Al-Karhk 1982
Al-Karhk 1982

März 2018*

Hinreise

Bagdad sollte zum Paris des »Mittleren Ostens« werden. Dies war für sich gesehen kein ungewöhnliches Vorhaben eines Diktators. Ungewöhnlich war, dass Einiges zugleich geschehen sollte: die totale Umwandlung der Stadt, der militärische Sieg über den Iran und die Durchführung der Konferenz der »Non-Aligned Countries« 1986. Eine Organisation, die 1961 ins Leben gerufen worden ist, um in der Zeit des »Kalten Krieges" die politische und ökonomische Ungebundenheit der Gebundenen zu demonstrieren. Eine postkoloniale Organisation, deren Mitgliedsländer sich bis heute durch menschenunwürdige und undemokratische Bedingungen überbieten.

Laut Gerüchten wollte der Präsident, der sich 1979 zum Staatschef putschte, Bagdad zur »Mutter« aller Städte in der arabischen Welt machen. Die Materialisierung dieses Unternehmen sollte durch willkürlichen Abriss und der Realisierung von orientalisierten Bauten erfolgen.

Wie in anderen Ländern des vorderen Orients, so auch in Bagdad, wurden Arbeiter, Fachkräfte, Organisatoren und Maschinerien aus allen Orten der Welt in die von Mythen überfrachtete Stadt gebracht.

In dem Film von Ludwig Berger »Der Dieb von Bagdad«, 1940, bestiehlt Abu, der Dieb - mit einem Charakter gleich Robin Hood - aus einer Garküche im Bazar gebratene Fische, um sie zwei hungernden Bettlern zu geben. Daraufhin jagt eine Menschenmeute ihn durch die Stadt. Er hastet durch die Gassen, rennt Stufen auf und ab, springt von Dach zu Dach und von Leiter zu Leiter, bis er auf ein Dach gelangt. Dort hat er den Blick auf die edle Terrasse des Palastes. Er sieht den König Achmed und seinen Großwesir Jaffar auf den Marktplatz blickend. Dort wird in diesem Moment ein Mann öffentlich hingerichtet. Der König bemerkt: »... Hinrichtungen ohne Ende. Was hat er getan?« Der Wesir: »Er hat gedacht, mein Herr und Gebieter.« Der König: »Ist es ein Verbrechen zu denken?« Der Wesir: »Für ein Volk, das größte Verbrechen.« Der König: »Sind Menschen nur mit Furcht zu regieren?« Der Wesir: »Menschen sind böse, sie haben Hass in den Augen, Lügen auf den Lippen, Verrat in den Herzen. Das wirst Du noch erfahren, großer König. Es gibt nur drei Herrscher, die die Menschen respektieren: die Geißel, die sie schlägt, das Joch, das sie beugt, das Schwert, das sie tötet. Nur mit Gewalt, Verachtung und Schrecken wirst Du der Herr der Erde.«

 


Spätestens nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei, 1963, sollte Jaffars Haltung Realität werden. Nun beherrschten nicht mehr Mythen die Stadt, sondern blutige Machtkämpfe und politische Säuberungen. Bagdad stand für: Verfolgung, Folter, Angst und Gier. Der sympathische Dieb, mit dem sich positive Fantasien erträumen ließen, musste Parteidieben weichen. Im Kontext ihres Raubzuges haben sie eine Melange aus nationalistischer, sozialistischer, religiöser und ethnischer Ideologie geschaffen. Somit haben sie sich unterschiedliche Bewegungsräume gewährt. Sie konnten auf die Loyalität ihrer Stämme zurückgreifen, auf die immanenten religiösen Konflikte zwischen den Sunniten und Schiiten, auf den Hass gegen die Juden, die Christen, den Westen und auf die Solidarität der Befreiungsbewegungen und auf die Diktaturen der sogenannten sozialistischen Länder bauen.

Bagdad entsprach schon lange nicht mehr dem Bild einer orientalischen Stadtanlage. Der aggressive Modernisierungsprozess hatte die Stadt in unkoordinierte Fetzen zerlegt. Breit angelegte Straßen und Verkehrsknotenpunkte wurden bestückt mit monumental-heroischen Statuen, um diese Fetzen zusammenzuhalten. Alle staatlichen Organe wurden aus Angst vor Kontrollverlust in Form einer zentralistischen Verwaltung in Bagdad angesiedelt. Darüber hinaus sorgte der Verstädterungsprozess dafür, dass die Stadt breiartig in ihr Umland zerfloss.

Anfang 1980 wollte der Präsident auch bauliche Spuren legen und benötigte dazu einen erfahrenen irakischen Architekten. Dieser saß jedoch im Gefängnis.

Während einer Veranstaltung in Wien war er einem israelischen Kollegen begegnet – daraufhin wurde der Architekt zum Mossad-Agenten deklariert. Für die islamisch-arabische Welt ein bekanntes Phänomen. Wie in einer schlechten Kopie einer Erzählung aus »Tausend und eine Nacht« durfte er auf Befehl des Herrschers das Gefängnis verlassen, um Bagdad zum Paris des »Vorderen Orients« zu machen. Damit dieses Unterfangen realisiert werden konnte, wurden Tausende auf dem Luft- und Landweg nach Bagdad gebracht. Wegen des Krieges mit dem Iran konnte Bagdad nur nachts angeflogen werden, so lag es nahe, dass Amman und Damaskus bevorzugte Destinationen für jene wurden, die nicht direkt nach Bagdad fliegen konnten. Aus Europa und Amerika kommend landete man oft in Amman.


Erschöpft durch den Nachtflug, begann die Busfahrt in Richtung Bagdad auf der »Route 10«, die nach der Stadt Al-Mafraq benannt ist. Bis zur irakischen Grenze sind es etwa 350 km auf einer asphaltierten Straße, nicht allzu breit und wiederholt beschädigt. Es lag nicht unbedingt an der Qualität des Asphalts, sondern war Ausdruck der schlampigen Art der Ausführung von Bauaufgaben. Ein Phänomen mit Gültigkeitsgarantie für einige Länder des Vorderen Orients.

Der Busfahrer kannte diesen sogenannten Highway. Er bremste instinktiv genau dann ab, wenn der nächste Straßenschaden zu erwarten war. An den Stellen, wo die Schäden erheblich waren, wich er auf die rechte Seite aus und erzeugte einen Wirbel von Staub gepaart mit Sand. Die Feinkörnigkeit drang in das Innere. Der Glaube im geschützten Gefäß zu sitzen wurde spätestens beim Zusammenkommen der oberen und unteren Gebissteile ad absurdum geführt. Der feine Sand wurde zum Bestandteil des Speichels.

Die karge Landschaft breitete sich bis zur Unendlichkeit aus. Wiederholt hielt der Fahrer an und nahm Wartende mit. Wie ein gewohntes Ritual hielt er irgendwo auf der Strecke wieder an. Die Zugestiegenen verließen den Bus, um in die Unendlichkeit zu gehen. Weit und breit waren weder ein Zelt, ein Haus, oder eine Siedlung in Sicht.

Immer wieder tauchten Raststätten und Tankstellen auf. Sie erinnerten an jene Hollywood Filme, die Stopps entlang der berüchtigten »Route 66« dramaturgisch thematisierten. Der Unterschied zeigte sich bald. Das Verlassen des Busses wurde zur Tortur, denn zahllose »Fliegende Händler« belagerten den Bus, um ihre Waren feilzubieten. Eine Situation wie vor den Toren der Altstadt von Fès in Marokko.


