von Peter Brandt

Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht 1918 Darmstadt (WBG Theiss) 2018, 352 Seiten

Sigmar Gabriel hat uns daran erinnert, dass auch für sicher Gehaltenes, hier in der Beschwörungsformel: »Bonn« bzw. »Berlin ist nicht Weimar«, infrage gestellt werden kann durch die reale Entwicklung und dann auch in der Wahrnehmung infrage gestellt werden muss. Es ist nicht schwer, die wesentlich günstigeren Bedingungen für das Gedeihen einer parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik gegenüber der Weimarer Republik zu benennen: von der schlichten Unleugbarkeit der militärischen Niederlage 1945, die einer massenwirksamen Dolchstoßlegende keinen Platz bot, bis zur – auch international – unvergleichlich stärker prosperierenden Wirtschaft. Aber es können, wie wir gesehen haben, neue Tendenzen wirksam werden mit neuen destruktiven Folgen.

Um heutige Problemlagen und Krisenerscheinungen einschätzen zu können, ist die Konsultation der Geschichte stets von Nutzen, doch nicht im Sinn einer simplen Übertragung, sondern zur Schulung des Blicks auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse als Handlungsrahmen für die ebenfalls zu untersuchenden kollektiven und individuellen Akteure. Auch ein Karl Marx hat betont, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen und nicht beliebig veränderbaren Bedingungen. Wer das konkrete Handeln der historischen Subjekte für irrelevant oder für strukturell ganz und gar zwangsläufig vorherbestimmt hält, ist kein Historiker, auch kein materialistischer, sondern ein Verwalter von Begriffen.

Der Autor, dessen jüngstes Buch wir heute präsentieren, kennt die Begriffe und die Theorien; sie sind ihm Hilfsmittel, Geschichte geordnet zu erforschen, zu reflektieren und zu erzählen. Er tut das, um das vorweg zu unterstreichen, stets auf eine regelrecht spannende Weise und in einer stilistisch glänzenden Sprache; insofern ist das immer auch ein Lesevergnügen. Das gilt für seine 2008 erschienene Monographie über das Ende der über dreißigfachen Monarchie in Deutschland ebenso wie für die 2013 bzw. 2018 erschienene, kritische und zugleich einfühlsame Biographie des Prinzen Max von Baden, des letzten kaiserlichen Reichskanzlers – er wird uns im Folgenden noch beschäftigen – und nicht zuletzt für das heute zur Diskussion stehende Buch »Kaisersturz«, die packende Story einer nur einige Wochen akuten Entscheidungssituation und des Scheiterns, ja des Versagens der zentralen Personen darin, gemessen an deren eigenen Absichten und Zielen wie auch an der Abwendung weiteren Schadens vom deutschen Volk und Staat.

Diese »Männer, die damals die Geschichte machten« (oder eben nicht), um das heute meist nur noch ironisch verwendete Diktum Heinrich von Treitschkes leicht abgewandelt zu zitieren, agierten vor dem Hintergrund einer sich anbahnenden, veritablen Kriegs-Verweigerungsrevolution der breiten Volksschichten, namentlich der Matrosen der Hochseeflotte, des Heimatheeres und der Industriearbeiterschaft. Der Umsturz in Berlin am 9./10. November 1918 (als die Revolution in weiten Teilen des Landes schon gesiegt hatte, jedenfalls in Gang gekommen war) machte allen Plänen für die Erhaltung einer mehr oder weniger gründlich reformierten Monarchie ein Ende, und wer nicht fortgespült werden wollte von der elementaren Kraft der – übrigens fast vollkommen friedlichen – Massenerhebung, musste sich mit ihr arrangieren; wer regieren wollte, wie die mehrheitssozialdemokratische Führung, musste versuchen, sie gewissermaßen zu adoptieren, auch wenn er bis unmittelbar vorher bemüht gewesen war, ihren Ausbruch zu verhindern, oder anders gesagt: versucht hatte, sie durch sanfte reformerische Umgestaltung des alten Regimes überflüssig zu machen.

