von Ulrich Schödlbauer

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Der Kikeriki: sanfter Hügel, praktisch nicht mehr als eine Bodenwelle in einem Landstrich, dem alle Arten von Erhebungen fremd sind. Wie lebt es sich an einem solchen Ort? Gut, sollte man meinen. Ein Land wie ein Glückstopf: Greife hinein und du ziehst das große Los. Jedenfalls redet meine Nachbarin so, die behauptet, sie kenne sich in solchen Dingen aus. Ich selbst merke nichts davon. Warum sollte ich? Mein Leben ist kompliziert, da kann ich mich nicht auch noch um das Glücksstreben anderer Leute kümmern. Die Nachbarin zum Beispiel … ich bin mir nicht schlüssig, ob ich ihren Namen verraten darf. Bleiben wir vorsichtig. Was ich sagen wollte … einerseits wäre sie nicht imstande, einer Fliege ein Leid anzutun, andererseits schlägt sie jede Mücke erbarmungslos tot, die es wagt, sich auf ihrer frisch glänzenden Haut niederzulassen. Ist das konsequent? Ist das logisch? Wenn Sie mich fragen: keins von beidem. Meine Nachbarin ist, wie alle Menschen hier, ebenso herzlich wie grausam und sieht darin keinerlei Widerspruch. Sprich sie darauf an und sie antwortet: »Das ist etwas anderes.« Und, solltest du insistieren: »Davon verstehst du nichts.«

Falls Sie es wissen möchten: Nein, ich bin nicht von hier. Erst langsam fange ich an, mir eine Meinung über die hiesige Mitwelt zu bilden. Glückliche Zeit der Unwissenheit, wie habe ich sie genossen! Kaum erlaube ich mir ein Urteil, schon mehren sich die Erlebnisse. Heute zum Beispiel stehe ich vor einem Möbelgeschäft und ein Unbekannter herrscht mich an: »Stehen Sie hier nicht so herum! Gehen Sie hinein, wenn Ihnen danach ist. Hier gibt es nichts zu sehen.« Sie müssen wissen, ich bin extrem kurzsichtig und habe es deshalb aufgegeben, meine Umgebung auf der Suche nach Sehenswertem zu mustern. Der Unbekannte war in diesem Moment für mich nichts als ein großer Schemen. Ein Bein zum Fortgehen angewinkelt, verlangte es mich danach, seinem Geschrei etwas entgegenzusetzen: »Woraus schließen Sie, dass ich sehen will? Ich kann ja Sie kaum erkennen, geschweige denn, dass ich Sie kenne. Wenn ich hineingehen will, dann gehe ich auch hinein. Im übrigen geht Sie das gar nichts an.« Der Unbekannte hob die Faust gegen mich und ich sah, dass es gut war. Meinetwegen hätte er dort zu Marmor erstarren können, mit gereckter Faust, die andere vermutlich geballt in der Tasche, aber wer kann das wissen. Der Mitmensch ist ein befremdliches Wesen.

Ein Ausflug auf den Kikeriki lohnt sich immer. Die Lüfte in Topfland sind lau, ausgenommen die Zeiten, in denen Stürme über die Ebene fegen und die Ziegel von den Dächern werfen. Das gilt jedesmal als Skandal, aus dem eine Clique kritischer Geister sich belehrt, wie unfähig und korrupt die öffentliche Hand das Land regiert. Junger Mann, waren Sie schon einmal auf dem Kikeriki? Setzen Sie sich her, dann vergeht die Zeit … leiser. Ich frage so, weil es passieren könnte, dass ich munter an Ihnen vorbei erzähle, bloß weil Sie bereits alles wissen. Das macht nichts? Oh doch! Ich müsste sonst annehmen, Sie wollten mich kontrollieren. Wer sind Sie? Was bringt Sie zu der Gewissheit, gerade Sie wüssten Bescheid? Zucken Sie nicht mit den Schultern: Niemand. Und jetzt gehen Sie bitte beiseite. Mit solchen Menschen möchte ich nichts zu tun haben. Menschen Ihres Schlags … unerträglich. Gehen Sie bitte zur Seite. Nicht auf diese, nein, auf die andere. Die Seite, die einer wählt, ist immer wichtig. Sie möchte ich bestimmt nicht auf meiner Seite haben.

»Was soll das? Hören Sie auf mit dem dummen Gequatsche oder ich…«

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setze Ihnen die Faust zwischen die Rippen. Das wollten Sie doch äußern, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Sie sind ein … sagten Sie Bastard? Sagten Sie wirklich Bastard? Ich wusste, Sie würden mit Anglizismen um sich schmeißen, sobald Sie sich provoziert fühlen. Fühlen Sie sich provoziert? Durch mich? Durch meine Person? Kennen wir uns? Nein? Richtig. Habe ich Sie recht verstanden? Ich nenne Sie Hannibal und jetzt raus. Nicht jeden Zuhörer wird man auf die zivile Tour los. Manchmal ist rohe Gewalt vonnöten, mancher wünscht sie geradezu herbei. Aber die meisten verdrücken sich ungefragt. Mein Erzählansatz war und ist: keine ungebetenen Gäste. Damit bin ich in Topfland schon … ach vergessen wir dieses Topfland. Es ist hässlich, schlecht bewirtschaftet und irre. Gewiss, auch ich kann mich irren, aber in diesem Punkt irre ich sicher nicht.

Zwei Füße, zwei Beine und zwei Hände, mehr braucht es nicht, um auf den Kikeriki zu kommen. Nein, zu klettern gibt’s dort oben nichts. Bezahlt wird am Ziel. Und wenn ich ›zahlen‹ sage, dann meine ich zahlen – mit beiden Händen, in Echtzeit. »Halten Sie den Betrag passend abgezählt bereit.« Der Hinweis steht auf einer Tafel am Wegrand, der Naturfreund passiert sie, bevor es bergauf geht. Leider teilt sie nicht mit, welchen Betrag er bereithalten soll. Nur ›passend abgezählt‹ soll er sein. Bei Bringschuld darf gern auch über die Höhe spekuliert werden. Ein Anfänger stellt sich vor, wie sie mit jedem Schritt wächst. In Wirklichkeit, pardon, in der rauen Luft der Realität zählt bloß die Höhe über dem Meeresspiegel. Die Schuld steigt mit, exponentiell zur erreichten Lebenshöhe. Geben Sie zu, der Gedanke hat etwas Bestechendes. Beruhigend dabei: der Kikeriki zählt, wie ich bereits erwähnte, zu den kleineren Hügeln, zu den hügelartigen Erhebungen, kaum der Rede wert, soviel Kleingeld trägt jeder in der Tasche. Gleich morgen könnte ich mich auf den Weg machen. Da wäre ich glatt noch vor Mittag droben.

Wirklich habe ich schon öfter mit dem Gedanken gespielt. Letzte Woche erst … kommen Sie, wir sprechen hier unter uns, ich verrate Ihnen mein Geheimnis: Ich war beim Zahnarzt. Erst der Zahn, dann der Fuß. Man nennt das natürliche Rangordnung. Er ist oft droben, das weiß ich, aber er spricht nicht gern darüber. Der geborene Pilger, wissbegierig, verschwiegen, Typus einsamer Sucher. Soviel weiß ich: Er schafft Geld hinauf, viel Geld, unbar, ob legal oder illegal, entzieht sich meiner Kenntnis. Auch das könnte ich herausbekommen, nichts leichter, als im Netz hinter ihm herzuspionieren. Warum? Warum sollte ich so etwas tun? Solange er mein Geld nimmt, bleibt mein Gebiss in Schuss. Das ist mir die Anlage wert. Man schnüffelt nicht grundlos in Nachbars Vorgarten. Ich sage immer: Er hat seine Bilanz und ich habe meine. Anders steht es um seinen Schwager, bei dem ich meine Hosen anfertigen lasse. Das ist ein gerissener Hund, der vor keinem Betrug… Würde mich nicht wundern, wenn er auf meiner schwarzen Liste auftauchte, one day, bis dahin hat es keine Eile, derweilen plündere ich seine Arbeitskraft, so gut ich kann.

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– Sie da, der ältere Herr am Wartetisch, nein, der daneben, ich merke, Sie hören mir zu, nur Mut. Stellen Sie die Lauscher auf! Dürfte ich um Ihren Namen bitten? Nein? Gut, dann eben anders. Sehen Sie, ich drücke diesen Button … nein, Sie können ihn nicht sehen, strengen Sie sich nicht an. Da haben wir’s schwarz auf weiß. Sieh mal einer an. Und sowatt hat in Hawatt studiert. Und wenn du noch so sehr mit den Ohren wackelst, von mir erfährst du nichts. Nicht mal den eigenen Kontostand, da müssen Sie schon selber zur Bank gehen. Du bist pleite, edler Freund, oder täusche ich mich da? Lass mal sehen. Komm schon. Lass ihn raus, den trägen fetten Kater, der so gern über Leichen flaniert. Klapp deine Lauscher ein, das hier ist nichts für sie. Ach du Scheiße. Was bist du doch für ein… Willst du hören, was ich über dich denke? Kannst du lippenlesen? Nein? Dann eben nicht. Gut, ich steigere jetzt die Lautstärke. Schrittweise, ganz wie es sich gehört. Schr… – du verstehst? Nein? Dann von vorn: Sch-r-i-ttttt. Hat’s geklingelt? Du wirst doch nicht deinen eigenen Schritt verpassen! Und jetzt: Schritt vooor Schritt, einen Fuß vor den anderen, das geht doch ganz gut. Hörst du, das geht ganz gut. Besser als gedacht. Du wirst mir noch aus der Hand fressen, Stieglitz.

… Wo war ich stehengeblieben? Zahnarzt! Patenter Junge, bisschen sportlich, etwas zu sehr hinter dem Geld her, wen juckt’s, Hauptsache, der Patient kann wieder beißen. Der Bursche hat Biss. Wie bereits angedeutet, seine Beziehungen zum Kikeriki sind labyrinthisch. Ehrlich gesagt, ich kenne mich noch nicht ganz damit aus, aber in den Grundzügen … man gewinnt ein Bild. Die Leute sehen mit einem gewissen Stolz auf den Kikeriki, »unseren Kikeriki«, als gäbe es noch andere, aber gerade dieser sei schon etwas ganz Besonderes. Alles Quatsch, wenn Sie mich fragen, wen kümmert da draußen unser Kikeriki? Doch so schwatzen die Leute nun mal. Vor allem, wenn sie angesäuselt sind und noch nicht ins Bett wollen. Jedem Misthaufen sein Hahn. Allerdings muss auch ich zugeben: So einfach liegen die Dinge nicht. Da fällt mir ein, die letzte Abrechnung war nicht korrekt, ich werde sie reklamieren. Fahren Sie fort, das tut jetzt nichts zur Sache. Es beruhigt einfach zu wissen, dass das Gedächtnis noch funktioniert. Er ist ja, wenn Sie sich erinnern wollen, nichts als eine Bodenwelle im Staub, nichts weiter, beachte ihn nicht und er verschwindet ganz und gar.

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Der Tropenarzt vom Luisenpark hat uns noch alle auf dem Gewissen. Ich musste ihn einmal aufsuchen, denn ich wollte den Schnee auf dem Kilimandscharo sehen, con mis propios ojos, sentimentaler Jugendtraum, schnell ausgeträumt. Viel Zeit hatte der Herr Professor nicht für mich übrig, ein ausgezeichneter Spritzer übrigens, er und der Zahnarzt sind dicke Freunde, wem sage ich das. Wahrscheinlich schieben sie einander die Patienten zu. Beweisen kann man so etwas selten, aber der Verdacht steht im Raum und lässt sich nicht einfach wegdrücken. Der eine infiziert, der andere desinfiziert. So einfach ist das. Ich lese viel im Netz, man findet da für alles Belege, aber taugen sie etwas? Never mind. Lesen Sie auch im Netz? Ich wette, Sie tun es. Aber Sie sprechen nicht gern darüber, das lese ich in Ihren Augenwinkeln. Früher waren wir alle im Netz unterwegs. Wenn mich einer fragt: nicht alles war schlecht damals, man konnte sich totlachen, dann fühlte man sich gleich lebendiger. Wir haben wir uns gegenseitig die besten Schweinereien rübergeschoben, sans phrase, heute geht der Bürger zum Tropenarzt, bloß weil er dem Kikeriki einen Besuch abstatten will. Abschminken darf er sich die Sache trotzdem. Da merkt unsereiner den Unterschied. Eine Verschwörung ist im Gange, eine echte Verschwörung, der Bürgermeister steckt bis zum Hals drin, aber ehrlich gesagt, er ist nur die Spitze des Eisbergs.