Hunderte von Touristenführern lassen solange den Fremden nicht in Ruhe, bis er/sie genervt auf das ungewollte Angebot eingeht, nur um weiter zu kommen. Erfahrene handeln umgehend. Sobald sie »intramuros« sind, verabschieden sie sich freundlich von dem selbsternannten Stadtexperten. Dieser wiederum ist beglückt und stürzt sofort auf nächste Opfer zu. Deshalb war es auch hier ratsam sofort zu handeln, um einen Weg aus dem Bus in die Freiheit zu erringen. Eine Flasche Wasser zu kaufen war günstig, notwendig und wegbereitend.

Die Dringlichkeit erforderte die Nasszellen aufzusuchen. Der penetrante Geruch konnte alsbald wahrgenommen werden. Weitere Hinweise für den Standort der Nasszelle waren nicht nötig. Es hieß, in der glühenden Hitze, zielstrebig dem Geruch nachzugehen. Beim Besuch derselben sehnte man sich nach den Autobahn-Toiletten der DDR. Erstens waren sie sauberer und zweitens rochen sie nicht nach Fäkalien. Ebenso waren Fliegen und Mücken abwesend. Das allgegenwärtige sozialistische Desinfektionsmittel »Wofasept«, das sich von der DDR über Osteuropa bis Wladiwostok wie ein Schleier als sozialistischer Einheits- und Identitätsgeruch ausbreitete, war gnadenlos mit Gestank und Insekten. Der penetrante Geruch dieses Erzeugnisses hatte es in sich. Wer einen Zug, eine Toilette oder andere Einrichtungen in der DDR aufsuchte, hatte das Vergnügen der Nachhaltigkeit, denn der Geruch begleitete seinen Protagonisten tagelang.

Nach den Erledigungen versuchte der Fahrer im Wirrwarr der Geschäftigkeit, wie ein Bazari, der lautstark seine Waren feil bot, seine Fahrgäste zur Weiterfahrt zu bewegen. Nach mühevollem Einsammeln der Gäste, des Jonglierens des Busses zwischen Passanten, Händlern, Eselskarren, Autos und anderen Geständen gelang es ihm endlich die Fahrt auf dem Highway fortzusetzen. Dieses Vergnügen wiederholte sich immer wieder.

Dank irgendwelcher überweltlicher Kräfte entging dieser Bus dem Schicksal anderer Fahrzeuge, qualmend oder mit einer Reifenpanne am Straßenrand zu stehen und von selbsternannten Experten begutachtet zu werden. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, wie sich das Fachwissen zusammensetzt: der eine hat einen Verwandten bei der Reparatur eines ähnlichen Fahrzeuges beobachtet, der andere kennt jemand, der das gleiche Modell hat, ein anderer wollte Automechaniker werden etc.


Nach einer verschwitzten und erschöpfenden Fahrt erreichte man endlich die Grenze. Die Formalitäten an der jordanischen Grenze wurden relativ schnell erledigt. Auf der irakischen Seite schien eine Überquerung der Grenzsperren fast unmöglich zu sein.

Wo man auch hinschaute: überladene Lastwagen, Busse, Taxen, Trauben von Menschen und unterschiedlichste Waren. Nach Stunden des Wartens mussten, unter der prallen Sonne, die Koffer vollständig ausgepackt werden. Der gestrenge Grenzbeamte, mit allen Waffen der Welt bestückt, begutachtete jedes einzelne Teil. Wenn man Glück hatte, wurde das Observieren nicht unterbrochen, denn die minutenlangen Gespräche mit einem zufällig vorbei kommenden Kollegen oder Bekannten schienen ein permanentes Unterfangen zu sein. Keine Macht der Welt konnte die Beamten auf ihre eigentlichen Aufgaben aufmerksam machen. Sie glaubten, sie wären omnipotent und könnten die Vorschriften nach eigener Laune interpretieren und anwenden. Ein Hauch eines Protestes konnte schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Diese unangenehme Pause, in der Hitze genervt vor dem geöffneten Koffer stehend, zwang einen, ungewollt, das Schicksal anderer Betroffener zu beobachten.

Wenn einige der Architekten der so genannten »Klassischen Modernen« meinten, eine Wohnung sei ähnlich rational und funktional zu gestalten wie ein Koffer, so kann man davon ausgehen, dass sie die Dimensionen eines orientalischen Koffers nicht kannten. Diese, jegliche Normen sprengende Koffer, wurden auf den langgestreckten Ablagen zur Durchsuchung geöffnet. Wehe jenen, die, weder des Lesens noch des Schreibens kundig, aus entfernten Ländern wie Ägypten und Marokko kommend diese Reise angetreten hatten, um im Irak Arbeit zu finden. Hatte der Beamte bei der Durchsuchung etwas Verbotenes entdeckt, wurde im Kontext des sozialen Standes und des Herkunftslandes entsprechend seiner Laune gehandelt. Koffer wurden vor allen Augen ausgeschüttet, Inhalte landeten auf dem Boden, wurden mutwillig zerstört, die Besitzer gepeinigt, öffentlich geschlagen oder abgeführt. Die Atmosphäre der Grenzstation war von Chaos, Willkür, Angst und Unwirtlichkeit erfüllt. Nach den Torturen dieser entwürdigenden Grenzkontrolle durfte man endlich neben allgegenwärtigen überdimensionalen Präsidenten-Porträts in großen arabischen und englischen Buchstaben lesen: »Willkommen im Irak«. Unter den gegebenen Umständen ein zynischer Gruß.


Auf der irakischen Seite war der Zustand des Highways unverändert. Die »Route 10« hieß nun Al-Rutba, nach einer irakischen Stadt, die zwischen der Grenze und Bagdad liegt. Auf der irakischen Seite veränderte sich jedoch die Atmosphäre schlagartig. Je weiter in Richtung Bagdad, umso präsenter das Militär und umso vorsichtiger der Fahrer. Das Militär war der Repräsentant der Macht. Es konnte Fahrzeuge anhalten, kontrollieren, enteignen, rammen oder willkürliche Verhaftungen vornehmen. Trotz dieser Realitäten mussten alle gewollt oder auch zögernd brav anhalten, wenn ein Hirte mit seinen Schafen die Straße überquerte. Dem Gesetz der Natur gehorchten alle. Möglicherweise wegen der Gleichzeitigkeit des Ungleichen, oder dem Respekt gegenüber dem Hirten, der seine Autonomie und Freiheit eher behalten hat als die abhängigen Städter, denn woher sie auch kamen und welche Interessen sie auch verfolgten - sie gerieten in Bagdad unter das Joch des urbanen Terrors.

