Stadt und Literatur

Mit Stadt und Literatur ist es so ’ne Sache, dass es unzählige Sachen zwischen Stadt und Literatur gibt. Unmengen verschiedenster Sachen. Seit eh und je, so gut wie von Anbeginn an, nehmen diese beiden genuin menschlichen Phänomene unentwegt und vielfach Beziehung zu- und Bezug aufeinander. Die Anziehungskraft zwischen den beiden ist von Anfang an enorm. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass das jeweils Andere auf die Welt kommt, um sich neu- und begierig darauf zu stürzen, als wäre das eine von Anbeginn an, hoch im Himmel beschlossene Beziehung, die unbedingt zustande kommen musste. (So etwas wie eine göttlich beschlossene Kinderehe, die entschieden wird, noch lange bevor die künftigen Eheleute heiratsfähig sind, ja überhaupt erst geboren.) Ja als wären die beiden menschlichen Phänomene, Stadt und Literatur, noch im Stadium von platonischen Ideen füreinander prädestiniert.

Nur im Unterschied zu so vielen Kinderehen zeigte sich die Liaison zwischen Stadt und Literatur über mehrere Jahrhunderte als überaus glücklich, zumindest äußerst ergiebig. Eine für alle Zeiten bewährte, langweilige Ehe ist es deswegen noch lange nicht, immer wieder kommt es nämlich zu Turbulenzen und Krisen, zu Seitensprüngen und Exzessen, nur diese scheinen die kreative Produktivität der Beziehung immer nur zu steigern. Diese fast symbiotische Affinität hat bereits unzählige Formen und Wege hervorgebracht, miteinander auszukommen, in Beziehung zu bleiben, und den Erneuerungen scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.

Natürlich könnten sie beide auch getrennt ihr Leben führen, ohne dadurch wirklich etwas Entscheidendes von ihrem innigsten Wesen einzubüßen, bloß so wären sie weniger, beinahe unfertig, unvollkommen: als müssten sie zueinander kommen, um voll und vollständig zu sein. Was wäre Literatur ohne Stadt? Was wäre Stadt ohne Literatur?

Gewiss geht Literatur auch mit allen anderen Lebensbereichen tiefe und intime Verhältnisse ein: mit Landschaft etwa, Bio- und Geographie, mit Reisen, Historie, mit Schicksalen, Beziehungen, Leidenschaften, Gefühlen, mit Innenwelt schließlich, Gesellschaft, Politik, ja mit allem nur Erdenklichen und Zugänglichen.

Auch umgekehrt ist die Literatur nicht die einzige Kunst, die sich von Anbeginn an geradezu exzessiv mit dem Phänomen Stadt auseinandersetzt. Das gilt genauso für Malerei und Graphik, für Musik und Theater, von Baukunst und Bildhauerei ganz zu schweigen.

Und dennoch sind die Beziehungen zwischen Stadt und Literatur von besonderer Beschaffenheit: nirgends sonst findet nämlich eine so gravierende, so radikale Übersetzung von verschiedenen Medien, verschiedenen Wahrnehmungsregistern statt, wie hier, nämlich vom Visuellen ins Verbale, vom Räumlichen ins Innenräumliche, vom Plastischen ins Imaginäre, vom Dreidimensionalen in die nicht unbedingt weiter ergründlichen Dimensionen der Wortkunst.


Wirklich alles in und an der Stadt ist seit eh und je leidenschaftlicher Gegenstand des literarischen Blicks, des Interesses und Begehrens durch die Literatur, das die Formen von Nachbildung, Recherche, Betrachtung, Beschreibung, Eindruck annehmen kann. Beispiellos ist diese literarische Begierde, sich alles an der Stadt Vorhandene und auch nicht wirklich Vorhandene anzunehmen, die Stadt geradezu absorbieren zu wollen, einzuverleiben, daraus Literatur zu machen, in Wort und Text umzuschreiben. Zu kolonisieren.

Diese Begierde bildet die städtische Architektonik nach, nimmt den Körper der Stadt an, verarbeitet und verinnerlicht ihr Massiv, ihre (Bau)substanz, übernimmt ihre Strukturen. Sie nimmt sich Städte als Gelegenheit, Vorlage, als Grundlage, als Stoff, Sinnbild und als Projektionsfläche. Sie fasst Städte ganz ins Auge, als Totalität, oder auch deren Teile, Aspekte, Fragmente. Die Literatur bildet Städte nach, seziert sie, untersucht, ahmt sie nach, bildet nach, zerlegt, zerstört, erforscht, ergründet, erfindet, erschafft wieder neue, konstruiert, konstituiert. Sie korrigiert, kompiliert, komponiert, kontaminiert, kombiniert, sie annulliert, sublimiert, subsumiert, simuliert. Sie parasitiert an den Städten, sie lebt davon, sie baut sich durch die Stadt auf.