Nein, das Internet hat seine besten Jahre hinter sich. Schlägst du eine Fliege tot, kommen zwei wieder. In Facebook zum Beispiel … was ist bloß aus Facebook geworden? Ein Alte-Leute-Zeitvertreib, ›Hilfe ich werde gelöscht!‹ oder so ähnlich, so etwas tue ich mir nicht an. »Mein Profil ist weg«, hörte ich gestern am Nebentisch. Das muss furchtbar sein. Ein Mensch ohne Profil ist wie eine Badewanne ohne Überlauf. Kennen Sie das Profil der Macht? Die Frage kommt jetzt etwas unvermittelt, aber nicht ohne Zusammenhang. Gewisse Leute, ich meine jetzt Profis, die etwas zu sagen haben, deuten neuerdings an, die Machtfrage entscheide sich auf dem Kikeriki. Das klingt töricht, finden Sie nicht? Ziemlich töricht sogar, wo führt das hin? Macht ist Information, wie Ihnen jeder normale Hacker bestätigen kann. Erinnern Sie sich an Assange? Das war ein Mann. Ein Mann für zwei. Wo ist er heute? Gelöscht. Es gibt Menschen, die können nicht anders, die Informationen fließen ihnen so zu. Das sind gefährliche Menschen, Menschen, die Macht über andere aus einem Patschhändchen ins andere gleiten lassen, hübsch unauffällig und plötzlich wackelt die Heide.

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Macht, meine Liebe… Stellen Sie die Wimpern ruhig, ich sehe, auch Sie wissen Ihre Macht zu gebrauchen, aber ich bin ein alter Agent und Tricks verfangen bei mir nicht. Keine Tricks! Sonst bin ich draußen. Sie möchten doch, dass ich weiterrede? Sie baden in meinen Sätzen. Hier, das Shampoo. Warten Sie, ich reiche Ihnen ein Handtuch. Das große oder das blaue? Und keine Tricks. Macht findet sich überall, sie ist die verteilteste Sache der Welt, nur leider ungleichmäßig. Sehr ungleichmäßig. Und deshalb unzuverlässig. Macht ist unzuverlässig. Ihnen sage ich damit nichts Neues, aber die meisten Menschen schauen mich überrascht an, weil sie instinktiv annehmen, sie sei etwas Festes. Ja der Instinkt… Irgendwann führt er uns alle in die Irre, vor allem die Mächtigen. Sie mögen über Gefahrenbewusstsein verfügen, aber der Macht vertrauen sie unbedingt. Und darin liegt die Gefahr. Über die Ohnmacht der Mächtigen wüsste ich Ihnen Bände zu erzählen. Das lässt sich an den Hunden studieren. Halten Sie einen Hund? Sie sollten einen Versuch wagen, allein zu Studienzwecken. Irgendwann hält der Hund Sie. Was sagten Sie? »Darum geht’s doch«? Wohnen Sie nie zur Miete, da sind Sie ihr ausgeliefert, der kläglichen Stimme der Macht … mal von rechts oben, mal von links unten, Genaueres weiß man selten und sicher – sicher darf man sich nie sein. So, und jetzt beeilen Sie sich, ich habe mich leer geredet. Ein bisschen kalt heute, hören Sie, sparen Sie an der Heizung? Jetzt verstehe ich, Sie wollen den linken Fuß zuerst verarzten … da, ich gebe ihn Ihnen hin. Ist ja nicht das erste Mal. Sie wissen, ich respektiere Rituale.

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Dieser Unbekannte, von dem ich eingangs erzählte – wer hat ihn, nur so in die Runde gefragt, erkannt? Ich habe ein wenig recherchiert und da ist er: »eins-achtzig groß, muskulös, Tattoo auf dem linken Oberschenkel, hat im Lauf seiner Schlägerkarriere zwölf Unterkiefer zerschmettert, zwei Schädelbasisbrüche herbeigeführt, einer davon letal, Gefängnisaufenthalte: – , sexuelle Übergriffe, soweit gemeldet, konnten bislang nicht verifiziert werden.« Das ist der Mensch, der dich heutzutage auf der Straße anherrscht, wenn du einkaufen gehst. Ich sage das nicht in diesem bitteren Spießer-Tonfall, ich bemerke es bloß. Und hier steht es: »Vermutete Mitgliedschaft im Bund Kikeriki, einem angeblichen Geheimbund, den kritische Journalisten, darunter eine Reihe von Verschwörungstheoretikern, seit Jahren verdächtigen, an Straftaten beteiligt zu sein und selbst welche zu organisieren, ohne dass sie Beweise vorlegen könnten.« Was ist das für eine Information? Wenn ich Beweise vorlegen kann, dann lege ich sie vor oder auch nicht, ganz wie es mir beliebt. Kann ich sie heute nicht vorlegen – Pech! Dann vielleicht morgen. Wurden sie bisher nicht vorgelegt, dann hat das nichts zu bedeuten … oder eben doch. Der Informant, der sie hätte beibringen können, ist überraschend gestorben? Das kommt vor. So etwas soll vorkommen. Ich würde mich da nicht festlegen. Vergessen Sie, was ich gerade gesagt habe. Das war doch off the record oder irre ich mich da? Unter uns: ich irre mich ungern.

Ein Irrtum, ein großer Irrtum hat unseren Bürgermeister auf den Kikeriki geführt. Böse Stimmen sagen, er habe dort das Krähen lernen wollen, aber herausgekommen sei nur ein Krächzen. Er ist ein weißer Rabe, unser Bürgermeister. Er fühlt sich zu Höherem berufen, aber das Höhere ist nicht da. Für einen wie ihn gibt’s kein Höheres, aber er kann und will es nicht begreifen. Wenn einer auf dem Zenit seiner Macht mit den Flügeln zu schlagen beginnt und es kommt nur ein Krächzen heraus, dann sollte man ihn wegschließen. Ein solcher Mensch, behaupte ich, ist nicht ungefährlich, er hat das Serum im Leib, er ist ihm untertan. Als ich vor Jahren eine Patentschrift anmelden wollte, saß so ein Exemplar auf dem Amt und lüftete den Flügel: ich erkannte gleich, was er darunter trug. Seither weiß ich, sie sitzen überall. Sehen Sie, ich habe nichts gegen Parteibücher, ich besitze selber eins, aber diese Burschen wollen gar nicht Partei sein, das Parteiisch-Sein haben sie sich abgeschminkt: Sie wollen die Macht, nichts als die Macht, die reine Macht. Nein, ich gehe selten ins Kino, was soll ich da, ich kann mir ohnehin denken, was die Menschen so denken. Ich lade mir auch keine Filme herunter, mein Rechner ist clean, clean wie der Morgenthau… Ist Ihnen aufgefallen, wie symbolisch alles ist? Die ganze Welt steckt voller Bezüge, nur meine sind mau. Genau gesagt, ich bin pleite. Wen wundert das in solchen Zeiten? Zufällig weiß ich: Auch meine Bank ist pleite. Es wird bloß vertuscht. Ich habe hinter dem Bäcker, dem Metzger, dem Lebensmittelhändler, überhaupt hinter allen Geschäftsinhabern her recherchiert, bei denen ich meinen täglichen Bedarf decke: alle sind pleite. Und alle sind Parteigänger der Macht. Sie brauchen keinen Flügel zu lüpfen, mein Geierauge erkennt sie auch so.

Noch stehen die repräsentativen Gebäude der Stadt. Das eine oder andere könnte einen neuen Anstrich vertragen – geschenkt, es gibt wichtigere Dinge zu regeln. Ab und zu flackert der Strom; davon geht eine gewisse Beunruhigung aus, aber im Laufe der Zeit hat sich der Versorger ein Sammelsurium an Ausreden zurechtgelegt und die Kassandren spielen Billard um halb neun. Will sagen, ihr Schweigen soll eisig wirken, aber die Lügen halten sie warm. Früher herrschte hier Laberland, heute ist es Aber-Land, Aber wie ›Aberwitz‹, doch ernsthaft scheint das keinen zu jucken. »Aber was wollen Sie machen?« fragt der ins Zivil zurückgekehrte Polizist. »Was wollen Sie denken?« wäre die bessere, die korrektere Frage, aber auch sie müsste erst gedacht werden und das sieht das System so nicht vor. Sagte ich System? Sagte ich wirklich System? Ein Synapsenfehler … sowas kommt jetzt häufiger vor. Synapsen sind wunderbare Schaltglieder der Natur, es wundert einen, dass selbst sie sich an diesen abgeschmackten Spielchen beteiligen.

Meine Nachbarin, wahrlich kein Täubchen … ui, was soll das? Der Schnitt ging ins Fleisch! –, überraschte mich gestern auf dem Treppenabsatz mit dem trotzigen Ausruf: »Wahrheit ist Lüge.« Was sagt einer da? Ich zog sie rasch in die Wohnung, nötigte sie, ihr Einkaufszeug abzulegen, und komplimentierte sie in mein Arbeitszimmer. Eindringlich bat ich sie, eingedenk der Lehre aus alten Ausbildungstagen, Wahrheit sei eine besonders sorgfältig konstruierte Form der Lüge, ihren Satz noch einmal zu überdenken: »Warum glaubst du das?« »Das kann ich dir sagen: Weil es wahr ist.« »Und wenn es nicht wahr wäre?« »Dann wäre es eine Lüge und alles wäre so, wie ich schon sagte.« Nein, man sollte die Wirkung von Sekt am Vormittag nicht unterschätzen, vor allem bei grauem Himmel. Wie auch immer, sie meinte es konkret. »Glaubst du, was in den Zeitungen steht?« Zeitungen? Erinnere dich, redete ich mir zu. Wer liest heute noch Zeitungen? In welch einer seltsamen Welt lebt diese Frau? »Was gibt es da zu glauben? Wenn du Geld für eine Nachricht ausgibst, dann wird es wohl eine Nachricht sein. Hast du Zweifel, wirf sie weg. Also raus mit der Sprache: Woran zweifelst du?«

Ich weiß, man soll so vertraulich nicht reden, vor allem nicht gegenüber der Nachbarin. Aber sie hatte einen empfindlichen Nerv getroffen und der Himmel gab sich, als werde er jeden Augenblick bersten. »Kann denn Liebe Lüge sein?« schmetterten wir beide aus voller Brust. Sie verfügt über eine feine Stimme, vor allem in den schrilleren Tonlagen, dort, wo der Mensch erkannt wird. Es stellte sich heraus … ach, was sollte sich schon herausstellen, nichts, was der Mensch nicht weiß, sofern er mit offenen Augen durch die Welt geht, vor allem die seiner Mitmenschen. Es stellte sich heraus … wenn Sie mich weiter so malträtieren, bekomme ich keinen Fuß mehr auf den Boden. Vergessen Sie die Hornhaut! Bitte konzentrieren Sie sich auf die Nägel! An den Nägeln entscheidet es sich, ob einem die Schuhe noch passen. Nein, das ist nicht witzig. Ich bin kitzlig, sagt Ihnen das etwas? Fahren Sie fort! Sie machen das gut…

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Die Sache mit der Lüge verhielt sich so. Jeder in der Stadt weiß, dass die Liftgesellschaft, welche die Seilbahn auf den Kikeriki betreibt (es führt tatsächlich eine Seilbahn hinauf!), seit Jahren Schmiergelder an den Bürgermeister zahlt, damit die Stadt für ihre Verluste aufkommt. Das ist die übliche Praxis, ein eingeführter Teil des Systems, ich muss sagen, sie hat sich bewährt. Melde ein Gewerbe an und statt der erhofften Gewinne tröpfeln deine Einnahmen vor sich hin: an wen sollst du dich wenden? Ganz recht: an die Allgemeinheit. Wer vertritt die Allgemeinheit? Ganz recht, der Bürgermeister. Vielleicht noch der Stadtkämmerer und ein paar Dutzend weiterer Funktionsträger. Was zum Teufel sollte diesen erlauchten Personenkreis bewegen, dir seine diskrete Unterstützung angedeihen zu lassen? Ganz recht. Wenn aber … hier ist es wieder, das verdammte Aber –: wenn aber, sagen wir, ein Unwetter den beliebten Wanderweg auf den Kikeriki auf Monate, vielleicht auf Jahre hinaus zerstört, dann … erhebt sich unabweisbar irgendwann die Frage: Wer ist hier der Gewinner? Sie meinen, die Affäre sei lächerlich und ich sollte mich nicht so aufblasen? Wer will schon, gegondelt oder zu Fuß, auf einen jämmerlichen Kikeriki? Dann haben Sie nicht begriffen, wie dieses Gemeinwesen tickt.

