Jede Stadt ist eine Welt für sich, eigenständig, ein Theater, ein klingendes Universum. Variierend in der Wahrnehmung und in der Art und Weise, ein Phänomen aufzunehmen, zu empfinden und zu verarbeiten. Städte sind also per se different, auch durch noch so strenge städtebauliche Maßnahmen kann man sie nicht vereinheitlichen.

Stadt ist immer nach sozio-kulturellen Inhalten geschaffen. Ökonomie, Kultur, Religion etc., können den Rahmen geben. Topographie, Vegetation und Klima stellen die Voraussetzungen für eine Besiedlung. Das Ziel ist es, stets dem Ort einen Geist zu geben. Und je bedachter dieser Geist gewählt wird, umso wirtlicher und nachhaltiger kann sich die Stadt entfalten.

Die Stadt wurde besungen, beklagt, zerstört und wieder aufgebaut. Sie bleibt bis heute ein Anziehungspunkt für alle, die ihr Leben in die eigene Hand nehmen wollen.

Sie steht im Mittelpunkt des Universums. Für dieses Jahrhundert wurde ein rapides Wachstum der Städte prognostiziert. Die Zukunft ist die Stadt.

Schriftsteller entscheiden sich häufig für die Stadt mit ihren baulich-räumlichen Zusammenhängen als Ort ihrer Erzählung. Dabei nehmen sie sich entweder die ganze Stadt vor oder wählen ein Quartier, ein Haus oder ein spezifisches Thema als Grundlage ihrer Geschichten aus.

Xiaolo Guo geht in ihrem Buch »Stadt der Steine« auf Beijing ein und schreibt: »Im Sommer gleicht Beijing einer heißen Backtomate, die frisch aus dem Ofen kommt [...] Und dann die Geräusche der Stadt, Lärm in allen Lautstärken [...] Der Lärm lässt die Temperatur noch höher schnellen und verwandelt die Stadt in einen riesigen Brennofen, aus dem die Hitze niemals entweicht.«1 »Beijing wächst immer weiter [...] Die Gerüste der neuen Wolkenkratzer steigen höher und höher in den Himmel, bis sie sogar in die Flugrouten von niedriger fliegenden Maschinen ragen.«2

Fast unbemerkt platziert Guo eine Kritik an der Entwicklung Beijings und beschreibt subtil die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit dem Stadtbild. Umweltverschmutzung, dramatische Wohnbedingungen der Armen und der ungezügelte Hochbau verändern die Stadt täglich.

Alaa al-Aswani beschreibt in seinem Buch »Der Jakubuijan-Bau« ein Haus in Kairo und die konfliktgeladenen Geschichten seiner Bewohner. »Im Jakubuijan-Bau lebte in der Folgezeit die Creme der ägyptischen Gesellschaft. Minister und landbesitzende Paschas, ausländische Industrielle und zwei jüdische Millionäre«.3 »Diese Nutzung florierte vier Jahrzehnte lang, dann ging es nach und nach bergab«.4 »Mit der Revolution von 1952 änderte sich alles. Juden und Ausländer verließen nach und nach Ägypten, und jede Wohnung, die durch die Abwanderung ihres Inhabers frei wurde, riss sich einer dieser Offiziere der Streitkräfte unter den Nagel [...] Manche dieser Ehefrauen stammten aus sehr einfachen Verhältnissen und fanden nichts dabei, dort Kleintiere wie Kaninchen, Enten oder Hühner zu halten.«5

Alaa al-Aswani beschreibt die Geschichten um Personen und Familien, deren Gemeinsamkeit darin bestand, im Laufe der Zeit in diesem luxuriösen Haus gelebt zu haben. Durch die Ehefrauen der Offiziere, die aus Dörfern stammten und denen das urbane Leben fremd war, veränderte sich die Nutzung der Räumlichkeiten. In diesem Haus werden alle politischen Wandlungen des Landes manifest. Das Buch ist ein Politikum und beschreibt die Verhältnisse Ägyptens, insbesondere in der Zeit unter Husni Mubarak.