Urban meint nicht die zivile Errungenschaft der »Citoyens«, sondern die orientalische Variante des städtischen Lebens im Sinne von Max Weber. Der Verbandscharakter fehlt. Erst er ermöglicht die Gleichheit des Individuums in der Stadt, da neutrale Verwaltungsorgane existieren. Außereuropäische Traditionen kennen diese städtischen Organisationsformen weniger. So gesehen haben diese Städte wenig Luft, die frei macht. In der idealtypischen orientalisch-islamischen Stadt herrschen die »Uma«, die islamische Gemeinschaft, und die Gesetzmäßigkeiten der Stämme. Bagdad wurde zu dieser Zeit durch den Stamm des Präsidenten, dem »Begat« aus Tikrit dominiert. Alle strategisch wichtigen staatlichen und städtischen Organe des Landes wurden an die Loyalen vergeben - an die »Begat«. Die Loyalität muss im Sinne von Potlatch verstanden werden - eine ökonomische Beziehung. Fehlt sie, so verschwindet auch die Loyalität.

Letztendlich ging die Fahrt nicht in Richtung einer Stadt im europäischen Sinn, auch nicht in Richtung einer orientalisch-islamischen Stadt. Es ging nach Bagdad. Eine Stadt, die von den Tikrities beherrscht und dominiert wurde. Zugleich gab es doch Reste traditioneller Quartiersaneignung. Baulich-räumliche Segregation durch eine bestimmte sozial-ethnische Gruppierung gab es auch in dieser extrem kontrollierten Stadt.


Bagdad war eigentlich ein offenes Gefängnis. Die Gefangenen waren die Bürger, denn sie wurden auf Schritt und Tritt beobachtet und gegängelt. In den Wohnquartieren gab es offizielle und inoffizielle Informanten. In den Schulen und Universitäten wurden die Schüler, Studenten, Lehrer und Professoren bespitzelt. In den Behörden und anderen staatlichen Einrichtungen galt die absolute Loyalität. Die Angestellten waren Parteimitglieder oder wurden nach parteipolitischen Grundsätzen eingestellt.

Diese Realitäten führten zu paranoiden Verhaltensformen, Interpretationen und Verschwörungstheorien. Wenn ein weißer Mercedes auf der Straße auftauchte, war für jeden klar, dass »Muchabarat«, der Geheimdienst, unterwegs war. Das Regime erreichte, wie in der Sowjetunion, DDR, Kuba, China, Nord-Korea, Saudi-Arabien und vielen anderen Ländern, dass jeder jeden verdächtigte.

Je näher Bagdad rückte, umso öfter wurden die Fahrzeuge zur Kontrolle angehalten. Streng aussehende und schwer bewaffnete Sondereinheiten stiegen ein und nahmen sich willkürlich Personen vor. Andere begutachteten die Koffer mit der gleichen Arroganz und Rücksichtslosigkeit. Immer wieder wiederholten sich diese Kontrollen. Es schien, die Kontrolleure kontrollierten sich gegenseitig. Niemand vertraute dem Anderen.

Kurz vor der Stadt sammelten sich hunderte von Fahrzeugen. Aus einer scheinbar vierspurigen wurde eine sechs-, siebenspurige Straße. Unzählige Fahrzeuge kamen aus der Stadt und verstreuten sich in die Breite. Andere verließen die Breite, um im Schritttempo in die Stadt hinein zu rollen. Auch von den Seitenstraßen floss Verkehr. Einige Fahrzeuge versuchten, fast rechtwinklig die Straße zu überqueren oder in die entgegensetzte Richtung zu fahren. Wiederholt entstanden verworrene Verkehrsknoten, die schwer zu entflechten waren.


Auch in diesem Verkehrstrichter, in dem es in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus floss, war es geradezu komisch mit anzusehen, wie die Fahrer zweier Fahrzeuge ausstiegen und mit bedrohlichen Gesten lautstark aufeinander zugingen. Worum es ging, wussten nur die Götter. Materielle Schäden spielen in der Regel eine geringere Rolle als jene, die möglicherweise die Verletzung der Ehre berühren könnten. Ein Verhalten, das geradezu exemplarisch ist für diese Gegend der Welt. Man stelle sich vor, gerade in solch einer Situation die Frage zu stellen, ob sich nicht irgendwelche Projektionen entfalten? Die geballte Aggression kann doch nicht im Kontext eines Verkehrsdeliktes stehen? Wessen Hals wollen die Protagonisten dieses Geschehens denn umdrehen? Des Vaters, des Staates oder den der allgegenwärtigen Mutter? Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist insofern interessant, weil sich hier eine Dialektik entfaltet, die aus einer Kombination matriarchalisch-patriarchalischer Struktur besteht. Der Sohn bleibt ein ewiges Kind unter der Schirmherrschaft der Mutter. Sie schützt und verteidigt ihn in guten und in schlechten Dingen.

Andere Absurditäten erschwerten zusätzlich die Weiterfahrt. Die Kraft der Hitze modifiziert das Meer der Bleche und ergänzt es durch geöffnete Hauben, dampfende Motoren. Fahrerlose Fahrzeuge standen neben Waren der »Fliegenden Händlern«, die zwischen den Restflächen abgestellt worden waren. Viele Hände halfen und schoben die erschöpften Fahrzeuge zum Rande der Straße. Das Hupkonzert zwang einige Helfer zur Rückkehr, denn die Ungeduldigen wollten einige Meter voranrollen.

Bagdad zierte sich – wollte das Ankommen in der Stadt selbst allen schwer machen. Nach Mühen begann die Fahrt in das Innere der Stadt. Zunächst waren auf beiden Seiten der Straße ein- bis zweistöckige Bauten zu sehen, die mehrheitlich aus Autowerkstätten, Ersatzteilläden und Tankstellen bestanden. Je weiter man in Richtung des Zentrums gelangte, umso stärker nahmen die baulichen Verdichtungen zu. Mehrgeschossige Bauten, orientalisierte Formen und Dekorationen, Bögen, Kuppeln, und andere Zutaten architektonischer Eklektizismen prägten das Bild der Stadt. Hinzu kamen natürlich die halbfertigen Wohnhäuser, als wäre dem Besitzer das Geld ausgegangen, oder der Weiterbau müsse erst auf den Zuwachs der Familie warten. In der Region ein bekannter Bauprozess.


Erst in unmittelbarer Nähe der Altstadt, die durch den Tigris in Al-Rusafa und Al-Karkh geteilt wird, spürt man die Anmutung einer orientalischen Stadt. Nicht weit entfernt war eine Haltestelle. Dort angekommen ging der Kampf um die Suche des eigenen Koffers los. Kofferträger schnappten sich ein, zwei, drei Koffer, ohne zu erkunden, wem sie gehören könnten. Um den eigenen zu erobern, wurde eine Gegenleistung in monetärer Form verlangt. Endlich war alles beisammen und die Fahrt in Richtung Al-Mansur konnte fortgesetzt werden.

Al-Mansur, ein Bezirk in Bagdad, der sich vor allem in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts städtebaulich-architektonisch besonders entfaltet hat. Hier wohnen die Reicheren, hier gab es die Pferderennbahn, die berühmten Clubs nach britischer Tradition und die Residenzen der Botschaften. Al-Mansur lag strategisch günstig zwischen der Stadtmitte und dem internationalen Flughafen. Die städtebauliche Anlage des Bezirks entsprach den Ideologien und Konzepten der Nachkriegsmoderne mit orientalischen Zusätzen und Missverständnissen. Netzartig angelegt mit unterschiedlich großen Grundstücken für Villen, Reihen- und Punkthäuser, Einkaufszentren, Plätzen, Parks und breiten überdimensionalen vierspurigen Straßen, versehen mit Grünstreifen. Grün bedeutete eher vertrocknete Pflanzen, sowie Gras- und Blumenbeete und auch teilweise Palmen. Wenn sie nicht vertrocknet waren, so waren sie mit einem Schleier aus Sand und Staub überzogen. Dieser Schleier legte sich auf alles und schaffte eine gewisse einheitliche Ästhetik.


