Ulrich Schödlbauer

6.

Unschätzbar ist, was niemals wiederkehrt. – In die klassische Heldenvita – Aufstieg und Niedergang, Triumph und Fall – wählt Casanova den Nebeneingang. Der Heros erscheint mit Verspätung, vielmehr, er ist bereits da, bevor er bemerkt wird, bevor er bemerkt werden kann – ein blödes Kind, das spät begreift, doch dann umso rascher, um binnen kurzem die Gleichaltrigen zu überflügeln, so, als müsste das Genie erst gestaut werden, bevor es mit Macht hervorbricht. Lapidar teilt der Biograph das Datum seiner zweiten, seiner geistigen Geburt mit: »Das Organ des Gedächtnisses entwickelte sich bei mir Anfang August 1733; ich war damals acht Jahre und vier Monate alt.« – Das »Organ des Gedächtnisses« gilt als der Ort des Begreifens – eine zweite, erhöhte Lebensbühne, auf der der Schauspieler zwischen Requisiten selbst Regie führt. Man ahnt unschwer die künftigen Hypertrophien dieses Organs, von denen sich die Eitelkeit des Schriftstellers nährt, seine letzte Potenz. Aus erinnerungslosem Dunkel tritt der kindische Genius übergangslos in die Taghelle des erinnernden Bewusstseins. Sogleich liefert er Proben einer umfassenden Denkkraft. Der gerade Neunjährige – es ist sein Geburtstag – macht eine Schiffsreise auf dem Brentakanal. Schlaftrunken erliegt er dem Wahn, die das Ufer säumenden Bäume seien über Nacht ins Laufen geraten. Von der Mutter darüber aufgeklärt, dass, ganz im Gegenteil, er sich mitsamt dem Schiff fortbewege, während die Bäume ruhig an ihrem Fleck verharrten, schließt er sofort, überraschend und per analogiam, dann sei es wohl möglich, »dass auch die Sonne sich nicht bewegt, vielmehr unsere Erde von Osten nach Westen rollt«: Nichts geringeres als die Kopernikanische Einsicht, den staunenden Erwachsenen – die in ihr, mit Ausnahme eines Poeten und »freien Geistes«, noch keineswegs zu Hause zu sein scheinen – aus dem Kindermund souffliert, vermag die Größe des Vorgangs zu illustrieren. Die Entdeckung gleichsam nachentdeckend, in der, als in ihrem Ursprung, sich die neuzeitliche Vernunft bespiegelt, entdeckt sich der neue Heros der Welt, der Memoirenschreiber der Nachwelt. Die Fackel der Vernunft wirft den Glanz magischer Illumination – ein alter Mann, versunken ins Zeremoniell des Gedenkens, als sei er der gewesen, von dem geschrieben steht, entwirft in seinen Gedächtnisübungen planmäßig den Helden der Epoche und überliefert ihn dem Gedächtnis der Menschheit.

 

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