Das Unwetter schenke ich Ihnen. Kommen wir zur Sache. Man munkelt, am Tag nach der Katastrophe, die vielleicht keine gewesen ist, sondern nur eines der üblichen Sommergewitter, seien noch Leute hinaufgestiegen und zurückgekehrt, ohne dass sie Nennenswertes von ihrem Ausflug berichtet hätten außer: weiter oben gebe es ein paar morastige Stellen, drei Tage Sonne und sie wären wieder verschwunden. Drei Tage später wurden alle Zugänge zum Hügel gesperrt und die Behörde führte ein paar Reporter an ausgesuchte Stellen, damit sie live und vor Ort über die unfassbaren Verwüstungen berichteten. Einen dieser Berichte habe ich am Radio angehört und mir noch gedacht: So ein Schmarrn. Ich will diese Leute nicht schelten. Ihr Job ist hart genug. Glauben Sie mir: Es steckt mehr Genie in so einer Zeitung als in einem Theaterabend. Erinnern Sie sich? »Die Erdachse glüht! Wann wird sie brechen? Umweltforscher warnt: BALD«. Oder an: »Juso beißt wehrloses Kind«? War zwar ein Fake, aber unübertroffen, bis heute. Journalismus ist die Kunst, die Phantasie um Längen zu schlagen. Das klappt nicht alle Tage, aber der Konsument darf hoffen.

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Als der Lift auf den Kikeriki gebaut wurde, war ich als Neubürger dabei. Technisch unbedeutend, fast ein Behindertenaufzug, ausgerichtet auf einen Bedarf, der tage- und wochenlang unter Null sinkt. Ein Lift … ganz recht, liebe Räusperstimme hinter dem Vorhang: Macht es Spaß, alles aufzunehmen? Schämen Sie sich! Noch ist das hier Europa und keine chinesische Satrapie! … ein Lift, sage ich, ist ein Beförderungsmittel, und wo es nichts zu befördern gibt, da bekommt dieses Mittel einen, sagen wir, intrinsischen Wert, es beginnt, jedenfalls für Eingeweihte, von innen heraus zu leuchten… Das alles weiß der homo oeconomicus, er ist ja nicht dumm. Man könnte solch ein Gerät eine Zapfmaschine für den Abfluss von Steuergeldern nennen. Einige sehen das so, andere wiederum… Das fällt mir seit längerem auf: Kaum beginnt die Erzählung zu fließen, stehen die ›anderen‹ im Raum, Schemen, schwer zu unterscheiden, manchmal fast gänzlich vom Hintergrund verschluckt, Träger von Stimmen, die ohne sie zur Gänze unkörperlich im Raum stünden, insofern verdankt ihnen der Erzähler viel.

Solche Stimmen sind es, die dem Dasein seinen Wert zurückgeben, wenn er schon so gut wie verloren scheint, gestrandet zwischen den Abwasserrinnen und Speikübeln des gossip, des end- und würdelosen Geschwätzes, das auch der Anblick einer Marmorstatue in gepflegter Rotunde nicht zur Raison bringt. Angesprochen auf das vorliegende Missverhältnis von In- und Output, geben sie zu bedenken, dass die Kikeriki-Bahn, wie sie sie achtungsvoll nennen, immerhin das weltweit einzige Exemplar ihrer Gattung, nun einmal dem Gesamtensemble des Kikeriki zuzurechnen und in dieser Funktion aus kulturhistorischer, aber auch ästhetischer Sicht unverzichtbar sei und auch bleibe, was immer passiere. »Nehmen Sie die Bahn weg – was bleibt dann vom Kikeriki?« schrieb ein Kritiker und erntete damit gediegenes Nachdenken, nicht zuletzt, ich rate ins Blaue, auf den Fluren des Rathauses.

Wenn Sie durch das Berliner Pergamon-Museum schlendern, gesetzt, es hat zufällig zwischen zwei Pandemien geöffnet, dann begegnen Sie, sofern Sie aufmerksam sind, unterwegs einer Wächterfigur, in deren durch die Ungunst der Zeitläufe verunstaltetem Antlitz sich ein ungeheurer Schmerz abzeichnet: ein Schmerz über all das Gewusste, welches die Wacht mit sich bringt und mit sich bringen müsste, würde sie sich auf die Gesamtheit des Bewachenswerten erstrecken. Ein vergleichbarer Schmerz sucht uns von Zeit zu Zeit heim, nicht, weil wir so unendlich vieles in Erfahrung gebracht hätten, sondern weil die zuletzt entdeckte Teufelei eine Reihe aufreißt, die bis ans Ende unserer Welt reicht. Jedenfalls sehen wir plötzlich keinen Grund mehr, warum sie früher enden sollte. Ich sage ›uns‹, weil ich blind annehme, dass ich nicht als einziger solche Zustände kenne … sagen wir: halb-blind, immerhin unterhalte ich mich gerade mit meiner Nachbarin und spende ihr Trost. Wirklichen Trost, denn sie leidet… Ich kann nicht genau sagen woran, aber ich will es versuchen. Das Leid, von dem ich spreche, entstammt nicht dem Heute, es hat eine lange Vorgeschichte, es begann auch nicht hier, in Kikerihausen, es begann in den Labors einer gestrandeten Wissenschaft, der Wissenschaft von dem, was der Mensch dem Menschen antut, um, sagen wir, Einfluss auf seinen Alltag zu gewinnen, um ihn zu meliorieren, so heißt das Wort, ich habe lange danach gesucht und da ist es.


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In der Blüte meiner Jahre hat man mich gelehrt: Der in seine Umwelt verstrickte Mensch verfügt über genau zwei Optionen. Er darf sich abzustrampeln, bis Arme und Beine nachgeben und der erschöpfte Körper sein »Das war’s« murmelt, oder sie auf die kühle, gelegentlich rabiate Tour durch eine künstliche zu ersetzen. Der Weg der Aufklärung ist der Weg zum Zahnersatz. Wir gehen ihn, ob wir wollen oder nicht. Will sagen, wir leben in einer künstlichen Welt und niemand ändert daran ein Jota. Ganz recht, Wissenschaft braucht den Willen der Mitmenschen nicht. Ich selbst konnte das oft beobachten. Sie verfolgt ihren Weg und die Leute gehen ihrer Wege. Macht nichts, denn das, was sie des Wegs ziehen lässt, verdankt sich der verborgenen Hand der Wissenschaft. Alles, was den Menschen sauer aufstößt, stammt, wenn man es zurückverfolgt, aus irgendwelchen Labors.

Es mag Sie erstaunen, wenn ich Ihnen sage, dass ein Ausflug auf den Kikeriki denselben Prinzipien folgt wie ein Ritt in den Weltraum. Selbst dem kleinsten Fortschritt wohnt ein frenetisches Element inne. Aber es hält nicht lange vor und an seine Stelle tritt ein amüsiertes Blinzeln. Wenn ein simpler Spazierpfad, ausgelatscht von Millionen Schritten, nicht mehr dem zivilisatorischen Standard entspricht, dann weg mit ihm. Sie glauben mir nicht? Lächeln vielsagend? Dann sagen Sie’s doch. Spucken Sie’s aus! Nichts haben Sie zu sagen: das ist die Wahrheit, die reine Wahrheit, so wahr … So ein Unwetter, das es in die Zeitungen schafft, kommt praktisch nie unerwartet. Es ist eingespeist ins System. Wie alles, was sich zum Ereignis mausert, bedarf es einer ausgedehnten, sagen wir … Logistik. Wenn es sich endlich entlädt und etwas geschehen muss, dann schlägt die Stunde der Technologie, natürlich nicht irgendeiner, sondern einer, die überzeugt, weil sie der Region ganz neue Chancen eröffnet, von denen gestern noch nicht die Rede war. Denn die alte hat ausgedient und wir kommen mit ihr an dieser Stelle nicht weiter. Bravo! Aber wohin wollten wir denn? Und warum eigentlich? Müßige Fragen, wie gesagt, denn uns fragt dabei keiner. Also lautet die naivste von allen: Wie konnten wir es soweit kommen lassen?

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So wollten wir nie auf den Kikeriki. Welchen Technikfreak kümmert ein Hügel im Abendrot? Keinen. Angenommen, eine Hand schwebte aus den Wolken nieder und legte sich auf ihn: dann, ja dann… Dann handelte es sich um ein erstklassiges Heiligtum und alle Welt suchte dort oben Erleuchtung. Die Vorsichtigeren würden es meiden und die Forscheren … würden Mittel und Wege finden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, und dabei fromme Gesichter schneiden. Diese Sache mit der Hand… Irgendeine Hand ist immer im Spiel und wo eine im Spiel ist, ist die andere nicht weit. Eine Hand wäscht die andere, sonst lohnte es sich ja gar nicht, sie schmutzig zu machen. Mein Zahnarzt, eine erstklassige Type, wie ich schon sagte, ich weiß es aus bester Quelle, er schafft sein Geld gleichsam säckeweise hinauf – nicht alles, er ist ein umsichtiger Anleger, aber in letzter Zeit klettern die Summen, dort brodelt es, und seit das Gelände weiträumig abgesperrt wurde… Immer häufiger steigen Hubschrauber auf, stundenlang stehen sie dort in der Luft, der eine geht, der andere kommt.

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Es reicht mir. Ich weiß nicht, wie Sie das anstellen, aber Sie schaffen das. Rede ich etwa gegen die Wand? Sind Sie Wand oder spielen Sie Wand? Ich predige ungern tauben Ohren. Wenn Sie schon alles wissen, dann geben Sie mir Bescheid. Aber Sie wissen nichts. Sie wissen nichts und Sie wissen es. Sie wissen nichts, weil Sie Ihre Ohren auf Durchzug gestellt haben. Es kommt alles in Sie hinein, aber nach Ihrem weisen Beschluss hat es dort nichts zu suchen. Beschluss? Sagte ich Beschluss? Was könnten Sie schon beschließen, Sie … Verschlusssache. Nein, es ist so, wie ich sage. Sie sind feige, Sie sind denkfaul, Sie sind die Pest. Hat Ihnen das schon jemand gesagt? Nein, man sagt Ihnen, wie klug und beschlagen Sie sind. Man sagt Ihnen, wie sehr man es schätzt, Sie in seiner Mitte zu wissen. Man ehrt Sie … hat man Sie heute schon geehrt? Nein? Das kommt noch. Machen Sie sich mal keine Sorgen. Schließlich sind Sie offen für … alles. Weit offen, wenn’s genehm ist. Aber diese Offenheit, Sie wissen das genauso wie ich, ist link. Sie hat nichts zu bedeuten. Und wie alles, was nichts zu bedeuten hat, findet sie ihre Grenzen dort, wo Bedeutung beginnt. Nein, ich rede nicht von wahrer Bedeutung, in die Falle gehe ich Ihnen nicht. Ich rede von planer, simpler Bedeutung, hinter der ein Sachverhalt steckt. Sie fragen mich nach dem Sachverhalt und ich sage Ihnen, wie sich die Sache nach meiner Kenntnis verhält. Und wie verhalten Sie sich? Sie nehmen meine Worte zur Kenntnis. Wahrscheinlich merken Sie sich, was ich da von mir gebe. Vielleicht nehmen Sie es auf – so wie die unterdrückte Stimme hinter dem Vorhang. Glauben Sie, ich sähe das nicht? Glauben Sie, es entginge mir, dass der einzige Sachverhalt, den Sie an sich heran lassen, meine Auffassung ist? Halten Sie mich für unterbemittelt? Wollen Sie, dass ich mich in Rage rede? Ihnen etwas beweisen will? Lauern Sie auf den Ausrutscher? Nein, Sie doch nicht. Das erledige ich ganz von alleine. Ihre Aufgabe besteht darin, da zu sein, mir nicht von der Seite zu weichen, abwesend da zu sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Habe ich Sie beleidigt? Meine Füße…? Zum Teufel mit meinen Füßen. Schneiden Sie mir die Nägel und halten Sie die Klappe.