María Sonia Cristoff erwähnt in ihrem Buch »Unter Einfluss« fast beiläufig das Problem der Umweltverschmutzung, die Buenos Aires vergiftet. So äußert der Protagonist ihres Romans, der Künstler Cecilio: »Er könne gar nicht genug davon bekommen, in vollen Zügen die verseuchte Großstadtluft einzuatmen, alles, was eine untergehende Metropole eben an postindustriellem Auswurf so in den Himmel puste [...] Er habe sogar vor, sagte Cecilio, testamentarisch festzulegen, dass man ihn nach seinem Tod einbalsamieren solle, damit nach Ablauf von fünfzig Jahren künftige Großstadtarchäologen seine Lunge als Studienobjekt nutzen könnten. Sie sollten von den einstigen Verhältnissen in Buenos Aires zeugen: Lungenbläschen, -fell, -wurzel und -lappen, sowie die Bronchien sollten davon berichten, was seinerseits in dieser Stadt hergestellt und an die Umwelt weitergegeben worden sei.«6

Schriftsteller nehmen sich in ihren literarischen Darstellungen den Fragen nach Umwelt, digitaler Vernetzung und urbanen Kontrollen an. Die Literatur ist eines der wenigen gesellschaftlichen Entwicklungsplanung in der Stadt benötigt Zeit, um realisiert zu werden. Physisch gesehen kann alles relativ schnell gehen, aber die Relevanz der Maßnahmen und die gesellschaftliche Akzeptanz sind Hürden, die nach einem gewissen Konsens suchen. Gerade diese Einmütigkeit ist ein Teil der gesellschaftlichen Vereinbarung, nach der wir in Europa zusammenleben. Demnach werden in der Regel Maßnahmen ergriffen, die ein positives Miteinander erzeugen.

Auch die Zeit ist ein bestimmender Faktor für die Stadt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nur ein zartes Hauchen der Bäume erweckt Erinnerungen und Assoziationen, die über die aktuelle Zeit hinausgehen können. Erinnerungen werden wachgerufen, die mit dem „jetzt“ rudimentär im Kontext stehen. Somit schaffen wir eigene Wahrheiten, Ambivalenzen und Erzählungen. Wir gehen bewusst oder unbewusst mit diesen Ereignissen um.

Der städtische Raum ist in der Regel kontextuellen Gegebenheiten unterworfen. Bekanntlich besteht er aus zwei getrennten Bereichen, die in ihrer Gestaltung sehr unterschiedlich sein können. In der Stadt gibt es die Dialektik zwischen öffentlichem und privatem Raum. Beide Teile können sich unterscheiden, ergänzen oder dramatisch gegensätzlich sein. Der jeweilige Raum bestimmt die Identität der Persönlichkeit. Er schafft ein weites Feld von Erzählungen, die über das eigene »ich« hinausgehen können. Er ermöglicht assoziative Interpretationen.


Bekanntlich ist die Stadt ein Ort von Chancen und emanzipatorischer Entfaltung. Aber auch ein Ort von Konflikten, Ort von Bedrohung und Existenzangst, Ort des Scheiterns und Verlierens, der Vereinzelung und des Ausgeschlossenseins. Somit bewegt sich die Stadt auf einem Grat der Extreme. Eine Qualität, die über das Alltägliche hinausgeht. Scheitern, Mittelmaß und Erfolg begegnen sich täglich. Sie gehören zueinander und schaffen die Atmosphäre, die Urbanität der Stadt. Eine Urbanität, die häufig vergraben bleibt, denn die Welt wird nach wie vor von vielen Diktaturen geregelt. Es ist also die urbane Kraft des Subversiven, die immer wieder Potentiale entfaltet, die Stadt in ihrer Komplexität zu verstehen. Doch nur wenige haben die Möglichkeit, die Stadt zu dechiffrieren. Denn der Grad der Bildung und der Zugang zu Informationen bleiben beschränkt. Die Stadt wird nicht erklärt. Es geschehen Dinge, die allein in den Phantasien der Mächtigen ihren Sinn finden.

Einzig die Kunst besitzt die Kraft, diese Phantasien zu dekonstruieren. Sie bewegt sich im Bereich des Verbots. Sie unterliegt häufig Zensur, Missachtung und Vertreibung sind Ergebnisse dieses Unterfangens. Unter den repressiven Umständen zu bestehen, scheint ein besonderes Unterfangen zu sein. Angst wird eine alltägliche Realität, mit der die Protagonisten umzugehen lernen müssen. Die Schriftsteller befinden sich in einer besonderen Situation, sie müssen sprachlich mit den Ebenen jonglieren. Ihre Aussagen sind klar, assoziativ und setzen Schichten zusammen, die nur die Eingeweihten im Kontext verstehen.

