Ulrich Schödlbauer

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Der Fremde zupfte ein Büschel Gras aus, ging hinüber ans Wasser und ließ es hineinplumpsen.

»Sehen Sie, es ist erst ein paar Jahre her, da hat man mich zu einem wissenschaftlichen Symposium eingeladen. Es gab nur wenige Gäste, in der Hauptsache einen weltberühmten, mittlerweile hochbetagten Altertumswissenschaftler samt Entourage, soll heißen, seiner ebenfalls recht bekannten Frau und einem befreundeten jüngeren Wissenschaftlerpaar, das ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte. Das Programm sah vor, dass jeder Gast einen Vortrag hielt und man sich ansonsten eine Woche lang dem freien Gedankenaustausch ergab. Das ist ein eher ungewöhnlicher Zeitplan und ungewöhnlich war auch der Ort unseres Zusammentreffens: ein kunstvoll angelegter Landschaftsgarten auf einer Kanarischen Insel hoch über dem Atlantik. In diesem Garten gab es, neben ein wenig Kunst, eine Reihe sorgfältig angelegter Begegnungsorte, an denen, so das Kalkül der Betreiber, der Genius loci die Gespräche intensivieren und die thematischen Horizonte entgrenzen sollte. Es gab, das sollte nicht verschwiegen werden, eine tüchtige Küche, die es an nichts fehlen ließ. Leider gab es auch, wie an solchen Orten wohl unvermeidlich, einen Manager, dessen Servilität gleich in den Beginn eine gewisse Missstimmigkeit hineintrug.

Den greisen Gelehrten kannte ich aus früheren Jahren. Irgendwann war ich Gast in seinem Hause gewesen und meine Begleiterin hatte seine Frau vor noch nicht allzu langer Zeit interviewt. Seltsamerweise schienen sich die beiden an nichts dergleichen zu erinnern. Ihr Unwille, sich mit uns zu befassen, war von der ersten Stunde an unübersehbar. Das wirkte befremdlich, da keine Animositäten zwischen den Parteien existierten. Wir brauchten einige Zeit, um das Geflecht für uns zu entwirren. Offenbar litt der alte Herr an beginnender Demenz und seine gesellschaftlich überaus ehrgeizige Gattin hatte einen dichten Kokon um ihn gesponnen, um dieses kleine Geheimnis so lange wie möglich vor der Welt zu verheimlichen. Dem zweiten Ehepaar fiel dabei der Part der unauffälligen Helfer zu. Es gehörte praktisch zur Familie und verständigte sich mit der alten Dame mittels kleinster Signale. Offenbar besagten einige davon, uns unauffällig aus dem Spiel zu halten. Sie werden sich ausmalen können, wie unter solchen Bedingungen das Symphilosophieren, immerhin Zweck unseres Aufenthaltes an diesem wahrlich zauberhaften Ort, vonstatten ging.

Parallel dazu ging etwas anderes vor. Meine Begleitung und ich wohnten an einem winzigen, spielerisch in die Landschaft gesetzten Patio, auf dem bereits in den Morgenstunden der volle Sonnenschein lag. Unglücklicherweise besaß unser Schlafraum eine rückwärtige Wand aus Fels, auf der sich unentwegt Feuchtigkeit sammelte, ohne dass eine Möglichkeit bestand, diesen Vorgang zu unterbinden. Es dauerte nur eine Nacht und ich litt unter hexenschussartigen Rückenschmerzen. Dazu machte sich die feuchte Meerluft bemerkbar – Sie hören, ich komme meinem Thema näher –, kurz und gut, ich sah mich binnen kürzester Zeit sowohl in meinem sozialen als auch in meinem physischen Komfort empfindlich eingeschränkt. Und wie die menschliche Natur so spielt, sollte es im Lauf der Woche zwischen den beiden Ebenen zu einer Reihe von Interferenzen kommen, die besser unterblieben wären.

Warum ich Ihnen das erzähle? Sehr einfach: Sie sehen die Ingredienzien, den Garten, der zum Gefängnis wird (denn es bestand keinerlei Möglichkeit, von der Insel vorzeitig abzureisen), die Gattin, die sich der in ihrem Kopf vielleicht übertrieben gemalten Autorität des Alten bediente, um sich und ihn droben und uns draußen zu halten, um diesen abgegriffenen Ausdruck zu benutzen, schließlich die fatale klimatische Besonderheit, die mir kurzerhand den Status eines Halbinvaliden bescherte. Aber wo ist die Brücke, höre ich Sie fragen, welche den Einbruch der Feuchtluft in Ihre Physis – denn um irgendeine Art des Einbruchs scheint es sich ja gehandelt zu haben – mit dem Kindheitsgarten verbindet? Sehen Sie, gerade das möchte ich Ihnen erklären. Wohlgemerkt erklären, denn zu erzählen gibt es da eigentlich nichts. Oder doch, wer weiß. Sehen Sie, jetzt, wo ich mit Ihnen spreche, schmecke ich wieder jene unverwechselbare Meerluft, sie überzieht Zunge und Gaumen wie mit … Gelatine und zeichnet für einen Teil jenes Grauens verantwortlich, das ich angesichts meines Zustandes empfinde – dieser eigentümlich ausweglosen Gefangenschaft im eigenen Körper. Das Inselerlebnis muss also doch einen massiven Verstärker darstellen, der die zweifellos vorhandenen älteren Impulse auf ein ganz neues Fundament stellte.«

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