Mein Kopf dröhnt. Noch immer warte ich, gleich ist es zwölf Uhr. Da hätte ich getrost noch etwas liegen bleiben können. Mein Handgelenk tut weh, wie soll ich das nur mit der Kamera machen. Und dann endlich fahren wir los. Mit jedem Kilometer vergesse ich meine Schmerzen ein wenig. Ich beginne meine Umgebung durch das Kameraobjektiv zu quadrieren. Die Müdigkeit in Kopf und Gliedern ist ebenso verschwunden wie die Sorge ums Handgelenk. Nach einer langen Fahrt passieren wir das Ortsschild Lichtel, eine schmale Straße führt aufwärts. Es ist bereits dunkel. Das Haus leuchtet einladend, wenn auch ein wenig einsam am Straßenrand. Schnee bedeckt den Bürgersteig und die Zweige der Bäume. Paul öffnet uns die Tür.

Lichtel, 16. 11. – 20.11. 2007

1. Tag

Mein Kopf dröhnt. Noch immer warte ich, gleich ist es zwölf Uhr. Da hätte ich getrost noch etwas liegen bleiben können. Mein Handgelenk tut weh, wie soll ich das nur mit der Kamera machen. Und dann endlich fahren wir los. Mit jedem Kilometer vergesse ich meine Schmerzen ein wenig. Ich beginne meine Umgebung durch das Kameraobjektiv zu quadrieren. Die Müdigkeit in Kopf und Gliedern ist ebenso verschwunden wie die Sorge ums Handgelenk. Nach einer langen Fahrt passieren wir das Ortsschild Lichtel, eine schmale Straße führt aufwärts. Es ist bereits dunkel. Das Haus leuchtet einladend, wenn auch ein wenig einsam am Straßenrand. Schnee bedeckt den Bürgersteig und die Zweige der Bäume. Paul öffnet uns die Tür. Er ist sehr groß. Sein ganzes Sein scheint zu lachen und zu strahlen. Er verströmt Herzlichkeit und erinnert mich an ein Märchenwesen. Wir werden in die erste Etage geleitet und da sehe ich H. zum ersten Mal. Auf mich macht sie einen scheuen, gleichzeitig auch sehr bestimmten Eindruck. Ein zartes Wesen, das flüchtig erscheint, um sogleich wieder zu verschwinden.

Paul, Renate, Nicoletta und ich brechen zu einer Gaststätte auf. Im schummerigen Licht bei Essen und Trinken kommt das Gespräch auf den nächsten Tag: den Filmdreh. Paul soll begreifen, dass ich keine einfache Wiedergabe der Wirklichkeit beabsichtige. Ich denke auch nicht, dass das möglich wäre. Im Film wird alles wie durch mein Auge erscheinen, nicht zuletzt geformt durch den Schnitt. Paul trägt den alten Konkurrenzkampf der Künste aus.

Als Maler, Medium kreativer Visionen, unterstellt er dem Film, den Menschen Illusion als Realität anzudrehen und sie mit falschen Bildern zu betrügen. Doch was ist Realität? Gibt es denn so etwas wie objektive Wirklichkeit? Kann der Film etwas wirklich erscheinen lassen? Wie auch immer, mein Anspruch geht dahin, meine eigene Wirklichkeit zu erschaffen, als Perspektive auf die Welt, als Seh-Angebot. So gelangen wir zu Pauls tatsächlichen Bedenken. Zur Angst, geistergleich auf einem Material fixiert und dem Blick der Dummheit und der Schamlosigkeit preisgegeben zu werden. Das zielt auf meine Art und Weise, ihn ins Bild zu setzen, meine Absicht, zu filmen, ohne ihn bloßzustellen, aber trotzdem im Wesentlichen zu berühren, schließlich auf meine Fähigkeit einzufangen, was sein Schaffen für mich ausmacht und das Puzzle zusammenzusetzen. Schließlich sind wir uns einig. Ich glaube, er hat ein bisschen Vertrauen gewonnen. Wir bleiben noch etwas sitzen. Da ist sie wieder, die Müdigkeit.