Machtans ›Kaisersturz‹ ist keine Geschichte der Deutschen Revolution 1918/19; er endet mit dem 10. November 1918 und der Bildung einer Regierung der Volksbeauftragten aus beiden sozialdemokratischen Parteien, unterstützt von den schon länger amtierenden nichtsozialistischen Staatssekretären, wie die Leiter der obersten Reichsämter im Kaiserreich hießen. Das Buch behandelt die unmittelbare Vorgeschichte und die entscheidenden ersten beiden Tage des Umsturzes in der Hauptstadt Berlin. Das Werk enthält – jenseits der bereits erwähnten schriftstellerischen Qualität – eine Fülle von Anregungen, originellen Gedanken und neuen Informationen, sogar für denjenigen, der meint, alles Wesentliche zu wissen. Der Autor kennt nicht nur die breite Forschungsliteratur genau, sondern kann auch aus einem großen Fundus des Studiums der ungedruckten und gedruckten Quellen schöpfen.

Meine Differenzen mit dem Kollegen und Freund Lothar Machtan, darauf sei kurz verwiesen, beziehen sich auf die von ihm wie von Historikern vor ihm aufgeworfene hypothetische Frage, ob die Bewahrung der monarchischen Staatsform als einer nur repräsentativen Monarchie die konservativen Eliten und konservativ gesonnene Bevölkerungsgruppen mit dem Wechsel zur Demokratie eher hätte versöhnen, die neuen Verhältnisse eher hätte legitimieren können. Meine insofern große Skepsis beruht auf der von dieser Annahme nicht berührten Tatsache der militärischen Niederlage an der kriegsentscheidenden Westfront. Deren Folgen, die harten Waffenstillstands- und Friedensbedingungen, wären einer weiterhin monarchischen Regierung ja nicht erspart geblieben. Auch wenn wir mit Machtan, wie ich das akzeptiere, den politischen Spielraum im September und Oktober 1918 deutlich höher ansetzen als in der Forschung bisher üblich, wird man das für die militärische Lage kaum sagen können. Und der (inhaltlich übrigens durch das ganze Parteienspektrum hindurch abgelehnte) Friedensvertrag von Versailles war für die Entlegitimierung der Weimarer Demokratie rechts der Mitte m. E. weit bedeutender als die Ablösung der Monarchie. Ferner wären soziale und innenpolitische Konvulsionen angesichts der international spürbaren Umbruchskrise von 1917 bis 1920 m. E. so oder so unvermeidlich gewesen, was auch immer der Ausgang gewesen wäre. Eine knappe Gegenüberstellung der diesbezüglich abweichenden Positionen von Machtan L. und Brandt P. können Sie, wenn Sie möchten, im Jahrgang 2015 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft nachlesen. — Ich habe das auch deshalb erwähnt, weil ich unterstreichen möchte, dass Machtans die Hauptakteure regelrecht demaskierende Darstellung des dem Kaisersturz vorangehenden Politdramas durch die angedeuteten Abweichungen zwischen uns in der Lageeinschätzung nicht infrage gestellt wird.

Die Republik von Weimar war mehrfach schwer belastet: durch die widersinnigerweise ihr bzw. den sie tragenden politischen Kräften, insbesondere der SPD, angelastete Kriegsniederlage und den ihr folgenden, drückenden Versailler Frieden, durch die sozialen Verheerungen der Hyperinflation des Jahres 1923, der unmittelbar folgenden Stabilisierungskrise und der Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929-33, durch die Diskrepanz zwischen einer demokratischen, in mancher Hinsicht ausgesprochen progressiven Verfassung und einer großenteils von antidemokratischen Kräften bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit: im großindustriellen und großagrarischen Wirtschaftsleben, in der Staatsbürokratie und im Offizierskorps, ferner, nicht zuletzt, durch ihre revolutionär-gegenrevolutionäre Entstehungsgeschichte. Es war durchaus keine ›Republik ohne Republikaner‹, doch diese wollten sie, wohl mehrheitlich, anders als sie war, aber nicht unbedingt in der gleichen Richtung. Auch wirkte die sozialdemokratisch-kommunistische Spaltung höchst destruktiv, verglichen etwa mit Österreich, wo es gelang, die sozialistische Arbeiterbewegung parteipolitisch zusammenzuhalten, abgesehen von einer kleinen Moskau-orientierten Gruppierung am Rande.