Auf dem Parkplatz vor einem neugebauten Supermarktkomplex endete die Fahrt. Erstaunt fragte man sich: Wo wird man wohnen? Wie ein Turm stand in räumlicher Entfernung das Treppenhaus mit einem Aufzug, der etwa die Größe eines Lastenaufzuges hatte. Dort wurde man freundlich und mit Gesten des Willkommens durch den Hausmeister begrüßt, dieser versuchte den Aufzug nach unten zu rufen. Dabei drückte er mehrmals erregt den Aufzugsknopf, als könne er ihn dadurch schneller nach unten bewegen. Im Aufzug begann man religiös zu werden. Denn seine Mühen nach oben zu gelangen erinnerten an die letzten Kräfte eines verhungerten alten Esels, der im Begriff war seinen Geist aufzugeben.

Das Treppenhaus war durch eine Brücke mit dem Obergeschoß verbunden. Eine Tür führte in eine große, überdachte Halle. Von hier aus erschlossen sich die Wohnungen. Die Wohnungen bestanden aus zwei bis drei Zimmern mit Balkonen zur Straße oder zum Dach des Supermarkts hin, das aus einer Landschaft nicht gedämmter Belüftungsrohren bestand. Der Zementgeruch, die Mörtelreste im Waschbecken, die braune Brühe aus dem Wasserhahn und die Kakerlaken bezeugten, dass die Wohnungen bislang nicht bewohnt wurden. Unter diesen Umständen und einer asketischen Möblierung sollte die erste Nacht über dem Dach des Supermarkts verbracht werden. Also nicht wie in den Märchen und Fantasien über den Dächern von Bagdad weilend, sondern in einem architektonischen Missverständnis aus Stahlbeton.

 

Al-Karkh, Haifastraße 1981

Büro

Die Nächte verbrachte man schlaflos und schwitzend über dem Dach des Supermarktes und somit sollte der nächste Morgen mit trockenem Schweiß beginnen. Da die Wasserpumpe gelegentlich Mühe hatte das Wasser bis zu den Wohnungen zu befördern, wurde vorsorglich in Plastikflaschen Wasser für die nötigsten hygienischen Maßnahmen bereitgestellt. Der Genuss von Wasser, welches in geschlossenen Plastikflaschen aufbewahrt und in Stahlbetonwärme gelagert wird, ergibt bei Genuss einen leicht verfaulten Geschmack. Erleichterung im Rachenbereich ermöglicht nur eine doppelte Portion von Zahnpasta.

Dies beschreibt ein wiederkehrendes Phänomen in Bagdad, aber nicht nur dort, sondern auch in vielen anderen Orten der Welt. Das Versagen von Motoren, um Wasser in ein Reservoir auf dem Dach zu pumpen, ist bekannt, weniger bekannt ist jedoch, dass das Wasser zyklisch diesen Punkt nicht erreicht. Die Gründe sind vielfältiger Herkunft: es wird illegal abgepumpt, das Hauptreservoir hat technische Probleme, eine Leitung ist wegen des Wasserdrucks geplatzt und dergleichen mehr.

Es erscheint als ein kulturelles Phänomen, dass man in vielen dieser Länder unter Modernisierung das Einkaufen von Gegenständen und Materialien versteht. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um eine Uhr, ein Rohr oder eine Pumpe handelt, das Wort »Instandhaltung« ist unbekannt. Instandhaltung beinhaltet die Permanenz der Pflege von materiellen Dingen. Aber materielle Dinge scheinen wenig Respekt zu genießen, sie müssen funktionieren oder werden zum Funktionieren gebracht. Jegliche Reparatur erzeugt ein eigenes Drama: die Ersatzteile fehlen, weil sie nicht bedacht worden waren; sie kamen abhanden, da der Markt Bedarf anmeldete oder wurden im Chaos der Archivierung falsch gelagert. Ein sehr bekanntes Dilemma, das nicht aufhört zu existieren. Es gehört zur Kultur dieser Länder, vorzugsweise bei Gegenständen, die nicht als Massenware importiert worden sind.


Der Supermarkt-Wohnkomplex war vom Büro in Al-Karkh nicht allzu weit entfernt, dennoch fuhren täglich unzählbare Fahrzeuge in diese Richtung.

Die Altstadt von Bagdad ist durch den Fluss Tigris geteilt und auf beiden Seiten konzentrieren sich wichtige öffentliche Gebäude und das »Central Business District«. Dies erklärt die hohe Zahl der Fahrzeuge, die morgens hin- und abends wieder zurückfahren. Auf dieser Strecke sammeln sich alle vorstellbaren Arten von Fahrzeugen: nicht fahrfähige, welche mit asymmetrisch sich bewegenden Rädern, wacklige Motorräder, man sieht den einen oder anderen dampfenden Auspuff, Busse, überladene Transporter, fabrikneue Fahrzeuge und dazwischen unzählige Karren. Täglich entsteht so ein Verkehr, der zum Überwinden entflochten werden muss, um auch nur einige Meter weiterzukommen. Zur Regulation und Entflechtung bedient man sich des Prinzips der Teilung der Verkehrsführung: von der Hauptstraße wird wiederholt eine Spur abgezweigt, die über eine nicht asphaltierte, holprige Terrasse führt, um nach einigen hundert Metern wieder zusammengeführt zu werden. Eine Technik, die mehr Verkehrsdisziplin verlangt, als die Fahrenden aufzubringen vermögen.

An den Abzweigungen sammelten sich alle Fahrzeuge. Die Fahrer winkten, brüllten und lamentierten. Solche Knoten sind schwer zu bewältigen, denn alle wollen sie zur gleichen Zeit überwinden.

Weder der Staub, das Bedrängen, das Überholen und die Lautstärke hindern die Teilnehmer des Unterfangens daran, ihrem Ziel treu zu bleiben. Das Credo war klar: die Strecke schleunigst hinter sich zu bringen.


Der Altstadtteil Al-Karkh wurde durch die Verkehrsschneise Haifastraße geteilt, die vor allem aus Baustellen bestand. Ein städtebaulicher Schnitt durch das Gebiet zeigt den Tigris, von dort aus begannen die zweigeschossigen Bauten mit zwei und drei Meter breiten Gassen sowie die sechs bis sieben stockigen Rohbauten, eine vierspurige Straße, wieder die Rohbauten und danach setzte sich die Altstadt teilweise fort.

Zwischen den Baustellen in der Haifastraße stand ein zum Abriss bereites Gebäude. Hier befand sich das Büro für unterschiedliche Planungs- und Bautätigkeiten. Mit hoher Arbeitsintensität organisierten und managten von hier aus vor allem die großen multinationalen Konzerne ihre Baustellen. Zur Kommunikation sprach man arabisch, englisch, spanisch, japanisch und auch deutsch. Im Wirrwarr dieser Sprachen wurden die Geschehnisse koordiniert.