2. Tag/1. Drehtag

Am Vormittag fahren wir zu Paul. Zum ersten Mal betrete ich seine Räumlichkeiten. Es sind drei Zimmer im Dachgeschoss, eins davon ist durch einen kleinen Flur separiert. Im mittleren Zimmer steht nahe dem Fenster ein großer Schreibtisch, beladen mit all möglichen Figuren, selbst angefertigten Stempeln und sonstigen Gebrauchsgegenständen, dahinter eine Bücherwand. Hier lässt Paul sich nieder. Im rückwärtigen Raum steht auf einer Staffelei ein unvollendetes Bild, eine Auftragsarbeit, denn, so Paul, »ohne Auftrag kein Bild«.

Die Kamera ist bereits oben, die Lampen liegen noch im Wagen. Die Räume sind dunkel, ohne Lampen keine Aufnahmen. Vorsorglich habe ich die kleineren ausgewählt. Nicoletta und ich gehen nach unten, passieren H.s Atelier. Wir brauchen nicht viel Equipment, in zwei Gängen müsste alles nach oben zu schaffen sein. Der Lichtkoffer indessen erweist sich als sperrig und nicht gerade leicht. Auf dem Weg durch H.s Atelier werden wir gestoppt. H. will nicht, dass wir filmen. Vom scheuen zarten Wesen des Vortags ist jede Spur verschwunden. Wir drängen. Mir ist, als stünden Pauls Bedenken von gestern Abend wieder auf, als seien es schon immer ihre Bedenken gewesen. Paul mache sich zum Objekt. Ich fühle mich gekränkt. Der Dokumentarfilmer, der skupellos das Innere seiner Opfer zur Schau stellt, ihre Emotionen ausbeutet und vom Leid und Schmerz der anderen lebt – das soll jetzt ich sein? Ich, die ich immer die Fiktion vorgezogen habe, ich, die ich davon überzeugt bin, erst durch die bewusste Illusion zur Wirklichkeit durchzudringen und sie zu reflektieren, emotional und intellektuell, sehe mich dem Vorwurf ausgesetzt, Bilder durch eine Belagerung zu erzwingen.

Einer erfundenen Geschichte gegenüber ist man kritischer, man wagt zu zweifeln, gegebenenfalls zu verbessern. Man kann sich nicht hinter dem Argument verstecken, es sei nun einmal so und nicht anders. Es gilt nicht, was so oder vielleicht anders war, sondern das, was ich zu zeigen vermag. Auch hier will ich nicht dokumentieren, sondern den Geist sichtbar werden lassen, der all diese bewundernswerten, auf vielerlei Weise verschlüsselten Bilder geschaffen hat. Ich wollte meinen Zugang finden, das Geheimnis sichtbar machen und dennoch nicht gänzlich enträtseln. Ich sinke zusammen, bleibe einfach auf meinem Lichtkoffer sitzen, stumm. Neben mir Nicoletta, erstarrt nach einem zaghaften Versuch, die Situation zu wenden. H.s Tochter läuft geschäftig durch das Zimmer, sucht Schuhe und Jacke, drängt zum Aufbruch.

Das Gespräch springt auf andere Künstler. Picasso? Hat sich verkauft. H. redet zu uns und zu Paul, der außerhalb des Gesichtsfeldes bleibt. H. geht und lässt uns geknickt zurück. Paul kommt, bedauernd, doch auch wieder an seine Argumente vom Vortag anknüpfend. Ich bin maßlos enttäuscht. Dann halt kein Film. Ich trage den Lichtkoffer zurück ins Auto. Den Tränen nahe nehme ich die Treppe nach oben. Ich gehe zu Renate: Kein Film! Sie sagt nichts, ich bin bereit zur Abfahrt, und dann: Doch, natürlich, wir finden einen Weg. Einen Film über Paul – ohne Paul. So könnte es gehen. Gespräche auf der Tonebene, Interviews mit Paul, Statements von Freunden und Sammlern. Auf der Bildebene Pauls Arbeiten mitsamt der Umgebung, in der sie entstanden sind. Die optische Abwesenheit der zentralen Figur soll das Spannungsfeld erzeugen, in dem sie ex negativo sichtbar wird – wie auf einem Scherenschnitt. Eine Option, mehr nicht. Plötzlich erscheint sie als die spannendere Alternative. Ich nehme die Herausforderung an, kehre abermals um. Paul freut sich, ist zufrieden, alles vereint zu haben. Aber ich zweifle, ob es die bessere Alternative ist, immerhin, es ist eine Alternative und es ist ein Anfang. Zugleich ist der Druck weg, innerhalb von vier Tagen einen fertigen Film auf die Beine stellen zu müssen. Nun stehe ich am Beginn eines Prozesses, in dem ich Paul, seine Bilder und seine Umwelt filmisch begleite.