Die Literatur legt sich auf Städte wie Licht, das mal milde die Gesamtansicht bestrahlt, mal in die tiefsten Ecken und Verstecke durchdringt. Städte werden von Literatur besetzt, belagert, umzingelt, umworben, hofiert, erobert, kolonisiert. Sie brauchen einander, sie geben sich jeweils das, was dem anderen in dem Moment am meisten fehlt. Sie erhören sich, erhöhen gegenseitig ihren Mehrwert und im besten Fall gehen sie ineinander auf.

Die Literatur gibt den Städten Worte, sie fasst sie in Worte, in Lyrik und Prosa, verleiht den Städten Plots und erfindet Geschichten. Umgekehrt bekommt sie von den Städten Bilder, Schauplätze, Stimmungen. Räume und Strukturen. Häuser und Typen. Sujets und Zusammenhänge. Anblicke, Gerüche und Gerüchte, Figuren und Gestalten. Fantasmata und Fundament. Literatur liefert Texte, Stadt liefert Kontexte. Die Literatur findet die Stadt vor Ort. Die Stadt nimmt die Literatur beim Wort.


Die Stadt liebt es andersherum, sich im Spiegel der Literatur zu betrachten, ob sie sich dort immer unbedingt zu seiner Zufriedenheit wieder erkennt, sei dahingestellt. Was zählt ist, dass die Stadt überhaupt in der Literatur vorkommt. Die Stadt braucht anscheinend dieses Spiegelbild, als ob sie ohne dieses nicht ganz wahr wär’, sie braucht diese beständige Bestätigung durch die Literatur, diesen Glanz in den Augen der Literatur. Literatur verhilft der Stadt zu mehr Selbst- und Mehrwert, sie schmeichelt der Stadt, nobilitiert sie, veredelt, schmückt nicht nur. Sie ist ein Zeichen von Anerkennung und Stellenwert. Dichter werden den Städten zu Heiligen und Patronen, Literatur wird zu immer gerne zitierten heiligen Schriften.

Schon die frühesten bekannten Städte sind nicht nur Stätten des literarischen Schaffens gewesen, nicht nur Fundorte von Fundgruben mit Schrifttum verschütteter Bibliotheken, abgebrannter Archive, untergegangener Listen und verschollener Protokolle. Sie sind nicht nur Orte literarischer Inspiration, nicht nur Wohnorte von Literaten, wo es sich gut schreiben lässt, sondern auch zu Literatur verdichtete Topoi: Jericho, Babel, Palmyra, Ur, Damaskus, Ninive, Memphis, Troja…

Die Beziehungen zwischen Stadt und Literatur werden immer komplexer, immer raffinierter. Im Laufe der Zeit werden Städte für die Literatur nicht nur immer selbstverständlichere Wohnorte der Autoren und Handlungsorte ihrer Werke, Schauplätze von Erzählungen und Geschichten, sondern auch die Stadt selbst wird ihr eigener – und nicht so selten einziger – Stoff, Gegenstand, Thema und Motiv. Manchmal auch die einzige Motivation. Viel später – erst im 20. Jahrhundert – kristallisiert sich sogar eine eigene Gattung, das Stadtporträt heraus, aber die Vorbestimmung dazu ist wohl auch schon bei den Ursprüngen zu erahnen.

In der Tat: diese beiden uralten menschlichen Phänomene, basalen Ausdrucksformen der menschlichen Kultur sind schon von ihrer inneren Beschaffenheit her füreinander bestimmt, weisen sozusagen strukturell schon so verblüffende Wahlverwandtschaften auf, dass sie einfach schon strukturell nicht lange umhin konnten, zueinander zu finden. Sie sind wie platonische Hälften, von unbändigem Eros getrieben, sich zu liieren.