Ein besonderes Problem stellte die Unbeholfenheit in der Materialversorgung dar. Die Absurdität besteht darin, dass bis heute in vielen Ländern des Vorderen Orients so gebaut wird, dass Basismaterialien wie Zement, Stahl, Glas etc. stets importiert werden müssen. Dies beschreibt einen Umstand, der die gänzliche Abhängigkeit von anderen Ländern manifestiert. Die Idee des Genius loci funktioniert nicht in diesen Gebieten.

Einige der Stararchitekten beziehen seid Jahrzehnten ihr Ansehen aus dieser Region. Interessant ist, dass selten die geographischen Realitäten bei der Frage nach der Auswahl des Materials berücksichtigt werden.

Materialbestellung gestaltete sich zu dieser Zeit problematisch. Der Einkauf und der Transport in das Land waren eine Tragik an sich. Endlich vor Ort angekommen, bemühte man sich die Waren so schnell wie möglich aus der Obhut der Beamten zu befreien.

Das Zollamt selbst erscheint in der Regel wie ein Lager tausender Gegenstände, desorganisiert dem Anschein nach.


Es ist eine Welt vielfältiger Bestechungstechniken. Bereits im Haupteingang bedienen sich die Verantwortlichen der ersten Gaben. Danach folgen die anderen, die sich entsprechend bedienen lassen. Für jede Aktion ist eine bestimmte Summe vorgesehen, die höflich als Beschleunigungsgeld deklariert und erstattet wurde, da das Fehlen eines Baumaterials eine Verzögerung des Bauvorhabens bedeutete.

Im Büro angekommen, war die erste Erfahrung die Begegnung mit einem jungen Mann, der, ähnlich einem Staatsauftrag, das Bild vom Präsidenten in den einzelnen Räumen aufhängen musste. Kritische Bemerkungen waren kaum möglich. Ein dominanter Platz musste ausgesucht werden.

Die karg ausgestatteten Büroräume waren so geteilt, dass die Planer unter sich waren. Die Japaner, die an einem Masterplan für Bagdad arbeiteten, verfolgten das Prinzip der kritischen Infragestellung ihres primären Vorschlages. Daraus entwickelten sie Alternativen, welche sich extrem voneinander unterschieden. Eine Vorgehensweise, die hier kaum bekannt war.

Alternativen beinhalteten die Modifikation des Vorschlags, somit keine Verwerfung des ursprünglichen Konzeptes. Es erschien radikal, weil von der japanischen Gruppe alle Alternativen ohne Einschränkungen vorgestellt werden konnten. Eigentlich ein ungewöhnliches Unternehmen, denn die Offiziellen mochten diese Art nicht. Sie wollten konkrete Ergebnisse sehen. Alternativen verwirrten nur. Es blieb unklar, warum man diese Vorgehensweise in den mittleren Instanzen erlaubte.

Mit der Altstadtsanierung waren die Japaner nicht ganz einverstanden, da sie wenig Wert darin sahen, dieses Ungemach instand zuhalten. Aber es war das Projekt der deutschen und der britischen Gruppe, die sich bemühten, ein Konzept für den Rest der Altstadt Al-Karkh zu entwickeln.

Über den Stand der Planungs- und Bauentwicklung konnte man sich am besten während des Mittagessens informieren. Dafür stand ein kleiner Raum zur Verfügung.

Huhn wurde fast täglich angeboten. Woher diese Massen kamen, konnte und wollte man nicht wissen.


Städtebaulicher Kontext von Al-Karkh

 

Al-Karkh

 

 

Masterplan Al-Karkh

 

Masterplan Haifastraße**

 

Ausschnitt Al-Karkh und Haifastraße

 

Gebäudetypologie Haifastraße***

 


Al-Karkh

Al-Karkh ist ein westlich gelegenes Wohngebiet und in Al-Rusafa, auf der anderen Seite des Tigris, befindet sich der Hauptbazar der Stadt, dürftig ausgestattet und mit einigen Läden, die nur mittelmäßig instandgesetzt waren.

Der Bazar funktionierte weder formal noch funktional. Denn er war weder eine architektonische Einheit noch existierten die traditionellen Stände und Einrichtungen. Gleichwohl gab es einige Läden, welche der Tradition entsprechende Waren anboten.

Einige der Älteren erzählten von der vergangenen Schönheit des Bazars. Diese Schönheit war nicht mehr da. Alles war verkommen und eigenartig zurechtgezimmert. Vor den geschlossenen Läden sammelte sich Abfall jeglicher Art.

Der Schriftsteller Eli Amir beschreibt in seinem Roman »Der Taubenzüchter von Bagdad« die Atmosphäre eines jüdischen Bazars, die in allen Bazaren ähnlich empfunden wird. »Das geschäftige Treiben dort setzte bereits vor Sonnenaufgang ein und währte bis weit nach Sonnenuntergang ... Es waren Hunderte von Ständen, jeder mit seinen eigenen Farben und Düften. Lastenträger mit Körben voll Obst auf ihren Köpfen schrieen den Einkaufenden zu, ihnen Platz zu machen; Esel brüllten in die Menschenmenge hinein, die ihrem Karren den Weg versperrten; überall hörte man hitzig feilschende Kunden; sich lautstark unterhaltende Personen; vor Freude über ein Wiedersehen mit alten Freunden aufkreischende Frauen; fluchende, in dem Gedränge steckengebliebene Petroleumwagenfahrer; das Gezisch der Gaskocher in den Teeläden; das tiefe Prasseln der Backöfen - ohne diese Sinfonie von Klängen wäre der Suk so öde und ausgestorben gewesen wie am Sabbat und an jüdischen Feiertagen, wenn er geschlossen war.« (Europa Verlag München Wien, 1999, S.18)


Der Bazar in Al-Rusafa hingegen befand sich in einer eigenartigen Phase. Der Staat wollte ihn nicht, denn er repräsentierte die Macht einer ökonomisch-religiösen Institution. In Teheran sagte man, wenn der Bazar hustet, hat die Stadt eine Erkältung. Man sah in der Struktur der Organisation des Bazars die Macht der Religion und ihrer Institutionen. Sie passte nicht in den Kontext der ökonomischen Vorstellung der Baath Partei. Die Partei der »Wiedergeburt« sollte ein panarabischer Sozialismus sein. Industrialisierung und Verstaatlichung waren das Credo der Ökonomie. Kleinhändler wurden nur rudimentär berücksichtigt.

Auf der anderen Seite des Tigris im Al-Karkh beklagten die Intellektuellen den Zerfall der Häuser und die Degradierung des Quartiers durch die »Unterprivilegierten«. Dass sie es gewesen waren, die das Quartier verlassen hatten, um in anderen, besseren, moderneren Teilen der Stadt zu wohnen, war bekannt, nun wollte man aber auch nicht mehr zurück in jenes Quartier, das inzwischen erheblich an sozialer Qualität verloren hatte. Dieser Prozess ist geradezu exemplarisch für die Altstädte in der arabischen Welt.