Heute soll ich dann lieber kein Kunstlicht benutzen. Ich werde etwas mürrisch, die dunklen Zimmer geben ihre Bilder nicht preis. Doch Paul erzählt, steht Rede und Antwort. So sieht der Ertrag des ersten Tages aus: ein neues Konzept und die Lektion, Hindernisse zu nehmen, die alles zu zerstören drohen, sie ins Positive zu wenden. Und noch etwas: Pauls Stimme, die auf angenehme Weise in mein Gehör und tiefer noch eindringt. Eine neue Welt tut sich auf, ein Mensch, seine Vorstellungen, seine Person. Ich fühle mich bereichert. Zu dritt gehen wir Pizza essen, reden, lassen erstmal alles sacken.

3. Tag/2. Drehtag

Müde wache ich auf, die Krankheit steckt mir noch in den Knochen. Besonders morgens fühle ich mich ganz erschlagen. Renate und Nicoletta gehen schon mal zu Paul nach oben. Währenddessen streife ich, ausgerüstet mit meiner Kamera, durch die Landschaft, filme den Herrgottsfluss, eine alte Wassermühle und experimentiere mit der Iris. Der braune Stein wird in gleißendes Licht getaucht – soviel zur Wirklichkeit. Nach einer Stunde läute ich bei Mersmann. Paul öffnet abermals: »Lauri!« Er strahlt, ich strahle. In ihm steckt ein Kind, das sich mit dem Kind in mir sehr gut versteht; sie spielen miteinander, lachen vergnügt. Ich erkläre ihm, dass es so wie gestern nicht geht. Ich brauche Licht. Paul versteht, lässt zu. Ich setze mein Licht wie ein Maler, folge meiner Intuition, nicht den natürlichen Gegebenheiten. Paul ist entzückt. »Ein Licht, als ob man das Dach abgeschraubt hätte!« Er staunt, sieht zu.

Dann erzählt er, während ich die Räumlichkeiten filme. Noch immer bin ich mit den Aufnahmen nicht zufrieden. Doch die Arbeitsbedingungen sind nicht mehr so frustrierend wie am Vortag. Schließlich filme ich im Nebenzimmer einige Bilder, das unvollendete auf der Staffelei, die Saturnische Bibliothek, die sich frisch gewachst zum Verkauf präsentiert. Ich nehme sie erst in der Totale auf. Dann gehe ich nah heran, gleite mit dem Objektiv über einzelne Stellen. Das Bild verändert sich vor meinen Augen, die Details scheinen sich zu verselbstständigen und ergeben eigene Bilder. So entdecke ich Pauls Bilder. Auf einigen Details verweile ich viel länger als vom Film gefordert. Liegt hier die Perspektive auf die Bilder, die ich finden und zeigen wollte? Ich filme ein paar ganz frühe Werke wie den Kinderkreuzzug. Das Bild erinnert mich stilistisch an ein anderes, das im Flur hängt. Ich erfahre, dass es von Pauls Vater stammt. Ich fühle mich wie auf einer Entdeckungsfahrt.