Beide sind sie und beide haben komplexe Strukturen, die fast reflexhaft auf Verdichtung aus sind, selbst wenn man gewiss weiß, dass »Dichtung« nur vermeintlich von »verdichten« kommt, nur auf dem Wege der Volksethymologie. Beides hat Aufbau, Kohärenz, manchmal Plan, zumindest Entwurf oder Skizze. Beides arbeitet mit Begriffen wie Architektur und Architektonik. Nicht von ungefähr werden Bezeichnungen wie Text, Textur auf Literatur wie Stadt bezogen, denn beide sind sie gewaltige symbolische Zeichensysteme, die grundsätzlich lesbar und auslegbar sind, selbst wenn sie mitunter eher Hieroglyphen oder Labyrinthen ähneln als Lettern und Straßen. Auf beide treffen die Begriffe Architektur und Architektonik zu. Aber auch verschiedene Metaphern, wie etwa die des Organismus. Auch liegen andere Metaphern auf der Hand: Schrift, Inscriptum. Beides ist Vehikel und Beschleunigungsmaschine. Beide entstehen entweder nach einem vorgefertigten Plan oder entwickeln sich spontan und sporadisch, um am Ende dann doch Struktur erkennen zu lassen. Beiden liegt die Dialektik von Begrenzung und Entgrenzung, von Geschlossenheit und Offenheit, Einmaligkeit und Universalität zugrunde, diese legen sie auch zutage, beides wird trotzdem als eine gewisse Einheit wahrgenommen. Stadt wie Literatur tragen Zeichen der Zeit und Spuren der Geschichte in sich, sie sind sozusagen intertextuell, sind nur innerhalb von Traditionslinien angemessen zu verstehen. In beiden Bereichen findet sich die Verbindung zur Welt: denn es gibt sowohl »Weltstadt« als auch »Weltliteratur«. Beide verraten Tendenzen, reziproke Einflüsse, Epochen, Moden und Stile. Beide lechzen danach, gedeutet, interpretiert zu werden. Beides ist Konstruktion, beides Ausdruck, nicht bloß Mittel, eine Darstellung. Ausdrucksform der Kultur, Inszenierung. Beides ist Signum.


Was dabei herauskommt, ist vielfältig und unendlich spannend. Lediglich sehr willkürlich ausgewählte Konditionen dieser Wechselwirkung könnten beispielsweise so aussehen: Stadt als bevorzugter Ort literarischen Schaffens, Stadt als Inspirationsquelle, Stadt als Handlungsort und Szenerie, Staffage, Arrangement, Bühne im literarischen Werk; Stadt als Gegenstand, Motiv, Thema und Problem der Literatur; Stadt als literarischer Topos; Stadt als Text; Stadttext.

Ein literarisches Narrativ kann sich aufgrund oder entlang der städtischen Topographie entfalten, im mimetischen wie symbolischen Sinne; die Narrativität bekommt ihre Struktur über die Materie der städtischen Substanz, über die topographische Mimesis, über die Nacherzählung des Flanierens.

Es gibt aber auch die Strukturen der Stimmungen – über Assoziationen und Allusionen, Fantasmata und Fata Morganas, die durch die Stadtbilder und Raumgestaltung evoziert werden.

Es gibt literarische Unternehmungen, die die Totalität einer Stadt zu umfassen, zusammenzufassen suchen. Andere sind bemüht, das Besondere des Phänomens Stadt zu ergründen. Wieder dritte bemühen sich, das Wesen, die Einmaligkeit einer Stadt unverkennbar festzuhalten.

Für eine ist es die materielle Vorlage zu gewissenhafter mimetischer Darstellung, einer Übersetzung von Stadtstrukturen in literarische Strukturen. Andere sind auf die flüchtigen und fast unaussprechlichen Stimmungen aus, die bei ihnen die Stadt evoziert. Es gibt solche, die von der Vorstellung fasziniert sind, eine Stadt in ihrer Dynamik zu zeichnen, sei es historisch oder gegenwärtig, als etwas Flüchtiges, als Fluidum.


Für viele ist die Stadt eine bevorzugte Chiffre für Einsichten und Inhalte, für andere ein privilegierter oder einfach passender Handlungsort. Für weitere wiederum ein Fetisch, eine Leidenschaft, eine Krankheit. Stadt kann für Literatur Zwang werden, Trieb, Wahn, Obsession.