Trotz aller dieser erwähnten Belastungen war der ersten deutschen Demokratie der Untergang nicht in die Wiege gelegt, schon gar nicht in der Gestalt der radikal-faschistischen Hitler-Bewegung. Es ging (und geht bis heute) um das Ringen lebendiger Kräfte und auch um das Handeln Einzelner. Es ist nicht sehr gewagt, wenn ich behaupte, dass die Weimarer Republik, die sich, als dezidiert bürgerliche Republik, in den Jahren 1924 bis 1928/9 konsolidierte, ohne die Weltwirtschaftskrise bzw. mit einem anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Reagieren der Staatenwelt auf die Krise, wahrscheinlich überlebt hätte.

Und um den für uns bei dieser Veranstaltung besonders relevanten persönlichen Faktor hervorzuheben: Niemand hätte den bis dahin verfassungstreuen, aber innerlich monarchistisch gesinnten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg Ende Januar 1933 zwingen können, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Zwar gab es keine handlungsfähige parlamentarische Koalitionsmöglichkeit, und es amtierten schon ab Frühjahr 1930 präsidiale Notverordnungsregierungen, doch hatte die NSDAP – freilich bei Wahlen weiter mit Abstand stärkste Partei – bei der vorausgegangenen Reichstagswahl im November 1932 erstmals erheblich Stimmen eingebüßt, und es sprach viel dafür, dass sie den Zenit ihres Erfolgskurses überschritten hatte; selbst zusammen mit den dann verbündeten Deutschnationalen lag die NSDAP weit unterhalb einer parlamentarischen Mehrheit. Ich habe das schicksalhafte Ereignis der Machtübergabe an Hitler durch Hindenburg, vom eigentlichen Thema abschweifend, erstens herausgegriffen, weil Anfang und Ende der Weimarer Republik häufig zu Recht, so auch in der Argumentation von Machtan, in einen Zusammenhang gebracht werden, ohne dass indessen – zweitens – von einem zwangsläufigen Geschehen gesprochen werden kann. Vielmehr kann es in historischen Entscheidungssituationen maßgeblich auf das konkrete Handeln von Schlüsselfiguren ankommen.

Solche Schlüsselpersonen erkennt Lothar Machtan für den Spätsommer und den Herbst 1918 in Kaiser Wilhelm, laut Reichsverfassung von 1871 höchster Inhaber der exekutiven Gewalt und zudem seit 1914 pro forma Oberster Kriegsherr: ein begabter, aber eitler, innerlich unsicherer, in seinem Wesen eher weicher, gern bramarbasierender, von seinem göttlichen Auftrag überzeugter Herrscher, ein im Krieg völlig überforderter Möchtegern-Autokrat, negativ bestärkt von seiner Gattin und der Entourage, ohne jedes Gespür für die Notwendigkeit des Umsteuerns selbst nach dem Scheitern der letzten großen Westoffensive des deutschen Heeres im Sommer 1918 wie für die täglichen Nöte seiner Untertanen, im Verlauf des Krieges zwischen der Tendenz zur Militärdiktatur durch die Oberste Heeresleitung und den Parlamentarisierungsbestrebungen der Reichstagsmehrheit, der Parteien der späteren Weimarer Koalition, immer funktions- und einflussloser werdend.