Später gehen wir mit Paul in eine Rothenburger Wirtschaft, den ›Reichsküchenmeister‹. Wir essen und Paul erzählt weiter, diesmal ohne Kamera. Er unterhält uns mit Geschichten über einen Geschichtenerzähler, einen Herrn mit Hund, seinen Urgroßvater, auch ein Paul... Er hält uns in Atem. Schließlich geraten wir in eine Diskussion über unsere Gesellschaft und über Europa. Paul sieht die Dinge alles andere als rosig. Ich, die ich sonst immer sehr kritisch bin, halte dagegen, versuche das Positive zu sehen. Paul lächelt, sagt, ich sei jung und es sei gut, dass ich das so sehe. Nach einigen Stunden bin ich wieder sehr müde. In der Dämmerung begeben wir uns nach Hause, angefüllt mit Geschichten und Bildern. Eine Bemerkung von Paul, es gebe da noch ein paar vielleicht ganz interessante Skizzen, hat meine Neugier geweckt.

4.Tag/3. Drehtag

Morgens finden wir uns zu dritt bei Paul ein. Er hat die Mappe mit den Skizzen herausgesucht. Er sagt, es seien nur Kritzeleien, nichts Ausgereiftes. Keine Auftragsarbeiten. Während Renate und Nicoletta im Nebenzimmer das Interview führen, baue ich im Zimmer über dem Flur das Licht auf. Allein breite ich die Mappe mit den Bildern und Zeichnungen aus. Ich schmunzle über Pauls Bescheidenheit. Es sind Bleistift-, Kreide- und Kugelschreiberzeichnungen, auch Aquarelle mit den verschiedensten Motiven. Ich stoße auf die Cavalleria andante und bin begeistert. Während drüben das Interview ein Ende findet, besinne ich mich erst. Paul schaut herein und lacht, man könne das Tao ruhig allein lassen, man störe es auch sonst nur. Er beginnt aus den Schattenbüchern vorzulesen, ich nehme weiter Blatt für Blatt auf, will keines auslassen, arbeite, verliere mich darin. Ich trinke nicht, esse nicht, gehe nicht aufs Klo. Nach ein paar Stunden bin ich durch. Ich gehe nach nebenan. Paul sagt, ich sei ganz weiß. Er geht nach unten, macht Schinkenbrote für uns, die er auf einem Korbtablett transportiert. Ich esse, glücklich, erschöpft. Ich bin froh hier zu sein. Der Sticker, den ich vor meiner Abreise auf meine Mappe geklebt habe, lacht mich an: Everything you can imagine is real.

Die Erfahrung der letzten Tage scheint den Satz zu bestätigen. Am Anfang stand die Auseinandersetzung über die Möglichkeiten filmischer Darstellung und die Angst vor ihr. Welchen Grad visueller Verbindlichkeit beansprucht der Film? Sind seine Motive wirklicher als gemalte? Der Zusammenstoß mit H., das neue Konzept resultierten aus diesen Fragen. Daraufhin bin ich eingetaucht in Pauls Welt, in seine Wirklichkeit, bevölkert von Falltüren, Geheimzimmern und nie vorher erblickten Wesen, die der Imagination entstammen und einen eigenen Zugang zur Welt bilden. Der Manierismus dieser Bilder lässt jedem seine Möglichkeit, sich in ihnen zurecht zu finden. Hier findet jeder sein eigenes Bild, wenn er nur hinschaut. So ist das mit der Wirklichkeit. Keine Kunstform kann sie verordnen. Was wir haben, sind viele Teilwirklichkeiten, was wir gewinnen können, sind perspektivische, sich gelegentlich überschneidende Einsichten. Die Frage, ob der Film oder das gemalte Bild oder die Photographie das bessere Darstellungsmedium ist, stellt sich nicht. Nur den Zugang regelt das Medium. Das Wichtigste ist das Hinschauen, überall, nicht nur dort, wo alle hinsehen, sich die Freiheit des eigenen Wegs zu nehmen. Pauls Bilder, durch meine Bilder gesehen, haben mir einen Weg gezeigt. Sind die Bilder erst in der Welt, hat man keinen Einfluss mehr darauf, wie sie wirken. Pauls Kind spielt mit meinem Kind, manchmal haut das eine dem anderen eins drüber, aber sie spielen mit dem gleichen Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt und sich zu etwas Neuem formt.

Der Dreh ist zu Ende und alles beginnt neu.

 

Erschienen in:
Steffen Dietzsch / Renate Solbach (Hg.), Paul Mersmann - Diffusion der Moderne, Heidelberg 2008, S.154-158