Ein Ort, in dem und nur in dem Erinnerungen und Bilder besonderer Art überhaupt erst zustande kommen können. Orte von unwiederbringlichen Allusionen, Reminiszenzen, Orte der Nostalgie, von Kindheitserinnerungen, von wichtigen und intimen Erlebnissen. Museen der Leidenschaften, Galerien von Bildern, Archive von Erinnerungen. Stadt kann der Literatur Kulisse sein und Protagonist, Atmosphäre und Fluidum, Modell und Schatten, Phantom und Halluzination, Phantasma und Projektion. (Ur)bild und (Ur)szene. Ode, Rapsodie, Elegie nähren sich von Stadtstoffen genauso ergiebig wie Satire, Komödie oder Romanze. Epopeen, Romane und Romanzyklen gedeihen hier genauso wie Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren wie Haikus. Reflektierende Essays wie impressionistische Miniaturen.

Auch der Körper der Stadt, ihre Architektur, pflegt besondere Beziehungen zu Literatur: die der gegenseitigen Ergänzung, Vervollständigung, Übersetzung. Die Literatur verrät ein ewiges Verlangen nach Architektur: Auge und Zunge sehnen sich nach Worten, Bild nach Schrift. Das Schrifttum umflicht die Architektur wie Efeu und wilder Wein, trägt sie und hält sie zusammen.

Eine beständige, nie und nimmer aufhörende Arbeit der gegenseitigen Belieferung. Nicht nur Literatur setzt Städte ins Wort. Auch andersherum prägen die Städte Literatur nachhaltig, oft sehen wir Städte überhaupt primär sub specie litterarum. Wir pilgern zu den Städten mit Büchern in der Hand(tasche), zu vielen Stadtreisen werden wir überhaupt erst durch Literatur animiert. Manche Städte haben für uns vor allem Bedeutung als Literaturstadt. Wir begehen dann diese Städte so, als wären es Texte. Es gefällt uns die Vorstellung, dass die Literatur das vermag, was wir nicht vermögen: die Ewigkeit herzustellen, die Endgültigkeit festzuhalten, den Idealzustand zu verewigen. Dann ist die Literatur für uns der Gegensatz, ja Gegengift gegen das Vergängliche, denn wir ahnen, dass Literatur beständiger ist als Architektur. Viele zerstörte oder verschwundene Häuser und Straßenzüge leben nur mehr in der Literatur weiter, nur dort sind sie habhaft zu werden. Und doch: was uns am meisten fasziniert in der Kunst, ist ihre Fähigkeit, gleichzeitig Transparenz und Dichte, Einblicke und Verstellung heraufzubeschwören, Einsicht und Geheimnis, Begrenztheit und Entgrenzung, Geschlossenheit und Durchlässigkeit, Gesamtheit und Detail, Winkel und Linie, große Perspektive und dunkle Sackgasse. Das immer Unfertige, die ständige Veränderung. Den flackernden Schatten ewiger Idee.


Lembergs Literatur

Das Lissabon von Fernando Pessoa, das Paris von Balzac, Zola, Baudelaire, Proust und Appollinaire, von George Perec und Patric Modiano; das Petersburg von Puschkin, Gogol, Dostojevski, von Belyj, Blok und Achmatowa, das Rom von Alberto Moravia, Italo Calvino und Paolo Pasolini, das London von Dickens, R. L. Stevenson, Conan Doyle, Virginia Woolf, Evelyn Waugh und Somerset Maugham. Das Dublin von Joyce. Das Prag von Kafka, Rilke und Meyrink, Hašek, Hrabal und Kundera. Von Wien in der Literatur, vom literarischen Wien, gar nicht zu sprechen, Wien besteht fast vollständig aus Literatur, nicht etwa weil es Wien außerhalb der Literatur nicht gäbe, sondern weil es so ziemlich lückenlos von der Literatur erfasst wurde und wird.

Es gibt große Literaturmetropolen, nicht immer sind es Kapitalen, meistens aber schon. Literaturstadt zu werden kommt auf verschiedenen Wegen zustande (oft genug sind das alle Wege zusammengenommen): es ist nicht nur die Anzahl und Qualität der in einer Stadt lebenden Autoren und deren Werke, nicht nur die Häufigkeit, mit der eine Stadt zum Schauplatz der Handlung auserwählt wird, sondern zum Beispiel auch, wie sehr eine Stadt selber zum literarischen Topos geworden ist, ja zum Text, inwiefern und wie gut eine Stadt (kon)textualisiert wurde, ihre Textur zu Text, inwieweit also ein Stadttext vorliegt. Manchmal genügt ein einziger Autor, um eine Stadt in einen Literaturtopos zu verwandeln: Bruno Schulz für Drohobycz ist der beste Beweis, oder Ingeborg Bachmann für Klagenfurt.

