Massenproduktion von Waffen und Kriegsmaterial durch die Großindustrie, hohe Zerstörungskraft und Zerstörbarkeit des produzierten Materials in großen Massenschlachten,
b) Existenz von Massenarmeen, die davon Gebrauch machen,
c) Loslösung der Waffen von der Person des Kriegers,
d) Mobilmachung der Heimat.

Das Vorhandensein dieser Faktoren macht den Übergang vom Vernichtungskrieg (deutsch-französischer Krieg 1870/71) zum ›totalen‹ Krieg zu einer Fatalität. (vgl. TdK S.139f) Die Entstehung der zunehmend egalitären industriellen Massengesellschaft begünstigt das Eindringen proletarischer Massen in die Armee. Das Einspannen der Heimat für die Front bedeutet, dass der überwiegende Teil des Nationaleinkommens einer Gesellschaft in den Dienst des Krieges gestellt wird. Der Soldat kann mehrere Waffen nacheinander verwenden, die der stetigen Ersetzung, Erneuerung und Verbesserung bedürfen, da die Großindustrie, die sie herstellt, gleichzeitig die Mittel ihrer Zerstörung produziert. Die schnelle Zerstörung des Kriegsgeräts wird dann durch die Mobilmachung der Heimat wiedergutgemacht, die ihre rasche Ersetzung und Vermehrung sichert. Eine Gesellschaft, die das Zusammenspiel all dieser Faktoren ermöglicht und gewährleistet, kann nur eine industrielle Massengesellschaft sein. (vgl. TdK S.140) Das Verhältnis von Soziologie und Handlungslehre

Als Politik wird nicht die maßgebliche Handlungsweise einer zivilen Instanz, sondern der eines ›gesellschaftlichen Verbandes‹ selbst bezeichnet. Daraus ergeben sich für den subjektiven Faktor der Politik Folgen. Denn der Primat der objektiven Politik und der Grundsatz der politischen Natur des Krieges bedingen, dass die subjektive Politik nicht autonom ist; sie steht vielmehr in einer positiven oder negativen Beziehung zu den objektiven Gegebenheiten des politischen Verkehrs. Für die Beschreibung des gesellschaftlichen Rahmens wäre dann die Soziologie zuständig. Die subjektive Politik agiert innerhalb dieses bestimmten Spielraums. Nur hier kommt der Einsatz einer Handlungs- bzw. Zweck-Mittel-Lehre in Frage. Freilich schließt die (theoretische) Gleichgültigkeit gegenüber subjektiven Einstellungen und Motiven nicht eine Gleichgültigkeit gegenüber subjektiver Politik im Sinne des zweckrationalen Handelns von Subjekten ein. Es hat einfach mit der Tatsache zu tun, dass das handlungstheoretische Problem gerade im Spannungsfeld zwischen subjektiver und objektiver Politik entsteht. Die Bevorzugung der objektiven Politik hat einen wichtigen epistemologischen Sinn, denn nur sie allein, so die Überzeugung, lasse sich wissenschaftlich erfassen. Der Grundsatz der politischen Natur des Krieges konnte eben deswegen zur Vereinheitlichung der Theorie dienen, »weil hier die objektive Politik, also der politische Verkehr gemeint war, der sich im Gegensatz zu den unübersichtlichen, unvorhersehbaren, irreduzierbaren und unklassifizierbaren Einfällen und Handlungsweisen der subjektiven Politik einer wissenschaftlichen Erfassung nicht wesensgemäß entzieht.« (TdK S.75) Die Überdeckung des politischen Zwecks durch die Beschaffenheit des sozialpolitischen Kollektivs (des Mittels), scheint die Beseitigung der Handlungsdimension und die Degradierung des Handelnden zu einem ›bloßen Pflichten-Automaten‹ (Clausewitz) nahezulegen. Doch dieser irrige Eindruck verschwindet, wenn man sich den Unterschied zwischen der Ebene des Logischen, und der Ebene, auf der sich die realen Gegebenheiten abspielen, jederzeit bewusst macht. Man muss also unterscheiden zwischen der Ebene der realen Gegebenheiten und der kohärenten gedanklichen Erfassung, die notgedrungen auf der Basis von Abstraktionen ablaufen. Diese müssen vom Akzidentiellen des individuellen Handelns absehen. (vgl. TdK S.98) Die Unterscheidung zwischen der Ebene des Logischen (der Theorie) und der Ebene der Wirklichkeit (der Handlungspraxis) zeigt, dass der Widerspruch zwischen Handlung und sozialer Struktur ein Scheinwiderspruch ist, denn die einander widersprechenden Begriffe (Handlung – Struktur) sind von unterschiedlicher logischer Ordnung. Die Rede vom Primat des Mittels heißt nicht, dass allgemeine Verhältnisse und nicht Menschen entscheiden, wo, wann und was für ein Krieg zu führen sei. Diese Entscheidung bildet aber selbst ein Glied in der Kette der Verhältnisse und beruht auf dem Takt des Urteils, dessen Hauptaufgaben eben in der sachgemäßen Beurteilung der Verhältnisse besteht. (vgl. TdK S.87f) Folglich können dem Forscher Binsenwahrheiten wie z.B. die, Geschichte werde durch ›free human wills and free choices‹ gemacht, keine Hilfe bieten, da es eher ethisch als wissenschaftlich motivierte Glaubensbekenntnisse sind. Er dagegen muss sich der ewigen Frage stellen. »Was war die Ursache der individuellen Handlungen und der kollektiven Abläufe, warum sind sie so und nichts anders ausgefallen? In der Tat: Das historische Material und die historische Erzählung müssen um die Achse dieser Frage organisiert werden, [..] Denn das Kriterium für Auswahl und Einordnung der Fakten kann nur in einem Urteil über ihr relatives Gewicht innerhalb des kausalen Gesamtzusammenhanges gesucht und gefunden werden.« (SO S.170)