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Die Realität, ein löchriges Sieb, dient dem Zweck, etwas zurückzuhalten.
Wer sich lange in Zurückhaltung übt, vergisst irgendwann, dass auch seine Motivation ursprünglich von außen kam. Er pflegt die Utopie der Enthemmung, er lehnt sie ab, er verabscheut sie, fürchtet sie – aber er träumt sie, Tag und Nacht, Nacht für Nacht, Tag um Tag, sie ist seine Monstranz, er ihr Priester, er schreibt ihr Wirkungen zu, die den erdnahen Raum der überlieferten Wunder wie Spontanheilungen, Jungfernzeugungen, Auf-dem-Wasser-Gehen, Brot-und-Wein-Vermehrung verlassen und sich zu einer Erfahrung jenseits aller Erfahrung verdichten, der einzigen, für die es sich im Grunde lohnt, zu leben und zu sterben, jedenfalls für Wesen, die irgendeinen Lohn in ihrem Dasein finden und sich nicht mit dem bloßen Vegetieren begnügen wollen. Ließe so ein Wesen die antrainierte Zurückhaltung fahren, es fände sich rascher, als ihm lieb wäre, und unvermuteter, als es sich vorstellen könnte, in jenem Sieb wieder – aufgefangen, wenn man so will, von einer Art Sicherungsnetz, aber auch gefangen, abgehalten von der Verfolgung seiner Ziele und Wünsche, ohne genau zu begreifen, wo der Widerstand liegt und wie ihm zu begegnen sei. Anstelle von Zielen erkennt er plötzlich Bilder ... Bilder von Menschen und Zuständen, die ihm einst nahegingen oder durch die er sich eingeengt fühlt, Bilder in allen Schattierungen der Undeutlichkeit, die ihm ohne Unterlass zuflüstern: Kümmere dich um uns, denn wir sind wirklich, wir waren wirklich und werden es sein, solange du nicht ins Gras beißt – womit du uns, wie du vielleicht weißt, hintergehst, denn wir sind so wirklich wie du. Was wird mit uns geschehen, wenn du zu existieren aufgehört haben wirst? Wir gehören dir nicht, wir folgen dir nicht ins Nirwana oder wohin du dich zu begeben wünschst, wir sind hier, wir gehören hierher, denn wir sind: die Realität. Hast du darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, wenn eine Realität brennt?
Fac ten Chek lag auf dem Bett und entspannte. Er hatte den Körper zur Seite gedreht, die Beine leicht angewinkelt, die Arme nach vorn gestreckt, atmete flach und sank von einem Spannungstableau aufs nächste. Die Tiefenatmung sprang an und setzte eine Flut unerwarteter Bildsequenzen in Gang, bekannter und unbekannter, grotesker und sanfter, dunkler und heller, scharf gezeichneter und sanft verfließender … es war nicht nötig, sie zu mustern, so wie sie waren, bildeten sie einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf die Welt, ein Innenaußen, bereit, im Fall der Fälle ihn zu verraten, an allen und jeden, der sich ihrer zu bedienen wusste … Täter und Opfer, Mittäter und Mitopfer, Nebentäter, Haupttäter, Täter hier, Opfer dort, Opfer hier, Täter dort, Opfer- und Tätergruppen, Ertrunkene, dem Ertrinken Nahe, reglos Treibende, Zuckende, Schreiende, Männer mit Sturmgewehren, Männer mit Rettungswesten, Bergen von Rettungswesten, gestapelt in dunklen Schuppen, aus fliegenden Helikoptern geworfen, leckgebohrte Schlauchboote, die sich in Zeitlupe zusammenfalteten und die australischen, europäischen, nordamerikanischen Träume afghanischer, angolanischer, somalischer, eritreischer, sudanesischer, nigerianinischer, kongolesischer, kolumbianischer, iranischer, syrischer, indonesischer, irakischer, pakistanischer, libanesischer, polynesischer Bauernsöhne und -töchter, Handwerker, Händler, Spieler, Drogensüchtiger, Dealer, Betrüger, Hochstapler, Arbeiter inexistenter Fabriken, Bettler, Kleinganoven, Klimaflüchtlinge, Glücksritter, Glaubenskrieger, Viehtreiber, führerscheinloser Taxifahrer, religiös fühlender und sorgsam verhüllter Gattinnen, Mütter, Ärztinnen, Schwangerer, Krankenschwestern, Näherinnen, Haupt- und Nebenfrauen, Bräute, Klofrauen, Nutten, Sekretärinnen, Studentinnen, Übersetzerinnen in die Tiefe zogen, hinter ihnen Granateneinschlag und Dürretod, beschauliche Kleinstadtruhe und der Schmutz endloser Slums, Polizeieinsätze und Hundestaffeln, Todesschwadronen, Drogenbarone, Befriedungsprogramme, Wohnungsbauprogramme, Einberufungen, Überfälle, Vergewaltigungen, Kinderehen, Kinderprostitution, die ganze Skala menschlicher Tätigkeiten, Bedürfnisse, Verirrungen, Abgründe und Banalitäten.