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So, jetzt ist mir wohler. Auf dem Kikeriki ist etwas im Gange, something big, und alle Warnsirenen schrillen. Allerdings nur bei den wenigsten Leuten. Ich wundere mich immer über das Talent der Massen, an allem vorbeizuleben, was zu ihrer Zeit geschieht. Trotzdem wäre es ungerecht zu behaupten, sie nähmen nichts davon wahr. Alles nehmen sie wahr, per Ansteckung oder Osmose, aber nichts davon bekommen sie mit. Die Bedeutungsdifferenz von ›Wahrnehmen‹ und ›Mitbekommen‹ ist sehr diffizil, um nicht zu sagen halsbrecherisch. Dabei wäre sie im Handumdrehen zu meistern, mischten sich nicht von allen Seiten her Interessen ein, flüsternd, schreiend, beschwörend und eifernd, wie es ihre Art ist.

Der Alltag in unserer allseits geliebten Provinzstadt strotzt von verwischten, umcodierten, heftig bestrittenen und, wie gesagt, überlärmten Wahrnehmungen. Das ist so. Wäre es anders, wir, und zwar alle miteinander, wären andere. Insofern sollte man nicht seine Zeit verschwenden, um damit zu hadern, sondern, als echtes intellektuelles Schwergewicht, einfach darüberstehen, was etwas anderes ist, als die Tatsache an sich zu bestreiten. Es verrät das Leichtgewicht, genau das zu seinem Herzensanliegen erkoren zu haben: die Tatsachen zu bestreiten. Natürlich nicht auf die offene Tour: falsch! falsch! falsch! So denken und reden bloß Dummköpfe. Die schlaueren unter ihnen, die ich soeben intellektuelle Leichtgewichte nannte, wissen, dass man damit auf die Dauer keinen Blumentopf gewinnt.

Darin liegt eben der Vorteil, den eine solide akademische Ausbildung verschafft. Sie gehen meinem Schmerz im linken Fußballen auf den Grund, aaah, Sie machen das exzellent, doch kennen den Satz vom Grund? Nein? Aber Sie wissen, alles hat einen zureichenden Grund. Sehen Sie, da haben Sie ihn schon, den berühmten Satz vom Grund. Und jetzt versuchen Sie einmal, den einfachsten Vorkommnissen auf den Grund zu gehen, und ich verspreche Ihnen: Sie stoßen auf die unvermutetsten Hindernisse. So sieht es aus mit dem Grund. Fragen Sie unseren Bürgermeister, warum der Kikeriki für das Publikum gesperrt ist! Sie meinen, Sie bekommen keine Antwort? Warum so defätistisch? Sie bekommen Ihre Antwort – zwar nicht vom Bürgermeister, auch nicht vom Pressesprecher – denn sprechen will niemand mit Ihnen! –, vielmehr, wenn Sie brav sind, vom ›Rathaus‹: Sie angeln eine hübsche Hochglanzbroschüre aus Ihrem Briefkasten, aus der auf jeder Seite hervorgeht, wie großartig unsere Kommune aufgestellt ist und dass jetzt alles darauf ankommt, gemeinsam die Aufgaben der Zukunft zu meistern. Fragen Sie nicht, was das jetzt soll, fragen Sie nie, denn: Sie bekommen keine Antwort. Sie bekommen einfach keine Antwort und der Kikeriki bleibt für Leute wie Sie gesperrt.

Sehen Sie, das nenne ich den Satz vom unzureichenden Grund. Sooft Sie unsere Autoritäten befragen, die gewünschte Auskunft erhalten Sie nie. Wir alle kennen das aus der Abendschau, aber es funktioniert auch vormittags. Vorsicht, werden Sie nicht gleich unwirsch! Dann könnte es nämlich sein, dass Ihnen in einer unvorsichtigen Stunde der Ausruf entfährt: Die verheimlichen uns doch etwas! Wer, bitte, sind die? Und was bitte, unterstellen Sie denen? Können Sie das beweisen? Ich meine, wer verheimlicht hier? Da wir gerade ins Gespräch kommen: Was steckt eigentlich hinter Ihrer Verbitterung? Eigeninteresse? Sind Sie irgendwann nicht zum Zug gekommen und geben jetzt den Trompeter von Säckingen? Oder lassen Sie sich vor irgendeinen Karren spannen? Woher Ihr plötzlicher Eifer? Vorsicht! Wer sind Ihre Hinterfiguren? Wollen Sie am Ende für ein Amt kandidieren? Dann treten Sie gefälligst aus der Deckung, wenn Sie den Mumm dazu haben!

Ansonsten: Solange Sie nicht Ross und Reiter nennen, nenne ich Sie einen Verleumder. So einfach geht das. Beweisen Sie mir, dass Sie nichts andeuten wollen! Schon einmal probiert? Na, Sie werden sich wundern. Ich weiß, was Sie andeuten wollen, Sie können sich winden, soviel Sie wollen, aus dieser Sache kommen Sie nicht mehr heraus. Weder gesotten noch geröstet. Am besten, Sie lassen sich abschrecken. Das schreckt nicht bloß Sie ab, sondern zwei Dutzend Leute in Ihrer nächsten Umgebung mit, gestandene Mitbürger, der Hälfte steht das Wasser heimlich bis zur Halskrause, nur Sie wissen nichts davon.

Was geschieht jetzt auf dem Kikeriki? Spucken Sie’s aus: So wichtig ist er Ihnen auch wieder nicht. Es gibt lohnendere Ausflugsziele. Genießen Sie die Annehmlichkeit eines Balkons? Benützen Sie ihn gelegentlich? Wie dem auch sei: Treten Sie hinaus, schlagen Sie wild mit den Armen um sich und krähen Sie Kikeriki! Das macht zwar kein Hähnchen aus Ihnen, aber immerhin hält das Gros Ihrer Mitmenschen Sie dann für verrückt. Behaupten Sie nicht, das sei kein Fortschritt. Wenn Sie mich fragen: Es steckt ein gewaltiger Fortschritt darin, ein Schritt weg von der Verantwortung, die auf Ihnen lastet, seit aus Ihnen ein fragender Mitbürger geworden ist. Sie sind jetzt Zeitgenosse, willkommen im Club!

3

Das alles habe ich auch meiner Nachbarin erklärt, geduldig, wie es meine Art ist. Genützt hat es nichts. Nachträglich würde ich sagen, es lag an meiner Prämisse. Was Frauen angeht, ist der heterosexuelle Mann eine Trostmaschine. Je untröstlicher die andere Seite, desto trostbeflissener der Mann. Die Natur hat es so gewollt. Hätte sie es anders gewollt, wer weiß… Meine Nachbarin wollte keinen Trost, sie wollte Information. Sie wollte wissen, warum die Aktien der Liftgesellschaft sich im Sinkflug befänden, ihre Aktien, jetzt, wo doch die neue Bahn gebaut werden soll, und das auf Staatskosten. Sehen Sie, angesichts so einer Frage befinden Sie sich gleich auf der anderen Seite. Was immer Sie antworten, Ihnen schlägt das volle Bündel Verdächtigungen ins Gesicht. Sie können der Frage praktisch nur ausweichen. Wenn der Zahnarzt und der Tropenarzt zusammen ein Ding einfädeln, dann hält das gemeine Gemeindeglied still.

»Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß, dass sie dran beteiligt sind.«

»Du lügst. Warum tust du das?«

»Ich lüge nicht.«

»Was hast du gegen den Zahnarzt? Du solltest deine Zähne hassen und nicht den Arzt, der sie korrigiert.«

»Mein Gebiss ist in guter Verfassung.«

»Das verdankst du bloß ihm. Du solltest dich schämen. Und jetzt reden wir von was anderem.«

Natürlich soll die Liftgesellschaft zerschlagen werden. Und natürlich stecken die beiden dahinter. Fragen Sie mich nicht, wie der neue Investor heißt. Ich verrate nichts. Bis gestern noch konnten Sie das alles selbst nachlesen, es befand sich nur zwei Mausklicks von Ihnen Nasenspitze entfernt, und heute ist es zu spät. Nebenbei bemerkt, es ist der alte, aber er hat umgruppiert und schickt andere Namen ins Rennen. Verdienen Sie am Sturzflug der Liftgesellschaft? Nein? Dann kann ich es Ihnen flüstern: Nicht jeder ist Zeitgenosse, den es dahin drängt. Das verstehen Sie nicht. Besitzen Sie keine Aktien? Bleiben Sie bei Ihrem Kurs. Sie sind nicht der Typ, der das durchsteht. Das Warten würde Sie verrückt machen … Sie verkohlen mich doch nicht, oder? Zum Zeitgenossen fehlt Ihnen viel. Zuvörderst die stoische Ruhe, an denen man diese Spezies erkennt. Ein Zeitgenosse ist niemandes Genosse, damit fängt es an. Die Zeit, verstehen Sie, ist nichts Festes, sie zerrinnt Ihnen zwischen den Fingern. Aber eigentlich verrinnen Sie und die Zeit guckt Ihnen dabei über die Schulter. Die Zeit ist die Rache für Ihre gottlose Existenz. Würden Sie in Gott ruhen, verfügten Sie über alle Zeit der Welt. Tun Sie’s? Natürlich nicht. Tut’s der Pfaffe? Natürlich nicht. Stattdessen steckt er mit dem Tropenarzt unter einer Decke. Der eine sammelt fürs Glockenspiel, der andere investiert in Klimaschutz, am Ende werfen sie zusammen. Im Grunde sammeln sie beide. Sie verdienen daran, dass ihre Zeit verrinnt. Sehr apart. Nein, ich bin nicht von den Zeugen Jehovas. Aua! Das tut weh.

Wie kam ich auf die Religion? Helfen Sie mir, in diesem Bereich häufen sich meine Aussetzer. Nein, meine Nachbarin eignet sich nicht zur Zeitgenossin. Dafür ist sie zu impulsiv. Sie will etwas machen, verstehen Sie? Aus ihrem Leben, aus meinem, aus dem Leben ihrer Mitmenschen – ließe man sie gewähren, so nähme sie den Globus in ihren Schoß und macht mit ihm etwas … Irreparables, wenn Sie mich fragen, etwas ganz und gar Irreparables, schon gut, dass sie keine Macht besitzt. Habe ich Ihnen berichtet, dass ich letzte Woche beim Zahnarzt – ja sicher, Sie waren es, der ich davon erzählte. Irgendwie sind wir davon abgekommen … Schwamm drüber. Er hat mir erklärt – Sie kennen die Pose, er hält dabei immer irgendein Gerät hoch und betrachtet es prüfend –, mein Gebiss sei irreparabel und wir sollten uns um ein neues … kümmern, er hat ›kümmern‹ gesagt, ich bin heute noch außer mir. Er werde die Sache sofort in die Wege leiten, unterschreiben könnte ich draußen, gleich beim Empfang. Ich weiß, dass er Geld braucht, viel Geld, er hat sich verbürgt, es herbeizuschaffen, koste es… Aber mein Gebiss, das ist eine andere Kragenweite.