Literarische Aura, literarische Legende und literarischer Mythos sind weitere mögliche Dimensionen von Literaturstädten.

In dieser Hinsicht gehört Lemberg zweifelsohne zu den ganz großen Literaturstädten Europas. Seine Aura strahlt weit aus und ist meistens stärker als die genaue Kenntnis seiner Literatur. Es ist deshalb immer sehr ratsam, eine möglichst genaue spektrale Analyse dieser Aura zu wagen, die erst, obwohl langwierig und mühsam, die wahren Schätze dieser Literatur zutage bringt, auch außerhalb der ganz großen Namen. Auch an diesen fehlt es nicht, seit Jahrhunderten wird an einem überaus reichhaltigen Stadttext weiter geschrieben: das Lemberg von Zimorowicz und Zapolska, Fredro und Franko, Parandowski und Lem, Bohdan-Ihor Antonyč und Hryc'ko Čubaj, Wittlin und Roth, von Deborah Vogel, Zygmunt Haupt, Adam Zagajewski, Juri Andruchowytsch, Juri Wynnyčuk und Viktor Neborak.

7 Diese Stadt kommt vor oder findet zumindest Erwähnung bei so bedeutenden Autoren der Weltliteratur wie Jacomo Casanova, Leopold von Sacher-Masoch, Alfred Döblin, Alexander Granach, Günter Eich, Heinrich Böll, Thomas Pinchon, Louis Begley , Jonathan Safran Foer.

Hier wirkten Jan Kasprowicz und Bohdan Lepkyj, Leopold Staff und Mykola Ustyjanowyč, Karol Irzykowski und Mychajlo Jackiv , Roman Ingarden, , Stanisław Jerzy Lec und Mychajlo Rudnyc'kyj, Iryna Wilde, Roman Iwanyčuk, Oleh Lyšeha und Ihor Kalynec.

Hier verbrachten Joseph Conrad und Martin Buber einen Teil ihrer Kindheit, Joseph Roth und Milena Rudnyc'ka einen Teil ihrer Jugend. Scholem Aleichem lebte hier eine Zeit lang, Bruno Schulz und Wasyl Stefanyk waren hier oft und Teil der hiesigen Literaturszene, Mychajlo Drahomanov, Lesja Ukrajinka und Mychajlo Kocjubynskyj.

Hier kamen Sacher-Masoch, Stanisław Lem, Zbigniew Herbert und Adam Zagajewski zur Welt (alle mussten dann aber weg und gelangten woanders zu Weltruhm).

Hier waren Balzac, Henryk Sienkiewicz, Georg Brandes, Ethel Lilian Voynich, Maria Konopnicka starb und ruht hier, Leskow, Tschechow, Aleksej Tolstoj, Sartre, Venclova.

Lembergs Stadttext ist alt, lang, komplex, vielfältig, dicht.

Doch das Wichtigste daran ist, dass Lemberg eine etwas anders bedeutende Literaturmetropole ist als die eben erwähnten Weltliteraturmetropolen. Das Besondere an seinem Status und an seiner Literatur ist, dass es nicht unbedingt die berühmtesten Namen und Werke der Weltliteratur sind, die sie primär ausmachen. Das wirklich Größte an Lembergs literarischer Bedeutung sind ihre einmaligen Konstellationen, die Zusammensetzung ihrer historischen Abläufe. Wer sich damit nur ausreichend beschäftigt, wird reichlich belohnt.


Literarischer Stadtführer

Viele Ansätze sind möglich bei der Gestaltung eines literarischen Stadtführers. Viele Wege stehen einem dabei offen, viele werden immer wieder eingeschlagen. Sie lassen sich aber unterm Strich so zusammenfassen: Literatur durch die Stadt zu zeigen oder eine Stadt durch Literatur. Oder auch beides, in immer wieder alternierenden und komplementären Wechselwirkungen.

Immer muss dabei aber auch die Frage nach der (Un)Vollständigkeit oder nach dem Exemplarischen auf irgendeine Weise beantwortet werden: soll der Reiseführer nun einen Kanon, eine Auswahl, eine Übersicht oder ein Kompendium sein, sei es in Hinblick auf die Stadtsubstanz oder das Literatursubstrat.