Ebenso fungiert die Stadt als Bühne. Der öffentliche Bereich ist der Ort der Inszenierung. Frau, Mann und Kind begeben sich in die Öffentlichkeit und addieren zusätzliche Verhaltensmuster, um Signifikanzen zu schaffen. Öffentlichkeit ist das »Draußen«, und ohne es zu bemerken, verändert sich durch einen Ortswechsel das Verhalten. Bewusst oder unbewusst entstehen Charakteristika, die sich dem Verhalten zuordnen. Das »Draußen« bekommt eine Eigenschaft, die genauestens kodiert ist. Wir sind also das »Andere« und gehen auf die gesellschaftlich festgelegten Normen ein. Somit übernehmen wir Rollen, um auf der Bühne des öffentlichen Raumes einen eigenen Beitrag zu leisten.

Das »Innere«, also das Private, bleibt verschlossen und kann mit Hilfe anderer Informationen entschlüsselt werden. Im Allgemeinen bleibt diese Ebene verborgen. Der Privatbereich ist geschützt und kann nur rudimentär dekodiert werden.

Victor Hugo schreibt in seinem Buch »Der Glöckner von Notre-Dame«:
»Die Renaissance mit dieser strengen und doch so vielgestaltigen Einheit den phantastisch-blendenden Reichthum ihrer Formensysteme, den kühnen Schwung ihrer romanischen Rundbogenformen, griechischen Säulenordnungen und spätgotischen Bogenspannungen, ihre anmuthige und doch so ideale Sculptur, die eigenthümliche Neigung für Arabesken und Leibverzierungen, den heidnischen Baustil im Zeitalter eines Luther zu verbinden begann, da war Paris vielleicht noch prächtiger, wenn auch nicht so harmonisch für Auge und Sinn. Aber dieser prächtige Zeitpunkt ging bald vorüber: die Renaissance wurde vorherrschend; sie begnügte sich nicht mehr damit, Bauwerke aufzuführen, sie wollte solche auch niederwerfen; wahr ist, dass sie Platz brauchte. [...]
Seitdem hat die gewaltige Stadt angefangen, sich von Tag zu Tag zu verändern. Das Paris im gotischen Stile, unter welchem das romanische Paris verschwand, ist seinerseits vertilgt worden: aber wer kann sagen, was für ein Paris an seine Stelle getreten ist? «7 »Das jetzige Paris hat demnach keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern.«8

Hier beschreibt Victor Hugo seine Vorstellungen von Paris und den städtebaulichen Veränderungen dieser Metropole. Hugo bezieht sich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Romanhaft beschreibt er die Entwicklungen, die er beobachtet. Auf die Zukunft bezogen wird er geradezu hellsichtig, denn seine Beschreibungen bewahrheiten sich als Teil einer städtebaulichen Entwicklung, die ganz Europa ergreifen wird. Die poetische Ästhetik des Textes reizt zur Überprüfung des Geschriebenen. Man möchte die Stadt aus der Vogelperspektive anschauen, um Victor Hugos Paris zu erkennen. Diese Darstellung ist in Erzählungen eingebettet, die eine eigene Kraft haben und uns ein eigenes Bild der Stadt vermitteln. Doch wird nicht nur das Schöne, sondern auch jene Atmosphäre beschrieben, die problematisch erscheint.

Es gibt Stadtteile, die per se zu meiden sind. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen stigmatisiert: Sie können zu den Armenquartieren der Stadt gehören, sie können auch von einer ethnischen Gruppe bewohnt sein, die nicht jeden Zugang positiv bewertet oder zu jener Gruppe zählen, deren Bevölkerung eher dem Nachtleben zugeneigt sind.