14

Sie meinen, er hat recht? Sie stehen auf seiner Seite? Dann erzähle ich Ihnen mal, was in dieser Stadt los ist. Der Landrat hat eine Bannmeile um den Kikeriki gezogen, das ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, weil Sie hier nie rauskommen. Aber zur Kenntnis nehmen sollten Sie es schon. Der Bürgermeister, unser Bürgermeister, hat sich der Aktion angeschlossen, ein Drittel der Stadt lebt jetzt innerhalb der Bannmeile, das heißt unter Ausnahmerecht. Das nenne ich Biss. Meine Nachbarin wusste es, sie war empört, aber das hilft jetzt auch nicht weiter. Sie wusste nur nicht, warum sonst niemand davon wusste, deshalb sprach sie mich an. Sie wollte einfach wissen, wie das alles zusammenhängt. Verständlicher Wunsch, finden Sie nicht? Sie wollen wissen, ob ich mit ihr… Natürlich wollen Sie’s wissen, ich seh’s an Ihren Augen. Senken Sie nicht den Blick. Er ist so offen, so klar, so … umstandslos unehrlich, man könnte sich in ihn vertiefen. Ein Drittel der Stadt darf jetzt praktisch nicht mehr vor die Tür, da ist Vertiefung angesagt. Schade, dass so wenig darüber berichtet wird. Das hat natürlich System. Sie zucken zusammen! Bin ich Ihnen zu nahe gekommen? Aber ich sitze hier ganz entspannt, Systemfragen sind Luxusfragen und Entspannung ist der größte Luxus von allem. Überall, wo ich hinkomme, wird entspannt. Raspeln Sie mir nicht den Fuß ab. Womit soll ich denn dann auftreten? Es tut gut, wenn der Muskel sich … öffnet. Ich sage immer: Der entspannte Mensch ist der gute, aber ich finde keinen, der den Spruch Spitze findet.

Sehen Sie, Sie können ein Drittel der Stadt wegschließen, ohne dass der Rest es mitbekommt, bloß wegen ein paar Pfützen auf dem Kikeriki, nicht mitgerechnet die zugesperrten Gemeinden rund um das leergefegte Areal. Verstehen Sie jetzt, wie ich das vorhin meinte? Im Grunde braucht es nur einen Anruf beim Bürgermeister – der kann gestern vom Zahnarzt gekommen sein und heute von einem anderen, einem ganz und gar anderen, wer bin ich, dass ich Anrufe in öffentlichen Gebäuden kontrolliere? Da könnte ich gleich den Strick nehmen. Während ich hier sitze und Sie mir die Füße polieren, hat der Zahnarzt einen kleinen Schlägertrupp auf die Beine gestellt, der unbotmäßigen Mitmenschen die Fresse poliert, natürlich in stiller Absprache mit dem Bürgermeister, der nach außen hin nichts davon weiß. Nicht einmal sein Referent weiß etwas davon, die Zeitungen wissen nichts davon, außer, dass alles erlogen sei – wissen Sie, was ich täte, falls ich die Macht dazu hätte? Ich würde den Zeitungen das Wort ›Lüge‹ verbieten. Sie schreien doch nach Verboten, da hätten Sie eins. Meinethalben noch ein zweites dazu: Du sollst keine Schwätzer in deinen Reihen dulden. Dann bräche der Laden binnen zwei Wochen zusammen und ich könnte ihn nach meinem Gutdünken neu konzipieren.

Im Grunde passiert so etwas ja gerade, nur dass Sie und ich zu den ohnmächtigen Zuschauern zählen. Schauen Sie mir ins Gesicht! Entdecken Sie etwas? Eine Spur? Oh mein Gott! Sehe ich etwa entstellt aus? Entschuldigen Sie, das war mir so nicht bewusst. Klar bin ich diesen Schlägern in die Hände gelaufen, gleich in der Nacht danach, der Herr lässt nichts anbrennen, ich sehe das, unter uns, regelmäßig an seinen Rechnungen. Schwamm drüber! Ohnmacht erwähnt man nicht, vor allem, wenn es sich um die eigene handelt. Worüber spricht man dann? Nun, man bastelt an seinen Themen. Mein Thema ist der Informationsbogen, der sich über unser gemeines Wesen spannt. Was verraten Sie mir über Ihre Geschäfte? Ich weiß, Sie sind hier nur angestellt. Angenommen jedoch, Ihnen gehörte der Schuppen hier, was würden Sie mir verraten? Nichts. Aber die Bank weiß alles. Also logge ich mich bei der Bank ein und besuche Ihr Konto, dann weiß ich Bescheid. Ich weiß Bescheid und Sie wüssten, dass ich Bescheid weiß, vorausgesetzt, ich würde Ihnen so etwas andeuten, was selbstredend nicht geschieht. Ich könnte aber unter den Kunden Behauptungen über Ihre Geschäfte streuen und diese könnten, entsprechend verzerrt, an Ihr Ohr gelangen. Wie würden Sie reagieren? »Alles Quatsch!«

Quatsch, Lüge, Verleumdung: das wären Ihre Ausdrücke. Was würden Sie damit wirklich ausdrücken wollen? Beunruhigung. Sie wären beunruhigt, weil da ein Leck existiert, aus dem Informationen, die Ihr Geschäft ins Zwielicht rücken könnten, ins Publikum träufeln. ›Quatsch‹, ›Lüge‹, ›Verleumdung‹: mit diesem Mörtel wollen Sie das Leck stopfen – vergebliche Mühe, solange Sie es nicht kennen. Hätten Sie Zeit genug, Sie würden jeder einzelnen Information nachgehen und sie in den stärksten Ausdrücken dementieren. Leider, leider … würde Ihr Ansehen dabei Schaden nehmen. Also schnappen Sie sich eine von Ihnen mitfinanzierte Zeitung und lassen sie gnadenlos auf jede Person los, die es wagt, eine jener Informationen zu streuen. Wenn Sie gut drauf sind, schnappen Sie sich gleich ein paar von diesen Medien und lassen Dauerfeuer geben: auf jeden, der es wagen könnte – na Sie wissen schon.

15

Muss ich eigentlich jedem Schwadronierhansel auf den Leim gehen? Sie merken, die Frage zielt in alle Richtungen. Geht das Schwadronieren erst los, dann ist es bald an der Tagesordnung. Letztendlich bestimmt es die Tagesordnung. Es setzt fest, was zur Rede zugelassen wird und was nicht. Bliebe es bei der Rede, dann wäre es nicht der Rede wert. Natürlich bleibt es nicht bei der Rede, die Rede ist erst der Anfang, aber auch das stimmt nicht, sie ist das Alpha und das Omega. Gott ist Rede. Sobald die Rede sich verwirrt, verwirren sich die Verhältnisse, und wenn die Verhältnisse sich verwirren, dann herrscht Krieg. Sie glauben, der Arzt hätte mich zusammenschlagen lassen, weil ich mich weigerte, mir die Zähne ziehen zu lassen? Sehen Sie, das glauben Sie nicht. Das wäre zu unglaubwürdig. Ich glaube es genauso wenig. Allerdings habe ich Ihnen eine Information voraus, die Sie nicht haben können, es sei denn, Sie stecken mit dem Zahnarzt unter einer Decke, was ich natürlich nicht weiß, aber jederzeit herausbekommen kann. Der Arzt hat mir nämlich ein Geschäft vorgeschlagen, dessen Inhalt ich Ihnen vorenthalte, weil es unter die Patienten-Schweigepflicht fällt. Ganz recht, auch Patienten unterliegen einer gewissen Schweigemoral. Patientinnen wissen davon ein Lied zu singen. Das liegt an der Zweisamkeit, die Arzt und Patient miteinander teilen. Zweisamkeit ist das Elixier der Vertraulichkeit, Vertraulichkeit kann nicht existieren, wo kein Vertrauen herrscht, und Vertrauen herrscht dort, wo im Herzen Verschwiegenheit wohnt. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?

16

Wie schon erwähnt: Der Tropenarzt steckt hinter allem. Er soll sogar im kleinsten Kreis gedroht haben, er werde den Kikeriki zum Seuchengebiet erklären lassen, nur für den Fall, das Unternehmen käme nicht allmählich in Gang. Er ist ein gefährlicher Mann, dieser Tropenarzt, kurz entschlossen, diskret und verwegen in seinen Entschlüssen. Hinter ihm steht, was hier kaum einer weiß, ein Konsortium, dessen Umrisse auch ich kaum erahne. Welches Unternehmen, werden Sie fragen, wovon redet der Mann? In meinen Unterlagen steht: Unternehmen B. Ich nehme nicht an, dass B ›Briefkasten‹ heißt. Vielleicht steckt dahinter der Spruch ›Wer A sagt, muss auch B sagen‹, einleuchten würde es, weil Unternehmen B, ich erwähne es unter Vorbehalt, auf Erpressung beruht. Woher ich das weiß? Der Zahnarzt hat mir die Sache erklärt. Was er nicht wusste, war der Umstand, dass ich bereits im Bilde war. Er erzählte auch nicht die volle Wahrheit. Doch wer kennt hierzulande schon die volle Wahrheit? Wie gesagt, seit ich angefangen habe, mich mit unserer Einwohnerschaft zu beschäftigen, ist mir aufgegangen, wovon es da unter der Oberfläche wimmelt. Ob ich schockiert war? Feilen Sie, feilen Sie. Sagen wir, seither fühle ich mich angekommen.

17

Eine Bannmeile ist eine Bannmeile, aber ein Seuchenherd ist etwas völlig anderes. Das weiß auch der Bürgermeister. Er ist nicht auf den Kopf gefallen, der Gute. Er hat zwar pariert, aber der Gedanke scheint nicht mehr aus seinem Kopf herausgegangen zu sein, er muss Metastasen gebildet haben, die bis in die Zehenspitzen hinein reichen, anders lässt sein Verhalten sich nicht erklären. Statt die Erpressung mit Stillschweigen zu übergehen, hat er seine Umgebung peu à peu mit dieser Seuchengeschichte vergiftet, bis es endlich den Anschein bekam, als sei sie bei ihm völlig zur fixen Idee geworden. Ausschließen lässt sich das nicht, er gilt als impressionable. Aber das ist vielleicht nur den Erfordernissen des Amtes geschuldet.

Wie dem auch sei … eine Reihe von Bürohengsten, letztes Jahr noch mit der Erstellung von Gutachten zur Abwehr von Meteoriteneinschlägen ausgelastet, befasst sich neuerdings mit den Arkana der Seuchenprävention, soll heißen, sie steht, natürlich vermittelt durch den Tropenarzt, mit allen möglichen Instituten in Verbindung und lässt sich Schriftsätze unterjubeln, um sie anschließend als die eigenen auszugeben. Ich weiß das zufällig, weil eine Cousine von mir in der Branche arbeitet. Sie haben da einen Plan ausgekocht, vergessen Sie’s, er ist wirr, ein paar Freaks unter den Direktoren wollen die ganze Gegend hier durchimpfen, es soll dafür extra ein neuer Impfstoff entwickelt werden, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Da oben auf dem Kikeriki wollen sie das Super-Labor aus der Tüte zaubern, unter allerallerstrengster Geheimhaltung, versteht sich. Wie gesagt, der Plan ist eine einzige Narretei, vergessen Sie, was Sie gerade gehört haben. Es bedeutet nichts. Glauben Sie mir, der Bürgermeister ist wahnsinnig, ich weiß es aus erster Hand. Aber er hat schon verstanden, dass den Menschen, solange die Religion sich nicht einmischt, nichts so sehr am Herzen liegt wie ihre Gesundheit. Deshalb will er unbedingt auch die Kirchen in seinen Plan einbinden und ich muss sagen, er macht Fortschritte. Aber kommen wir zurück auf des Pudels Kern.