Auch in Al-Karkh findet man die eigensinnigen baulich-räumlichen Strukturen der labyrinthartig angelegten Altstadt vor. Die zweigeschossigen Bauten schwingen sich in die engen und sehr engen Gassen hinein. In der Hitze sammeln sich die Frauen in den schattigen Bereichen, um das Essen vorzubereiten und die letzten Neuigkeiten auszutauschen. Wäre der Lärm aus der Haifastraße nicht, so könnte man annehmen, dass sich genau hier der Orient befindet. Der schlechte qualitative Zustand der Häuser und Gassen entsprach der allgemeinen Haltung. Sanierung historischer Quartiere war hier kein Bestandteil der städtebaulichen Strategie. Ein Verhältnis zur Vergangenheit – zur materiellen Kultur – kannten nur einige Ausgewählte. Religiös-rituelle Orte wurden in der Regel geschützt, aber die Bedeutung der physischen Realität des Vergangenen wurde sichtbar ignoriert. Gebäude, Ornamente, Ziegelverkleidungen etc. verfielen oder wurden nur behelfsmäßig instand gesetzt. Das Vergangene ist weniger in der baulich-räumlichen Struktur der Stadt zu finden als in den historisch-heroischen Daten der Geschichte und der Religion.


In unmittelbarer Nähe der Haifa-Straße, einer Straßenschneise, die an Hausmanns Pariser städtebauliche Eingriffe erinnerte und von Saddam Hussein mit dem Hinweis verbunden war, dass es Haifa in Israel noch zu erobern gelte, entfaltete sich eine bauruinöse Schlacht von Restflächen, rudimentär festgehaltenen Bauten, durchschnittenen Gebäuden mit ins Nichts laufenden Öffnungen und immer wieder kleinen und größeren Löchern, die mühselig mit Brettern verdeckt wurden.

Dort wo es möglich war, öffnete sich ein Lebensmittelladen mit wichtigen Angeboten, deren Verfallsdaten längst der Geschichte angehörten. Diese noch nicht gestaltete Schneise war ein Ort Aller. Die Männer, die verschleierten Frauen und die Kinder aus Al-Karkh, die Arbeitsuchenden, die Bettler und teilweise die Bauarbeiter der internationalen Firmen begegneten sich hier. Diese Schneise war ein Nicht-Ort und sollte später zu einer Pufferzone werden zwischen der Altstadt und der Haifa-Straße.

Die Pufferzonen an diesen Orten der Welt zeichnet eine besondere Qualität aus. Sie sind formal nicht zugeordnet und somit existieren keine Eigentumsrechte. In der Altstadt gibt es das Prinzip kommunaler Selbstverwaltung. Eine nicht festgelegte, aber von allen Seiten befolgte Verantwortung, wenn es um Schlichtung von Streitigkeiten, oder anderen Dingen, die für das Wohlbefinden der Gemeinschaft notwendig sind geht.

Diese Nicht-Orte entwickeln sehr bald ein Chaos widersprüchlicher Nutzungen. Neben Müllhaltestellen sammeln sich unterschiedliche Aktivitäten. Ein Ort, der zu vermeiden ist, vor allem, wenn es dunkel wird. Gewöhnlich entfalten sich hier die Kleinkriminalität und der Drogenhandel.

Die Haifastraße, die sich in der Phase ihrer baulichen Entfaltung befand, bot ein buntes Bild architektonischer Fantasien. Hochbauten aus Stahlbeton mit arabisierender Fassade gestalteten das bunte Faltblatt, das die Baufirmen zur Ansicht boten.


Einige Gebäude waren bereits fertiggestellt und bewohnt. Die jetzigen Bewohner wohnten zuvor in unmittelbarer Nähe und ihre Häuser waren zum Abriss freigegeben worden. Wie solch eine Durchführung unter der gegebenen politischen Struktur vonstatten gegangen sein muss, kann man sich ohne Mühe vorstellen. Ablehnung war mit Strafen geahndet worden.

Die Gestaltung einiger Neubauten entsprach den traditionellen Gewohnheiten:

Zwei- bis Vierzimmer-Apartments wurden samt überdimensionierten Plüschmöbeln von einer Überzahl von Familienmitgliedern bewohnt. Überraschend war es zu beobachten, wie das Treppenhaus als Erweiterungsraum benutzt wurde. Restmöbel, Teppiche und Müll fanden ihren Platz und verengten den Raum erheblich. Dieser Bereich war undefiniert. Das Treppenhaus gehörte niemandem. Ergo war es unkontrolliert und dem privaten Bedarf ausgesetzt. Nachbarschaftsstreit fand hier ein weites Betätigungsfeld, denn es war leicht, die nicht gewollten Gegenstände so zu stapeln, dass eine Weiternutzung der Treppe weder nach oben oder nach unten möglich gewesen wäre. Die Kinder hatten ihren eigenen Spaß und verteilten den Müll großzügig auf den Stufen. Diese und ähnliche Situationen kennen wir auch aus den Sozialbauten in Johannesburg oder Sao Paulo, um nur zwei Beispiele zu nennen. Treppenhäuser werden als Erschließungsflächen angenommen und zugleich eigenwillig genutzt.

Die Haifastraße entsprach einem Schlachtfeld von Bau- und Abrisstätigkeiten. Es wurde abgerissen, abgetragen, gestampft, verlegt, gemauert, gehämmert und betoniert. Daraus entstand ein Chaos von Aktivitäten, welches besonders durch Betonmischer, Kräne, Lastwagen und Karren einen besonderen Charakter bekam.


Man sah die Geschäftigkeit, ohne sie deuten zu können. Die Vogelperspektive fehlte, denn nur aus der oberen Sicht konnte man den Aushub, den Neubau und die eigenartige neue Verkehrsordnung erkennen.

Eklatant war der Bau- und Abrissverlauf, denn das Geplante wurde selten realisiert. Einige Vorgaben waren aus unerfindlichen Gründen im Zeitplan, andere stagnierten eher. Dieser Rhythmus änderte sich stetig: mal glaubte man, das eine Gebäude werde bald soweit sein, mal das andere.

So kamen die Arbeiter und Techniker in Scharen und verließen die Baustelle ebenso. Ein wiederkehrender Ablauf, der kaum zum Stillstand kam.

Bis heute sind die Wohnverhältnisse der Arbeiter in der reichen arabischen Welt gleichgeblieben. In einer Art »Gated Community« werden sie untergebracht. Unter anderem werden Container mit 12 - 14 Betten bereitgestellt, die unter der erbarmungslosen Sonne das Schlafen kaum ermöglichen. Menschenwürde spielt eine untergeordnete Rolle. Es geht ja nur um Arme und Ausgelieferte aus anderen Ländern.

Obwohl strategisch nicht ganz bedacht, sollte aus der Haifastraße eine Art Einkaufsstraße werden: das Erdgeschoss war gänzlich für Kommerz und Dienstleistung vorgesehen und im Obergeschoss waren Wohnungen geplant. Wohnungen, die man aus den europäischen Plattensiedlungen kennt. Auch in diesem Kontext spielten die eigenen Gewohnheiten eine geringe Rolle, denn sie widersprachen der Vorstellung einer sogenannten Entwicklung. Durch das neue Wohnen sollten die Menschen modernisiert werden.


Der Rohbau vermittelte eine Vorstellung der räumlichen Verteilung im Erdgeschoss. Manche Läden erschienen überdimensional groß, andere relativ klein. Ein Muster war nicht erkennbar. Auch in der Höhenanordnung der Bauten war eine Gemeinsamkeit nicht ersichtlich. Der Grund lag wohl daran, dass eine vorgegebene gemeinsame Entwicklungsstrategie fehlte.