Positives und Negatives beschleichen die Stadt und bieten genug Material zu reflexiver Auseinandersetzung. Zugleich geraten die Städte aus dem bekannten Rahmen und werden zu Agglomerationen, die wir in der heutigen Dimension so nicht kennen. Megastädte sind nicht mehr eine rein übervölkerte Stadt, sondern eine Megastruktur, mit einer Größenordnung von über zehn Millionen Bewohnern. Sie sind nicht mehr überschaubar, wir kennen diese Städte kaum. Wir kennen nur Bereiche der Stadt. Unbekannt sind die Dimensionen des Hungers und der Angst. Aus einer gewissen Abstraktion erahnen wir die alltägliche Kraft des Hungers, wenn Tausende von Menschen in einer Stadt nach Essen suchen.


Zugleich haben sich die Parameter in den Megastädten geändert. Für eine Stadt wie Mumbai bedeutet dies einerseits, dynamischer Mittelpunkt der Ökonomie des Landes und gleichzeitig durchdrungen zu sein von einer Dimension der Kriminalität und Armut, die bislang unbekannt war. Die Stadt ist undurchsichtig geworden. Ihre physischen Dimensionen überschreiten jegliche Vorstellungen von einer Stadt. Viele bekannte und unbekannte Schichten überlagern sich hier. Wenn Suketu Metha von »Maximum City – Bombay« spricht, dann meint er die Unendlichkeit der Vielfalt. Urbanes und Rurales treffen aufeinander. Von Hightech bis Viehzucht sammelt sich alles in der Stadt.

Ob sie schon zur Hölle geworden ist wie Karatschi, bleibt eine Frage. Ein Taxifahrer in Karatschi sagte, dass etwa zwei Drittel der Stadt schon zu Gefahrenzonen zählen. Eine wunderbare Beschreibung findet man in Chalid al-Chamissis »Im Taxi«9 über die Taxifahrer in Kairo. Sie sind geradezu Philosophen, wenn es um den Alltag und die Geschehnisse der Stadt geht.

Interessant ist, dass in vielen Städten der Welt fast die Hälfte der Bewohner in Verhältnissen lebt, die jeglichen basalen Grundstandards des Wohnens widersprechen. Wohn- und Lebensverhältnisse könnten bei weitem besser sein, aber die sozial-ökonomischen Bedingungen widerlegen diese Vorstellungen. Die Frage bleibt, wie Armut in der Gesellschaft zu definieren ist. Es ist erstaunlich, dass viele Stadtgesellschaften diesen Aspekt außer Acht lassen. Dabei kann man Stadtteile aufsuchen, um diese Lebenswirklichkeiten wahrnehmen zu können. Es gibt Stadtteile, die von der Verwaltung gänzlich abgeschnitten sind. Sie sind bloß da und prägen die Stadt trotzdem.

Stadt bleibt ein eigenartiges Gebilde. Sie ist beharrlich und erträgt vieles. Sie bewahrt alle Erinnerungen. Die Straßen und Bauten könnten uns erzählen, was in ihnen und vor ihnen geschehen ist. Freude, Trauer und Banales treffen sich an diesen Orten. Es ist die Kraft der Schriftstellerin und des Schriftstellers, diese Orte in ihrer Komplexität und auf der Basis genauer Recherchen zu thematisieren. Sie nehmen die recherchierten Informationen auf und transformieren sie in Geschichten, die eine mögliche Wahrheit darstellen. Jede Geschichte unterliegt der Interpretation des Schreibenden. Der Leser wiederum interpretiert erneut, macht sich ein Bild und durch diese Wahrnehmungen werden die Geschichten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. So bekommen alle dargestellten Rollen einer Geschichte ihren Raum und bleiben untrennbar von der eigentlichen Erzählung Teil des Geschehens.

José Eduardo Agualusa schreibt in seinem Roman »Barroco Tropical«:

»Luna, Mond, nennen wir unsere Stadt manchmal zärtlich.
Ich finde, das passt. Luanda und der Mond sind gleich trocken, gleich dürr, gleich trostlos und ersticken in Staub.
Und doch erscheint uns Luanda genau wie der Mond aus der Ferne schön, strahlend und anziehend. Und ihr Licht besitzt dieselbe, rätselhafte Macht, Menschen zu Wölfen zu machen.«10

Stadt bleibt ein unteilbarer Raum durch ihre Komplexität. Sie ist poetisch und romanhaft zugleich.

 


Anmerkungen