Unternehmen B, ich verrate Ihnen hier ein erstklassiges Geheimnis, ist ein Projekt von ungeheuren Ausmaßen, eine Welt-Bombe sozusagen. Was in diesem Kaff vor sich geht, ist kaum ein Ausläufer, höchstens der Ausläufer eines Ausläufers, aber wie der Prediger sagt, ohne Darm geht der Hund nicht scheißen, und so kommt gelegentlich alles auf dieses Darmstück an. Ich bin mir nur nicht sicher, ob der Bürgermeister die Sache im Detail verstanden hat. Er planscht so verdächtig in dem Wortmaterial herum, das man ihm zur Verfügung gestellt hat. Andererseits: Was soll er falsch machen? Im Grunde ist es besser, er weiß nicht allzu viel. Wissen ist kontraproduktiv, wenn der Kopf nicht dazu passt.

18

Es wird Zeit, dass ich Ihnen meine Quelle vorstelle, meinen Maulwurf gewissermaßen. Denn Unternehmen B oder ›U.B.‹, wie Eingeweihte es nennen, verfügt zwar über ein pompöses Portal, aber an die wirklichen Informationen gelangen Sie nur über rückwärtige Zugänge. Wenn Sie mich fragen: das Ding ist ziemlich kryptisch organisiert, mit Schwellen und Filtern, um das Vorankommen zu erschweren, false paths und allerlei Scheinsymmetrien, die praktisch jeden Ansatz zur Orientierung hintertreiben, jedenfalls für Unkundige. Ich habe mir sagen lassen, selbst die Vorstandsmitglieder wüssten nicht immer genau, was da unter ihrer Ägide getrieben wird. Meine Bekannte behauptet sogar, gerade sie wüssten am wenigsten von allen, weil sie streng nach IQ ausgewählt würden. Damit will man höheren Orts sicherstellen, dass von ihnen keine Gefahr für das Projekt ausgeht. Meine Bekannte, Sie merken es, führt eine scharfe Zunge. Sie beurteilt jeden, der ihr unter die Pupille kommt, nach seinem IQ und dafür hat sie wahrlich keinen Test nötig, wie ich oft genug feststellen konnte. Der schlagende Beweis bin natürlich ich, aber das muss ich Ihnen nicht extra ausführen. Berta – ich nenne sie Berta, das ist zwar nicht ihr Klarname, aber, sagen wir, ein grober Näherungswert –, Berta verrät mir alles, sie verrät es mir ungefragt. Zwischen uns herrscht dieses unbegrenzte Vertrauensverhältnis, wie es sich nur zwischen geistig hochstehenden Menschen ausbildet, und sie beherrscht wirklich alles. Ich weiß nicht, ob ihre Oberen sie wahrnehmen, ob ihre Intelligenz überhaupt zureicht, um sie wahrzunehmen … vermutlich kennen sie Berta, ohne zu wissen, wen sie da vor sich haben. Alles ist möglich, alles ist wahrscheinlich… Aber ob es die Wahrheit ist? Da müssen Sie schon die Wahrheit selbst fragen, dieses wandelbare, sich im Nu jeden Schleier zueignende Wesen.

Sie merken schon, für mich heißt die Wahrheit Berta. Interessiert Sie das? Sie lassen in Ihrer Tätigkeit nach, das ist nicht gut fürs Vorankommen, hören Sie? Machen Sie ruhig weiter, vielleicht können Sie noch etwas lernen. Ich weiß nicht, ob zwischen Berta und mir voller Austausch herrscht – wenn ich ›voller Austausch‹ sage, dann meine ich voll –, mag sein, sie enthält auch meiner Wenigkeit etwas vor, während sie mir die Illusion des Alles oder Nichts vorgaukelt. Vielleicht verrät sie mir auch Dinge, von denen ich nichts verstehe und die mir deswegen durch die Lappen gehen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie mich für dumm hält. Aber sollte das der Fall sein, dann wäre sie eine exzellente Schauspielerin. Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen, dafür ist sie meines Erachtens zu klug. Ein kluger Kopf merkt, wen er vor sich hat.

In ihrer Welt ist Berta, was ich in meiner bin: ein Fremdkörper, gut integriert, von enormer Sichtbarkeit und dabei so gut wie nie im Getriebe auszumachen. »U.B.«, hat sie mir einmal gesagt, »ist wirklicher als ich selbst.« Das war, als ich Zweifel anmeldete, ob U.B. überhaupt existiert. »Wart’s ab«, waren ihre Worte, »wart’s nur ab.« Was soll ich abwarten? Das Leben ist ein Wartesaal, da ergibt sich das Abwarten quasi von selbst. Berta jedenfalls ist überzeugt davon, dass auf dem Kikeriki etwas geschieht, wovon die Menschheit erst in fünfzig Jahren die ersten angemessenen Begriffe ausbilden wird. »Moment mal«, werfe ich ein, »das kannst du dann doch selber erst in fünfzig Jahren beurteilen.« Wissen Sie, was ›maliziös‹ heißt? Ja? Dann lassen Sie mich fortfahren. An ihrem maliziösen Lächeln merke ich jedesmal, dass ich mich vergaloppiert habe. »Ich sprach von der Menschheit, Schluffi« – so nennt sie mich hin und wieder –, »nicht von uns, die wir über diesen Dingen stehen. Aber du hast recht, selbst wir…« An dieser Stelle entstand eine Pause zwischen uns, wie sie manchmal zwischen Menschen entsteht, die einander sehr nahe stehen. In einer solchen Pause habe auch ich U.B. begriffen.

19

Jetzt sind Sie neugierig. Gleichzeitig misstrauen Sie mir, halb und halb fühlen Sie sich geleimt. Wäre ich nicht Ihr treuer Kunde, hielten Sie mich für einen Gimpelfänger. So halten Sie sich fürs erste mit Ihrem Urteil zurück. Natürlich haben Sie noch nie etwas von U.B. gehört. Wissen Sie, dass die Japaner in Nanjing dreihunderttausend Chinesen ermordet haben? Schauen Sie nicht so erschreckt, das ist schon ein paar Jährchen her. Ich wollte damit nur sagen … jetzt sind Sie beleidigt. Wahrscheinlich wäre ich es an Ihrer Stelle auch. Frieden? Abgemacht!

Wenn U.B. auf Erpressung beruht, wie der Zahnarzt annimmt, dann deshalb, weil es Erpresser anzieht. Berta hat mir das einmal so erklärt: »Stell dir vor, du würdest eine Weltregierung einsetzen – ich weiß, du bist viel zu gescheit, um dir einen solchen Fehltritt zu leisten, aber einmal angenommen, dich würde die Laune überkommen, es trotz alledem zu versuchen –, was sollte diese Leute, die sich dann Regierung nennen, daran hindern, die schlimmsten Verbrechen zu begehen? Die Gesetze? So sagt man. Wer macht die Gesetze? Der Gesetzgeber. Wer ist der Gesetzgeber? Das Parlament. Wer sagt das? Die Gesetze. Wer sorgt für die Einhaltung der Gesetze? Die Justiz? Im Prinzip, ja. Aber in der Realität?

Wer die Macht hat, hat das Recht,
und wer das Recht hat, beugt es auch…

Schwant dir etwas? Das wirkliche Risiko, dem Regierungen ausgesetzt sind, kommt entweder von außen oder von unten. Eliminiere das Außen und die einzige Gefahr kommt von unten. Aber das Unten existiert dann nicht länger, es ist die Welt. Wogegen sollte die Welt sich wehren? Wenn kein Außen mehr existiert, gegen das man sich gemeinsam wappnen muss, was bedeutet dann Widerstand? Absolute Regierungen kennen nur eine Form der Opposition: die Abspaltung. Unter den Bedingungen des Weltstaats ist Widerstand Spaltung. Ich garantiere dir: auf das Signal verstehen sich alle. Staaten, mein lieber Schluffi, garantieren sich ihre Existenz gegenseitig. Fällt der andere weg, dann wird alles ein Spiel und dieses Spiel beruht auf Erpressung.«

»Warum?«

»Naja, mag sein, Erpressung ist nicht ganz das richtige Wort, aber es folgt exakt ihren Regeln. Erst einmal folgt die Welt ihren Führern nicht. Sie lässt es bloß so aussehen. Das ist viel, wie uns die Praktiken der Mafia lehren. Die Weltregierung, jedenfalls ihr sichtbarer Teil, wahrt den Schein. Das ist ihre Aufgabe und damit ist sie vollständig ausgelastet. Der Rest erledigt das, wozu ihn die Umstände zwingen. Die oberen IQs zwingen die Umstände, sie nötigen sie, herauszurücken, was drin ist. Das sind die Hechte im Karpfenteich. So ein Staat existiert und er existiert nicht. Er existiert als Getriebe, wenn du verstehst, was ich meine. Aber um zu existieren, braucht ein Staat eine Idee. Frage mich nicht, warum. Irgendwann kommt die Stunde, da ist selbst Hanswurst das Kasperletheater leid und will, wenigstens einmal im Leben, ins echte Theater. Ohne Idee geht jeder Staat früher oder später zu Grunde. Was ist die Idee des Weltstaats? Frieden. Was brauchst du, um Frieden zu schließen? Exakt. Du brauchst mindestens zwei Parteien. Selbst die UNO, diese Krake ohne Land, verfügt über eine Feindstaatenklausel. Sie will aber keinen Frieden, sie vermittelt nur, sie mästet sich an den Konflikten, sonst stünde sie mager da.«

20

Ich finde es immer aufs Neue spannend, mit welch sparsamen Mitteln Berta meine Intelligenz herausfordert. Eigentlich hält sie es mit mir so wie ich mit meiner Nachbarin. Sie sehen, nicht immer hat das Geschlecht das letzte Wort. Eigentlich hat es gar keine eigenen, es nimmt sich nur alle Wörter, nach denen ihm gerade der Sinn steht. Natürlich weiß Berta, woran sie bei mir ist. »Du mit deinem Weltstaat«, sage ich ihr, »erzähl das dem Nikolaus, ich weiß, dass du von U.B. sprichst, also sprechen wir von U.B.« Sie schnipst mit dem Finger. »Psst. Denkst du, wir beide sind nicht U.B.? Ich sowieso, aber du nicht minder. Dein Anzug: Was meinst du, in welchen Labors wurde dieser Zwirn entwickelt? Und wie siehst du aus ohne Anzug? Ziemlich nackt, will mir scheinen. Trotzdem willst du auch dann noch essen, trainieren, duschen, durch die Gegend fahren, auf irgendwelchen bescheuerten Weltmeeren kreuzen, dich auf Matratzen voller sonderbarer Eigenschaften in den Schlaf wälzen. Das alles ist im Prinzip U.B. Ob es faktisch U.B. ist, wer will das wissen? Vergiss die Weltregierung. U.B. folgt einer Idee.«

21

An dieser Stelle verwirrte sich ihre Rede ein wenig und wir kamen vom Thema ab. Nein, das stimmt nicht. U.B. ist unser Thema zu jeder Tages- und Nachtzeit, du darfst kein anderes Thema neben ihm haben, jedenfalls nicht mit Berta. Überhaupt habe ich bemerkt, dass Frauen, erst einmal im Betrieb angekommen, mit ihm verheiratet sind und nicht mehr von ihm lassen können. Aber das ist vielleicht eine perspektivische Täuschung. Lieben Sie Ihren Beruf? Wollen Sie das hier noch missen? Sind Sie sicher? Na meinetwegen. Diese ganzen Weltverschwörungstheorien, wie halten Sie es damit aus? Ich meine, eigentlich müsste Ihnen doch der Kopf rauschen. Und die Leute… Am schlimmsten stelle ich mir all die Männer vor, die hier Tag für Tag hereinrauschen, einer gewinnender als der andere, einer spöttischer als der andere: »Was glauben Sie…? Glauben Sie nicht…? Glauben Sie vielleicht doch…?« Mir müssen Sie nichts glauben. Ich sage Ihnen, wie es ist. Ob Sie mir glauben oder nicht, es ändert doch kein Fitzelchen an der Wirklichkeit.