Das eigentliche Ziel der Stadtverwaltung war die Straßenführung durch die Altstadt, denn sie zerlegte die dichtbebaute Struktur und ermöglichte eine bessere Erschließung der Restflächen. Die neue Hochbaustruktur hatte keinerlei Bedeutung für die Behörden. Sie erfüllte ihre Signifikanz dadurch, dass sie als modern erachtet wurde.

Der Planungsgruppe, die für Al-Karkh eingesetzt worden war, fehlte zunächst eine Idee, mit diesem Dilemma umzugehen. Die Realität zeigte eine Restfläche des Altstadtteils, durch eine Schneise geteilt. Wie sollten nun die historischen Bauten mit der Hochbaureihung zusammen gebracht werden? Ein Experte aus der Schweiz hatte vorgeschlagen, die bestehenden Rohbauten abzureißen und entlang der Haifa-Straße die Altstadtstruktur wieder zurückzubauen. Er fand die Altstadtzerstörung brutal, diese müsse man stoppen. Ein Vorschlag, den alle mit Humor aufnahmen, um zur Tagesordnung zurückzukehren.


Der Gedanke, die Altstadt zu schützen und instandzusetzen, fehlte gänzlich. Auch die Diskussion über die Signifikanz historischer Schichten, die eine Stadt prägen und unter anderem ihre Geschichte erzählen, gewann wenig Zuspruch. Die materielle Kultur hatte kaum eine Bedeutung, denn Stadtentwicklung war jetzt und Relevanz hatten nur jene Projekte, die gerade in Planung und Realisierung waren. Wichtig waren Infrastrukturprojekte, Verwaltungsbauten, kommerzielle und kulturelle Zentren. Wohnungsbau für die Masse der einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen war nicht eingeplant. Auch in Kriegszeiten war der Standard der Krankenhäuser miserabel.

In Al-Karkh sollte die Modernisierung erfolgen: würdige, historische Gebäude sollten saniert, Sanitäranlagen, Straßen und Plätze erneuert werden. Nach der Haifastraße im südlichen Teil sollten auf der Basis der Typologie der historischen Bauten neue Wohnhäuser entstehen. Alles Pläne, die angesichts der schnellen Entwicklung der Haifa-Straße bloße Ideen waren.

Während des letzten Krieges 2003 wurde die Haifastraße zu einer Kampfzone. Ihre Wohngebiete galten lange als Widerstandsorte. US-Soldaten bezeichneten dieses Gebiet als »Purple Heart Boulevard«, denn hier hatten sie ein Übermaß an Verletzten und Toten.

In dieser Straße wurde vieles mutwillig zerstört und wieder aufgebaut.

Nun hofft man auf ein Ende der Zerstörung und einer behutsamen städtebaulichen Entwicklung.


Konferenz

Der Durchbruch der Haifastraße in Al-Karkh, die Entwicklung der Hochbauten entlang der Straße und die Sanierung der Altstadt gehörten zu den großen Projekten in dieser Zeit. Ergänzt wurden sie durch den Museumsbau, den Bau einer großen Moschee, Straßenverlegungen und die Entwicklung der Abu Nawas Straße.

Diese Straße wurde nach dem Dichter Abu Nawas (757-815 n.Chr.) genannt, der in Bagdad, im Zentrum der arabischen Literatur lebte. Seine Gedichte bewegten sich zwischen der Glorifizierung von Wein, Liebe und Religion. Seine kritische Haltung brachten ihn in eine schwierige gesellschaftliche Situation, denn er verfuhr nicht zimperlich mit der Herrschaft. Er starb durch Folter.

Eine der wichtigsten Straßen in Bagdad wurde nach dieser besonderen Person benannt; einer Person, die furchtlos gegenüber der Obrigkeit war. Möglicherweise eine perverse Haltung der Herrschaft. Sie bewunderten subtil den Mut dieser Menschen, die sie brutal verfolgten, bestraften und in der Regel töteten.

Abu Nawas ist eine Straße, die sich vom östlichen bis zum südlichen Teil entlang des Tigris zog. Ein Teil dieser Straße galt als städtebauliches Entwicklungsgebiet. Hier sollten exklusive Wohnbauten, Hotels, Restaurants, Schwimmeinrichtungen, Parks, Flaniermeilen, öffentliche und private Häfen entstehen mit Segelbooten, die den Tigris bestückten. Es sollte ein Erlebnisraum in unmittelbarer Nähe des Zentrums der Stadt sein. Eigentlich wie überall, ein kommerzialisiertes Zentrum in einer arabisch-sozialistischen Gesellschaft.

Nationale und internationale Architekten bemühten sich Konzepte und Lösungen zu entwickeln, die zu jener Zeit als aktuell galten. Dazu kamen natürlich, wie bis heute gewohnt, Elemente arabischer Architekturen. Somit entstand in der Formgebung eine Art eklektischer Entfaltung, die sich in der Gestaltung der Fensterbögen, Arkaden und Ornamente manifestierte.


Dieses Projekt wurde im Dezember 1981 im Rahmen einer Konferenz präsentiert. Internationale Gäste nahmen teil.

In einem halbrunden Gebäude, welches wie ein Theater angelegt war, wurde in einer dramatischen Zeremonie das zukünftige Konzept von Abu Nawas präsentiert.

Während der Präsentation musste der Vortragende plötzlich innehalten. Nach etwa 20-minütiger Stille öffnete sich eine Tür im rechten Teil des Raumes. Einige bewaffnete paramilitärische Einheiten, begleitet von Kameramännern, traten ein; dann folgte der Präsident mit einer Gruppe von Vertrauten. Der gesamte Saal stand auf und applaudierte. Nachdem er in der ersten Reihe Platz genommen hatte, wurde es den anderen erlaubt, sich ebenfalls zu setzen.

Der Bürgermeister betrat gemeinsam mit seinem Stellvertreter die Bühne, begrüßte den Präsidenten in blumiger Form und begann sodann mit seinem Vortrag. Wiederholend erwähnte er die Schönheit und Bedeutung von Bagdad und nannte sie die Mutter aller arabischen Städte. Währenddessen kamen zwei Bewaffnete und servierten dem Präsidenten Kaffee. Entsprechend der Zeremonie trank einer vor, um zu bestätigen, dass keine Vergiftungsgefahr vorlag. Währenddessen begann ein eigenartiges Klappern von oben, das sich zur Bühne hin verstärkte. Es waren Teegläser, die durch das Rühren des Zuckers dieses Geräusch erzeugten. Parallel dazu steigerte sich die Sentimentalität des Bürgermeisters und das Ganze endete in Tränen. Er war übermannt und konnte seinen Text nicht weiterlesen. Sein Vize übernahm die Arbeit. Wiederholt wurde er korrigiert, denn der enthusiastische Elan des Bürgermeisters fehlte und der Text langweilte zunehmend . Während die Tränen liefen, schien auch der Präsident zum Auge zu greifen und die näheren Gefolgsleute machten mit. Nach diesem Geschehen beruhigte sich langsam der Lärm der Teegläser und nach großem Applaus für den Bürgermeister konnte die Präsentation erneut beginnen.

Wohnungsbauprojekte wurden vorgestellt, die Gestaltung des Hafens dargestellt, Hotels, Restaurants und Parkanlagen folgten.