Als zweiten Akteur präsentiert uns Machtan den badischen Thronfolger Max, eine schillernde, durchaus sympathische Gestalt, die aufgrund von Veranlagung – seine offenkundige, aber der Öffentlichkeit natürlich verheimlichte Homosexualität – und wegen kompletten persönlichen Scheiterns bei einem kurzen Frontaufenthalt 1914, souffliert und bestärkt von seinem charismatischen Berater Kurt Hahn, eine Mission zur Rettung und ›Veredelung‹ des deutschen kaiserlichen Imperialismus empfindet und von liberalen, dann auch sozialdemokratischen Politikern ab 1917 als Reichskanzler ins Gespräch gebracht wird. So wie Wilhelm bis zum Schluss nicht begreift oder begreifen will, was die Stunde geschlagen hat, lässt sich Max von wolkigen Visionen leiten, und er vermag nicht die Energie aufzubringen, das Allerdringendste zu tun; den Kaiser, seinen Vetter, zur Aufgabe des Herrschaftsanspruchs, und: als das um die Wende vom Oktober zum November nicht mehr reicht, zum Thronverzicht zu nötigen. Illusionen über Illusionen auch bei dem Zähringer, und stets hinkt er, durchaus kein Demokrat selbst im rein formalen Verständnis, hinter den Erfordernissen des Augenblicks her. Als mildernden Umstand kann man anführen, dass er Anfang November grippekrank war und ausfiel.

Schließlich der Dritte im Trio: der mehrheitssozialdemokratische Parteivorsitzende Friedrich Ebert, von Beruf Sattler, Badener wie Max, mit dem er ein Bündnis schließt, zweifellos der politisch stärkste unter den Dreien: bodenständig, pragmatisch, nerven- und entscheidungsstark, mit großen organisatorischen und politisch-taktischen, weniger mit strategischen Fähigkeiten. Mit seinem Abscheu vor Chaos, Unruhe und Disziplinlosigkeit mental ein Produkt der reichsdeutschen spezifischen Sozialisationsagenturen auf den gesellschaftlichen und staatlichen Ebenen, ein Produkt auch der SPD im Gehäuse des Kaiserreichs, ihrer sprichwörtlichen Geschlossenheit und ihres objektivistischen und attentistischen Transformationsverständnisses. Doch auch der große Realist Ebert mit seinem Vertrauensbonus in bürgerlichen Kreisen verkennt die Lage in ihrer ganzen Dramatik. Er lehnt die Revolution von unten, gewissermaßen durch die eigenen Anhänger, nicht nur ab, er kann sie sich offenbar auch nur als Horrorszenario vorstellen. Dabei spielen die russischen Revolutions- und Bürgerkriegsereignisse seit März 1917 eine erhebliche Rolle. Ebert möchte die im Weltkrieg begonnene Integration der SPD in die bestehende Ordnung forcieren und einen gleitenden, legalen Übergang in eine parlamentarische Monarchie zuwege bringen. Bis fast fünf Minuten nach Zwölf hält er an Max fest (wie dieser an Wilhelm), zuletzt soll Max als Reichsverweser die Monarchie erhalten helfen, Max, der sich von Woche zu Woche und Tag zu Tag mehr als grandiose Fehlbesetzung erweist.

Immerhin gelingt Ebert und seiner Partei im letzten Moment der Übertritt von der Regierungsbeteiligung im Kabinett Max von Baden auf die Seite der aufständischen Arbeiter und Soldaten. Doch manche von Ebert verantwortete Handlung und manche Unterlassung in den kommenden Monaten trägt dazu bei, die über die Frage der Kriegsunterstützung seit 1915/16 bestehende Kluft innerhalb der Arbeiterbewegung unüberwindlich zu machen, obwohl im November 1918 an der Basis der Wunsch dominiert, die im Krieg entstandenen Gräben zuzuschütten, die vermeintliche historische Chance zu nutzen, um in Eintracht der breiten Volksschichten eine entschieden demokratische, soziale Republik zu errichten. Das wäre aber ein neues Kapitel.

(Rede am 24. September 2018 im Kaisersaal der Parlamentarischen Gesellschaft des Bundestags anlässlich der Vorstellung des Buches von Lothar Machtan, Kaisersturz)