Wenn ich Ihnen sage, der Bürgermeister zieht uns über den Tisch, dann ist das so, und wenn ich Ihnen sage, der Bürgermeister wird von denen da über den Tisch gezogen, dann ist das so. So ist das. Sie können auch, wenn Sie gleich vor die Tür gehen, in eine Schießerei verwickelt werden. Das ist ganz normal. Aber wenn ich mir jetzt schlau über den Bart streiche und andeute, dass da draußen Leute mit Waffen unterwegs sind, Waffen, die jederzeit gegen einen von uns losgehen können, dann ist das eine Verschwörungstheorie. Warum das so ist? Ich kann es Ihnen nicht sagen, es ist eben so. Vieles ist eben so. Wenn der Bürgermeister erklärt, der Weg auf den Kikeriki sei unpassierbar und wir alle müssten uns einschränken, bis der neue Lift auf den Gipfel verfügbar sei, dann ist das eben so. Der neue Lift, das erfahren wir aus seiner Rede, ist noch nicht verfügbar, es wird nur mit Hochdruck an ihm gebaut. Das sind Fakten, gegen die man schwer etwas vorbringen kann. Es sind Fakten, die unser aller Leben in alle Zukunft verändern. Das ist natürlich richtig, aber ich frage doch: Was schert uns der Kikeriki? Jede Gemeinde draußen im Lande besitzt ihren Kikeriki, das geht in die Tausende und es schert keinen. Warum also dieses Theater? Wer verdient eigentlich an diesem Theater?

Da sehen Sie es: Sie dürfen alles in Frage stellen. Aber sobald diese drei Wörter ›Wer verdient eigentlich‹ erklingen, dann… Es ist ja nicht so, dass die Schläger da draußen dem Zahnarzt aus der Hand fressen. Sie gehen auch auf ihn los, wenn’s sein muss. Irgendeiner bezahlt immer und es soll vorkommen, dass sie auch ohne fremde Anleitung wissen, wo der Feind steht und in welchen Passagen man ihn zu fassen bekommt. Werfen Sie einen Blick auf die vollgeschmierten Fassaden: Kennen Sie sich da noch aus? Begreifen Sie auf Anhieb, was davon Opfermarkierung ist und was daraus für die Betroffenen folgt? »ACAB«, das kennen Sie. Aber sonst? Das würde mich wundern. Sie schlendern durch eine Stadt, erfüllt von Zeichen, die Ihnen nichts vermitteln außer dem Gefühl, sich in einem städtischen Umfeld zu bewegen, einerseits ein gutes, andererseits ein beunruhigendes Gefühl, weil man nicht recht weiß, was man davon halten soll und was noch alles mit einem geschehen kann – ich weiß, Sie schlendern nicht, ich habe Sie beobachtet, Sie legen Ihre Wege zügig zurück, aber es bleiben doch Wege und es springt einen mancherlei dabei an. Ihre Welt hat Feinde, das wissen Sie. Aber diese Feinde, das wissen Sie auch, sind ein Bestandteil dieser Welt, sogar ein bevorzugter, denn sie genießen Beachtung und die Hälfte der Bevölkerung denkt: Sie haben doch recht. Und wenn nicht: Scheiß drauf!

Die Hälfte, womöglich zwei Drittel oder drei Viertel der Bevölkerung: darauf kommt es dann auch nicht mehr an. Das sind Leute, die wegsehen, wenn man Sie auf der Straße zusammentritt. Es sind dieselben Leute, die schon die Finger am Smartphone haben, um die Nummer der Polizei wählen, sobald Sie sich dem Sperrbezirk nähern, vor dessen Betreten an allen Ecken und Enden gewarnt wird, ohne dass irgendeiner der Angeherrschten die Warnungen dechiffrieren könnte. Denn in Wirklichkeit sind die Phrasen, die da tagtäglich auf uns einhageln, Chiffren – Geheimbotschaften für Investoren und ihre … ich weiß schon, was Sie denken, daher lasse ich den Satz unvollendet. Sind wir nicht alle Unvollendete? Mich zum Beispiel könnten Sie mit Ihrem Werkzeug da in Streifen schneiden und immer noch einen drauflegen, hoch wie der Turm zu Babel, ich käme nicht einmal mehr zur Tür hinaus und bliebe doch unvollendet. Mit Ihnen wäre das natürlich etwas anderes.


22

Wissen Sie, ich wäre so gern Philosoph geworden. Philosophen erklären die Welt, jedenfalls erklärt sich die Welt damit das Dasein der Philosophen, doch in Wirklichkeit erklären sie nichts, denn es gibt nichts zu erklären. Das Zentrum der Welt ist leer, sagen diese Leute. Aber das ist nicht wahr. Im Zentrum der Welt steht die Erklärungsnot. Jedermann will, dass ihm einer die Welt erklärt, und die Erklärer stehen mit leeren Händen da. Das heißt ja nicht, dass einer nicht etwas herausbekäme, aber am Ende versteht man nur, dass die Reichen die Reichen sind und das ist, auf die Länge der Evolution gerechnet, etwas mager. Wenn Sie mich fragen: Die Welt ist ein Kreuzworträtsel und die meisten sind glücklich, wenn sie überall ›die Reichen‹ eintragen können und es passt schon.

Sind Sie glücklich? Ich meine, mit Leib und Seele? Die Seele spielt eine gewisse Rolle dabei, obwohl sie oft überschätzt wird. Darf ich Sie seelenvoll nennen oder brechen Sie dann die Behandlung ab? Meine Seele besteht zur Hälfte aus Gerümpel. Das meiste davon ist Familienzeug, das geht niemanden etwas an. Aber es sind auch sperrige Dinge dabei, zum Beispiel meine fatale Vorliebe für den Buchstaben T. Ein Doppelgalgen, das ist schon etwas. T wie toxisch. T wie Trump. Erinnern Sie sich an Trump? Nein? In welcher Welt leben Sie? Auf dem Theater, da tragen die toten Täter Talg aufs tragische Antlitz des Wirklichen auf, bevor es auflodert und verbrennt. Ach, Sie verstehen mich nicht. Das gilt übrigens auch für Berta. Selbst meine Nachbarin, der ich vieles zu verstehen gebe, versteht mich von Begegnung zu Begegnung weniger. Dabei begegne ich ihr jedesmal mit dem Quäntchen Reserve, das den Gentleman auszeichnet.

Mir ist kalt. Mir ist grausam kalt, genau gesagt, die Grausamkeit schließt die anderen Dinge nicht aus, sie ist mehr ein Katalysator für die Empfänglichkeit, vor allem, was Verletzungen angeht. Im Grunde war der Straßen-Pöbler von vorhin, dem ich wahrscheinlich morgen oder in drei Wochen aufs Neue begegnen werde, nur eine Gestalt des Leibhaftigen, sozusagen der Leibhaftige in Leibsgestalt, während es sonst lauter Schemen sind, die mich nötigen wollen, irgendwo hineinzugehen. Wenn es nur so wäre. In Wirklichkeit drücken sie jeden hinein. Es geht ihnen nur um jeden, nicht ein einziges Mal um alle, geschweige denn um Sie oder mich. Wer das einmal verstanden hat, der ist schon weiter. Nicht alle sind jeder und jeder ist nicht alle. Das klingt ein bisschen verschnörkelt, fast wie ein Syllogismus, aber wer es einmal verstanden hat, der … wie soll ich es ausdrücken … erkennt den Eiter der Welt. Ihnen muss ich das nicht erklären, es gehört zu Ihrem Aufgabengebiet, mit so etwas fertigzuwerden, deshalb habe ich diese Formulierung gewählt. Sehen Sie, jeder ist eben jeder, der mitmacht, oder es ist jeder, der nicht mitmacht. Die Guten ins Töpfchen, die Bösen ins Kröpfchen, auch wenn der Hals davon schwillt. Das klingt, als seien am Ende doch wieder alle erfasst, aber das scheint nur so. Wenn Sie einer sind, der mitmacht, dann sind Sie einer aus der Menge derer, die mitmachen, Sie machen etwas mit, was alle anderen auch mitmachen, Sie sind im Mitmachen eins. Jetzt blicken Sie auf jene, die nicht mitmachen, und was erkennen Sie da? Lauter Negatives. Die Leute machen einfach nicht mit. Traurig, aber wahr: Sie verweigern sich dem Mitmachen. Wollen wir sie nicht ein bisschen dafür bestrafen? Nur so kräftig, dass sie am eigenen Leib spüren, welche Vorteile das Mitmachen bringt? Vielleicht machen sie dann ja doch mit und die Stockung ist beseitigt. Und wenn nicht: Dann wird es langsam Zeit, andere Saiten aufzuziehen. Darüber wollen wir gehörig nachdenken, wenn es soweit ist. Wer sich aber dem Mitmachen wie dem Nichtmitmachen verweigert, verweigert sich der überhaupt? Offensichtlich nicht. Er geht einfach nicht hinein, das ist alles. Und damit ist er draußen.

Sind Sie ein Automat? Ich frage Sie, weil es hätte sein können, man liest so viel darüber in den Zeitungen, die eigentlich keine mehr sind, sondern … da fällt mir das schöne Wort ›Pressbengel‹ ein, kannten Sie das? Mit dem Pressbengel klemmt der Buchbinder die Seiten eines im Entstehen begriffenen Buches zusammen. Solche Pressbengel finden Sie überall. Sie pressen, aber meistens kommt nichts dabei heraus. Wären Sie ein Automat, könnte ich Sie ins Café einladen, falls der Bürgermeister in seiner übergroßen Güte uns das erlaubt, nur zu Testzwecken. Aber da Sie KI-frei zu sein scheinen – Schwamm drüber. Ich sage immer, künstliche Intelligenz wird überschätzt, so wie die Intelligenz der Leute in der Regel überschätzt wird, erst bei den wirklich Intelligenten kehrt sich das schlagartig um. Nehmen wir Berta, die ich sehr schätze: Sie liebt es, drin zu sein und meine Wenigkeit nicht. Denn so kann sie mir erzählen, wie es drinnen zugeht und wofür U.B. alles steht. Natürlich begeht sie damit Verrat an der Firma und wenn es herauskommt, ist sie geliefert. Ich erzähle das hier so entspannt, aber in Wirklichkeit läuft es mir kalt den Rücken herunter, sooft ich dran denke. Wir leben zwar vorerst, wie man so sagt, in soliden rechtsstaatlichen Verhältnissen, dem Gesetz nach könnte ihr nicht viel passieren, weder ist sie ein feindliches U-Boot noch bin ich der Feind, doch lehren Sie mich die Menschen kennen, mit denen sie es im Ernstfall zu tun bekäme –

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Der Ernstfall, der berühmte Ernstfall … wir haben ihn längst, den Ernstfall, wir wussten bloß nie, wie er aussehen würde, dieser Ernstfall, und wie er allmählich aus den gewohnten Verhältnissen herauskriechen würde. Hätten Sie gedacht, man könnte, wie unser Bürgermeister das, quasi mit einem Federstrich, über Nacht verfügt hat, ein Drittel der Stadtbewohner ghettoisieren und die restlichen zwei Drittel lebten weiter vor sich hin, als sei nichts geschehen? Nein. Und doch ist es geschehen. Und es geschieht weiter. Meine intellektuellen Freunde, der Lehrer, der Pfarrer, der Schuster, der Büdchenbesitzer an der Ecke, sie alle haben den Verkehr mit mir eingestellt, seit ich im Gespräch mit ihnen das Thema aufwarf, und wechseln jetzt unauffällig die Straßenseite. Ein paar junge Leute sind hingegangen und haben groß das Wort ›Ghetto‹ an eine Wand gesprüht. Sie wissen, wie den Armen mitgespielt wurde, ich sehe es an Ihren Augen, aber Sie wollen nicht, dass an diesem Ort darüber gesprochen wird. Sie haben das Hausrecht auf Ihrer Seite, ich respektiere das. Wer heute auf einem dieser Netz-Foren, auf denen gestern noch die Fetzen flogen, das Wort ›Ghetto‹ benützt, der verschwindet einfach, seine Seite wird gelöscht. Wenn er genügend Gefolgschaft gesammelt hatte und deshalb nicht einfach von heute auf morgen vergessen wird, gibt’s einen saftigen Eintrag im Lexikon der guten Sitten und bösen Buben, mit dem er gut beraten ist abzu– … was haben Sie denn? Sagen Sie ganz schnell, was haben Sie denn?