Die städtebaulichen Animationen zeigten die erwähnten Nutzungen, ergänzt um ein Riesenrad, schwimmende Segelboote, Ankerbuchten für private und öffentliche Boote und Spazierwege entlang des Flusses.


Die Animationen platzierten das Foto des Präsidenten strategisch so, dass er stets in besonderer Form wahrnehmbar war. Auch hier merkte man, dass sowohl nationale als auch internationale Büros, wie in den Straßen der Stadt und in öffentlichen Büros üblich, bewusst das Bild des Präsidenten benutzten. Es ging um Projekt-Akquirierung. Eine ewige Pathologie mancher Investoren und Architekten, die den politischen Kontext gänzlich verdrängen.

Eine Diskussion mochte vor dem Präsidenten aus Angst nicht richtig erfolgen. Einige uninteressante Fragen und Kommentare wurden halbherzig gestellt. Ohne einen Hinweis stand er plötzlich auf und winkte wie gewohnt mit seiner rechten Hand zum Publikum und verließ mit seiner Gefolgschaft den Saal. Das Publikum stand auf und klatschte euphorisch zu seinen Weggang.

Dieses Ereignis erschwerte eine kritische Auseinandersetzung um die Konzepte. So folgten die Vorschläge für Abu Nawas ohne eine Bewertung.

Aber nicht nur dieses Projekt auch andere blieben Illusion, denn der Krieg mit dem Iran kostete das Land Menschenleben und Geld. Die Konferenz der »Non-Aligned Countries« wurde im August 1982 abgesagt. Der Grund war, dass proiranische Gruppen angedroht hatten, die Teilnehmer der Konferenz zu töten.

Auch Bagdad nahm zu dieser Zeit nicht die vorgesehene bauliche Entwicklung. So ist es eben, wenn ein Diktator aus Bagdad Paris machen will, ohne zu denken.


Die Rückreise

Der neue Flughafen in Bagdad, von einer französischen Baufirma gebaut, befand sich im September 1982 noch in einer Übergangsphase, weshalb der alte weiterhin für internationale Flüge genutzt werden musste. Er lag etwa 15 km von der Innenstadt entfernt. Räumlich zu klein für die Massen der Arbeiter und Experten, die von Kuba bis Korea ein- und ausreisen mussten. Hier sammelten sich alle Nationen der Welt. Ankunft und Abflug fanden stets in der Nacht statt. Diese Maßnahme resultierte aus dem Krieg mit dem Iran, da angenommen wurde, Flugbewegungen tagsüber schüfen größere Angriffsmöglichkeiten.

Der sprachlichen Vielfalt geschuldet, entfaltete sich in den engen Räumen des Flughafens ein Sprachengemisch, man verstand eigentlich nichts und trotzdem glaubte man im Bilde zu sein.

Der Krieg mit dem Iran hatte die Folge, dass in allen staatlich geführten Institutionen verstärkte Kontrollen vorkamen. Passkontrollen am Eingang zu den Abflugschaltern und die gewöhnlichen Visa-Kontrollen nach der Landung in Bagdad. Dann die Kofferkontrollen.

Entsprechend der Abflugzeiten, die selten eingehalten wurden, war die Zahl der Abfliegenden, die sich teilweise vor dem Eingang des Gebäudes sammelten, erstaunlich groß. So drängten alle danach, schnellstens den Haupteingang zu erreichen. Eine Schlange zu bilden war unbekannt.


Im Inneren des Gebäudes angekommen, begann ein Krieg um die Zugänge zu den Abflugschaltern. Hunderte bewegten sich dorthin. Keiner wusste genau, welcher Schalter für welche Destination zuständig war. Auf gut Glück und mit Hinweisen der Anderen erreichte man nach einiger Zeit einen Schalter. Er konnte der richtige sein, was nicht hieß, dass man gleich dran war. Auch hier begann der übliche Kampf um das Verhandeln des Gewichtes. 20 kg erschien jedem, der über Ammann nach Kairo flog, zu gering. Der Zustand der Waage gab Anlass zu allen Ungenauigkeiten. Treu den Traditionen begann die mühselige Verhandlung über die Höhe des Gewichts. Das Verhandeln hatten die nicht-orientalischen Nationen im Basar kennengelernt und wendeten es hier an.

Als die Prozeduren nach 2-3 Stunden erledigt waren und die Abfliegenden um etwa 1 Uhr morgens sich im Abflugraum befanden, übermannte sie die Müdigkeit. So schwankten die schlafenden Köpfe nach vorn, hinten, links und rechts. Mal war der Mund offen, mal deutete sich ein kommendes Schnarchen an. Dazu kamen die unregelmäßigen Töne der Lautsprecher, die Wichtigkeiten meldeten. Weder in Arabisch noch in Anglisch konnte man die Informationen verstehen. Mit Hilfe der Anderen versuchte man sie zu deuten.

Kein Lautsprecher war entsprechend seiner Konstruktionsanleitung angebracht. In der Regel waren sie unter der Decke eigenartig montiert. Manche wurden im Laufe der Projektrealisierung verkehrtherum angebracht. In diesem Fall ging der Ton nicht nach unten, sondern zur Decke. Spinnen, Mücken, Fliegen und Wespen ergänzten die Ästhetik der Lautsprecher auf ihre besondere Art.

Eigentlich hat sich keiner auf die Lautsprecher verlassen, denn die Beamten mussten in jedem Fall noch kommen, um vor jedem Abflug die Pässe zu kontrollieren. Die einen konnten zum Flugzeug passieren, die Anderen mussten für zusätzliche Informationen warten. Einige wurden in besondere Räume gebracht. Über ihr Schicksal wollte man lieber nichts wissen.


Wie eine Befreiung erschien dann die Landung in Amman. Ein Flughafen, der in morgendlicher Ruhe etwas Urbanes vermittelte. Die ersten Cafés und einige Läden öffneten bereits. Danach setzte man mit unterschiedlichen Fluggesellschaften die Reise fort.

In Europa angekommen begann die Resozialisierung. Nach einiger Zeit stellte man fest, dass die Normalität in der Sprache eigenartige Züge angenommen hatte. Man begann mit der Selbstzensur, denn nicht alles konnte öffentlich besprochen werden. Ein Phänomen, das man auch in der islamischen Welt gut kennt. Vieles kann schnell blasphemisch klingen. Innerhalb eines Satzes wird selten der Bezug zu Gott versäumt. Aber nicht nur das war das Problem. Der Name Saddam Hussein, höhere Persönlichkeiten der Partei und gar die Baath Partei durfte neben der Religion ebenfalls nicht erwähnt werden.

Wenn es klar war, dass man nicht zurückkehren würde, begann man nach einigen Wochen in die Normalität zurückzukehren.

Die Selbstzensur ist für Menschen, die kritisch und politisch denken, eine bekannte Realität. Dennoch glaubt man bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht daran, solche Dinge selbst zu befolgen. Generell existiert das Phänomen der permanenten Selbstzensur: man vermeidet es, öffentlich den Lehrer, den Vorsitzenden, etc. zu kritisieren. Alles geschieht im Verborgenen. Trotzdem gibt es viele Themen, die öffentlich kritisch debattiert werden könnten. Dies ist eine Errungenschaft der europäischen Gesellschaft, die andere Traditionen so nicht kennen.