Da ist zum einen die Möglichkeit, sich die Totalität einer Stadtliteratur auch in ihrer historischen, diachronischen Dimension vorzunehmen. Im Falle von solchen Städten wie Lemberg ist es eine fast nicht zu bewältigende, größenwahnsinnige und doch immer wieder verlockende Herkulesaufgabe. Denn diese Stadt ist voller literarische Bezüge, in jeder Hinsicht. Dann verwandeln sich die Gänge durch die Stadt in ein permanentes Dozieren und Zitieren. Die Stadtsubstanz wird sekundär, wird zur Illustration der literarischen Verläufe, verschwindet unter der schieren Masse der Literatur.

Man kann auch anders verfahren, indem man das Massiv dessen, was nicht in der Stadt, sondern über die Stadt literarisch vorliegt, verarbeitet. Dabei werden nur Texte oder Textfragmente zur Kenntnis genommen, die über diese Stadt direkt etwas aussagen, natürlich vor allem die Werke, in denen die entsprechende Stadt der Handlungsort ist oder welche zahlreiche Beschreibungen der Stadt beinhalten.

Ein dritter Weg bestünde darin, gezielte literarische Streifzüge durch die Stadt vorzunehmen, wobei man sich auch hier unweigerlich mindestens zweier Hauptschwierigkeiten gleich gewahr werden muss: nicht notwendig stimmt die Topographie nämlich mit der Logik der Literatur überein, und zweitens: auch die Fragen der Bedeutungshierarchie müssen einzeln – und meist sehr subjektiv – beantwortet werden.

Die vierte Option: man geht die vorgenommenen Gänge durch die Stadt nach und nimmt »das Literarische« sozusagen als eine willkommene Zugabe wahr, die die Wahrnehmung noch zusätzlich bereichert.

Fünftens stehen einem immer auch thematische Literaturstreifzüge durch die Stadt frei: je nach Schwerpunkt, von Ort zu Ort, von Objekt zu Objekt, von Autor zu Autor, Epoche zu Epoche. Im Falle von Städten wie Lemberg können es auch »national-sprachliche« Literaturexkurse sein: ukrainisch, polnisch, deutsch, jüdisch…


Aber genau das wollten wir im vorliegenden Stadtführer vermeiden: nach Ethnien und Sprachen vorzugehen. Auch auf literarische Epochen wurde weitgehend verzichtet.

Unterm Strich kann man die Vielfalt von Ansätzen, einen Literaturstadtführer zu gestalten, vielleicht so einteilen: Führungen durch die Literatur; Führungen zu Literatur; Führungen zu Literaturstätten; Stadtführungen anhand der Literatur; Führungen mithilfe der Literatur.

Wir haben uns für dieses Mal dafür entschieden, die wichtigsten städtischen Orte und Bauten mit den vorhandenen, gefundenen, uns zugänglichen literarischen Zitaten zu illustrieren oder, besser gesagt, zu begleiten. Das ist sicherlich das einfachste Verfahren.

Natürlich waren wir stets bemüht, dabei auch den ästhetischen und literaturhistorischen Kriterien der in Frage kommenden Fragmente gerecht zu werden und nach einer gewissen Randordnung vorzugehen, bei der literarisch anspruchsvollere Auszüge soweit möglich den weniger bedeutenden vorgezogen wurden.

Hier begleiten literarische Zitate die wichtigsten Baudenkmäler und Erinnerungsorte. Belegen sie. Bringen die literarischen Eindrücke, Beschreibungen, Zeugnisse von einzelnen Stadtorten und Gebäuden. Gewiss der einfachste Weg, der hier eingeschlagen wird.

In unserem Fall haben wir uns für dieses entschieden: es ist ein Reiseführer, der literarisch zitiert, illustriert, untermauert, ergänzt. Auch andere Arten von literarischen Stadtführern sind möglich. Manche werden vielleicht sogar aus unserer Hand noch kommen.

Denn eines sind Literatur und Stadt dennoch nicht: sie sind nicht deckungsgleich, sie nähern sich bloß asymptotisch an.


 

Über den Autor

Jurko Prohasko, 1970 in Iwano-Frankiwsk geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor und Übersetzer und gilt als einer der wichtigsten Kulturvermittler zwischen der Ukraine und Deutschland. Prochasko hat u.a. Werke von Kafka, Rilke, Roth, Jünger, Freud und Musil übersetzt. Im Jahr 2008 wurde er mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet; 2010 wurde er in die Sächsische Akademie der Künste aufgenommen. Er lebt in Lemberg.