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Ich habe mich, nicht erst die letzten Tage, gefragt: Wie lebt es sich drüben im Ghetto, das keines sein darf? Nein, ich war nicht drüben, ich bin ein loyaler Bürger, ich respektiere die Verordnungen. Ich habe, fragen Sie mich nicht, auf welchen Wegen, eine kleine Korrespondenz angefangen – Schreiben macht frei, sehen Sie, das kommt Ihnen gleich bekannt vor. Ich könnte auch sagen, wer schreibt, der sündigt nicht, aber so liegen die Dinge nicht, gerade so liegen sie nicht. Nirgendwo liegt die Sünde so obenauf wie in der Schrift. Mein Anonymus – belassen wir es bei diesem Ausdruck, fragen Sie mich nicht! – zeigte sich erst verwundert, danach befremdet und schließlich ausgesprochen feindselig, als ich mich nach seiner ›Lage‹ erkundigte. »Was meinen Sie mit Lage? Was soll das sein? Wie kommen Sie darauf, dass ich mich in irgendeiner Lage befinde?« Hand aufs Herz: Was würden Sie darauf antworten? Eigentlich kann man auf solche Sätze nichts antworten außer: »Was hat Sie so verhetzt?« Dann lässt der andere vielleicht die Hunde los und man muss sich schleunigst in Sicherheit bringen. Gut, dass es das Ghetto gibt, da befindet man schon einmal außerhalb der Gefahrenzone. Der moderne Ghettobewohner, das lernte ich bei dieser Gelegenheit, um es hoffentlich nie wieder zu vergessen, legt größten Wert auf die Feststellung, dass er frei sei.

Sie machen Ihre Arbeit wirklich gut. Langsam erwachen meine Füße aus dem Koma der letzten Tage. Das ist prima. Beim letzten Besuch haben Sie mich unterhalten, heute war ich dran. Als Erwachsene sind wir das einander doch schuldig. Was ich damit ausdrücken will: Vertrauen kann man auch, ohne dass man vertraut. Das hört sich zwar paradox an, aber es entspricht den Realitäten. Ich weiß nicht, ob mir mein Anonymus mittlerweile vertraut. Ich finde ihn auf eine gemütliche Art bissig, als würfe er mir etwas vor, wolle aber nicht weiter darauf insistieren. Dabei insistiert er unentwegt. Zum Beispiel scheint er die fixe Vorstellung zu hegen, ›bei uns‹, wie er sich ausdrückt, herrsche ein unsauberer Geist: erst dadurch werde alles so schlimm, wie es ist. Natürlich bitte ich ihn – quasi im automatisierten Gegenzug, denn in Wirklichkeit höre ich bereits weg –, Ross und Reiter zu nennen, wie man so sagt. Ross und Reiter. Hübsch, nicht? Wie sich die Sprachbilder doch erhalten. Dieses hier haben uns die Romantiker mit ihren Rittergeschichten in die Wiege gelegt. Das Ross heißt Rosamunde und der Reiter Oswald. Kennen Sie Ritter Oswald noch? Nein? Damals waren Sie ein Kind, Sie Glückliche. Fragen Sie ruhig einen der Alten, die bei Ihnen hereinschneien, nach Oswald. Passen Sie auf: erst kommt ein Grinsen und irgendwann … unweigerlich … dieses »Das war doch der ––?« Wer sonst. Und wen hat mein Anonymus auf den Lippen? Die Freimaurer, die Atheisten, die Zeugen Jovis’, die Somnambulisten.Da schläft einem doch das Kinn ein. Erst wollte ich es gar nicht glauben, alle sind da. Fehlt nur der Junker Woland mit Bockfuß und rotem Schweif.

Ich kann ihn ja verstehen: von uns Zweien bin ich der Privilegierte. Soll er sich doch auskotzen – aber nicht so. Und bliebe er nur dabei stehen! Gewöhnlich fängt er an, einen munteren Rosenkranz von Namen herzubeten, lauter eifrige junge Leute, die hier gegen die Sperrzone auf die Straße gehen und sich für ihren couragierten Einsatz von den Lakaien des Bürgermeisters verhöhnen lassen. Das sind seine Schuldigen. Er ist schließlich nicht von gestern. Er weiß alles. Erkundige ich mich nach seiner Lage, bekomme ich zur Antwort, seine Lage sei bestens und er betrachte meine Frage als Angriff auf seine Menschenwürde. Dabei weiß ich längst, dass sein Geschäft zusammengebrochen ist, weil ihn ein Nachbar denunziert hat, dass seine Frau mit Panik-Attacken im Bett sitzt und aus Angst vor dem da draußen die Wohnung nicht mehr verlässt, dass der zehnjährige Sohn erst gestern versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, weil der Planet, wie er sich ausdrückte, ausgeschissen habe, dass die beklagenswerte Alzheimer-Mutter keinen Besuch mehr empfangen darf … und so weiter und so fort. Das sind so Petitessen, die man als abendländischer Mensch nicht der Rede wert findet. Doch mit nichts als Schiss vor dem Unbekannten in einem ansonsten verdächtig leergeräumten Gehirn durch die Gegend laufen, weil der Magistrat es empfiehlt, und darüber zum Angstbeißer mutieren – das ist reputierlich, das hält sich für die Verantwortung selbst. Aber lassen wir das.

Wissen Sie, was ich langsam denke? Richte eine Panikzone ein und die Menschen strömen hinein. Ich habe noch immer nicht verstanden, warum das so ist, aber ich mache Fortschritte. Dort drüben haben sich zwei Fraktionen gebildet, nennen wir sie die Vernünftigen und die Unvernünftigen, das kommt natürlich auf den jeweiligen Standpunkt, fast hätte ich gesagt: auf den Klassenstandpunkt an. Offenbar sind sie, da ihnen, außer Unterstützung zu beantragen und um Schuldenstundung zu betteln, nicht viel zu tun bleibt, dazu übergegangen, den lieben langen Tag Farbe zu bekennen. Bekennen Sie auch manchmal Farbe? Ich meine jetzt nicht beim Makeup, das steht Ihnen gut. Auch auf unserer Seite ist das Farbebekennen schon eingerissen, wir sprachen vorhin davon. Aber ich versichere Ihnen, das ist nichts gegen das, was die da drüben so treiben. Die üblen Finger nennen es bereits wieder Haltung. Wissen Sie was? Wenn mich jemand anbrüllt, ich solle gefälligst Haltung annehmen, dann bin ich weg. Äußerlich, innerlich, was Sie wollen, aber ich bin weg. Wir sind hier nicht beim Militär. Die Wehrpflicht ist abgeschafft, die jungen Leute werden nicht mehr gedrillt und wonach verlangt der Pöbel: nach Drill. Das nur nebenbei.

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Gern hätte ich mich im Vorbeigehen mit seiner Frau unterhalten, bloß ein einziges Mal, allein schon aus Gerechtigkeitsgründen. Aber Anonymus weiß das geschickt zu verhindern. Sie hat mir jedoch, Lea heißt sie, völlig überraschend eine Mail geschickt, muss wohl unter Tabletten gestanden haben: »Leisten Sie unbedingt Folge – dulden Sie keine Widerworte – wir müssen hier alle sterben.« Weitersenden wollte ich das aus begreiflichen Gründen nicht. Aber Berta ließ ich es auf meinem Computer lesen, da hatte sie auch schon den Finger am Handy – und klick! Was macht man als übertölpelter Mann in so einer Situation? Man schluckt. Und was sagt die Frau, vor allem, wenn sie Berta heißt und für ihren Beruf über Leichen geht? »Komm, hab’ dich nicht so. Ich sammle Pathogramme. Das hier ist doch hübsch, oder?«

Selbstverteidigung ist ein weites Feld, auf dem sich eine Menge Geld einsammeln lässt. Man trainiert die Körper und behauptet, das stärke den Geist. Da mag was dran sein, aber die Geister, die auf diese Weise ins Dasein gerufen werden, erweisen sich in der Praxis als die größten Quälgeister. Wenn Sie mich fragen … Selbstverteidigung, also die Kunst, Schläge abzuwehren, setzt ein gewisses Grundwissen darüber voraus, woher die wirklichen Schläge kommen und worauf sie zielen. In was für einer Wirklichkeit leben Sie? Das ist die Mutter aller Fragen. Bevor die nicht beantwortet ist, wird das nichts mit der Selbstverteidigung. Schauen Sie, Berta zum Beispiel, die überaus kluge Berta glaubt, sie könne sich durchaus mit den Zielen von U.B. identifizieren. Aber wenn ich mich nach diesen Zielen erkundige, kommt außer dem allgemeinen Blabla über Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und die Vorteile der künstlichen Intelligenz nichts aus ihr heraus. Gerechtigkeit zum Beispiel ist gar kein Ziel, sondern eine Richtschnur für unser Handeln – gestern, heute, jederzeit, solange überhaupt Exemplare der Gattung Homo sapiens die Erde bevölkern. Und Nachhaltigkeit … ach Gott, Nachhaltigkeit verlangt von mir, um so viele Ecken zu sehen, dass mir davon schwindlig wird. Was ja nicht heißt, dass nicht vieles besser gemacht werden könnte. Der Einzelfall, verstehen Sie, der Einzelfall ist das, was der Fall ist, alles andere ist Einfall, der im Ernstfall zum Ausfall tendiert … hübsch gesagt, finden Sie nicht? Berta findet das nämlich ganz und gar nicht, sie gibt sich regelrecht beleidigt, wenn ich solche Sachen sage. Sie fühlt sich dann unterfordert und das verunsichert sie. Aber wenn der Ortsgeistliche, nachdem er sich mit dem Bürgermeister und dem Tropenarzt kurzgeschlossen hat, die Frohe Botschaft benützt, um eine Heidenangst unter seinen Schafen zu schüren, dann findet sie, das sei geniale PR.

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In welcher Wirklichkeit lebt Berta? Sie weiß, was vorgeht, sie weiß, was wirklich geschieht, aber ihre Rede hat keine Wirklichkeit, sie ist nichts weiter als Gischt, aufgewirbelt von einer Riesenkrake namens U.B., die sich anschickt, an Land zu steigen, um dieses Land und seine Leute zu übernehmen, wie man das heutzutage nennt, man verwendet ja auch keine Sturmgeschütze dazu, sondern die drei Affen Ahnungslosigkeit, Gedächtnislosigkeit und Rückgratlosigkeit, die überall die Straße für die künftigen Sieger freiräumen dürfen und dies auch freiwillig tun. Man gönnt sich ja sonst nichts. Berta und Lea… Wenn Sie mich fragen, das ist schon ein Paar. Die eine nimmt, die andere gibt. Welche jetzt gibt und welche nimmt, das herauszufinden ist mir bisher leider nicht möglich gewesen. Gemeinsam bilden sie so etwas wie das Kugellager des gegenwärtigen Fortschritts. Es kommt nicht auf diese beiden an, die Welt benötigt Tausende solcher Kugellager, um endlich voranzukommen. Auch der Zahnarzt will endlich vorankommen. Er hat mir einen neuen Termin aufs Auge gedrückt, da werde ich mich wohl hinbemühen. Mit dem Gebiss ist das wie mit den Füßen: Man muss sich drauf verlassen können. Wenn Sie jetzt das Handtuch noch wegnehmen … danke, das wäre doch nicht nötig gewesen. Heute ist nicht mein Tag, aber Sie haben ihn gerettet.