von Gunter Weißgerber

Seit über einem Jahr verdichtet sich das mulmige Gefühl, dass der Bundesrepublik die Statik verrutscht. Es ist, als ob die Bundestagsparteien im Herbst 2017 auf Reset gewählt werden (wollen?). Reset auf das Niveau treuer Stammwählerschaft. Im Gegenzug dazu wird mit der AfD eine auf Ressentiment gepolte Partei ein unerwartetes Wachstum mit unvorhersehbaren Folgen für unsere Sicherheit erfahren. Regieren werden sie nicht, die allgemeine Stimmungslage verschlechtern sie auf jeden Fall.

Unerwartet wird das alles nicht kommen. Die erwartbar hohe AfD-Präsenz wird als Ergebnis eines jahrelangen Versagens der Bundesregierung und hier vor allem der Kanzlerin und der geradezu impotent erscheinenden demokratischen Parteienlandschaft über uns kommen.

Als ich 1990 in die SPD-Bundestagsfraktion kam, wurde ich mit vielen interessanten Menschen und Ansichten bekannt. Sehr viele und sehr vieles imponierte mir, manches kam mir rätselhaft oder schlimmer – untauglich vor. Am Beispiel ›Einwanderungsland‹ ist das schnell skizziert. ›Einwanderungsland Deutschland‹? Was sollte das? Einwanderungsländer sind völkerrechtlich Staaten, denen Fachkräfte fehlen, die dünn besiedelte Regionen aufweisen und vor allem, die sich genau aussuchen, wen sie ›brauchen‹ und ›reinholen‹.

Wo bitte fehlten der Bundesrepublik Deutschland 1990, noch dazu vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden Ostwirtschaft, Fachkräfte? Wo bitte war Deutschland 1990 so dünn wie die klassischen Einwanderungsländer besiedelt? Wo bitte waren 1990 die Verantwortungsträger, die Zuwanderer nach nützlich und nicht nützlich sortieren wollten – was sich noch heute die politische Klasse nicht traut?

Kurz und schmerzlos, diese transgalaktischen Ansichten über ein mir unbekanntes Einwanderungsland Deutschland waren für mich reine Hybris. Ich riet vielen Kollegen, statt vom ›Einwanderungsland Deutschland‹ vernünftigerweise von der Bundesrepublik als einem internationalen Wunschzielland vieler Menschen zu sprechen. Verstanden wurde ich nicht.

Als Realpolitiker entschied ich damals daraufhin pragmatisch, diese Diskussion auch im wörtlichen Sinne links liegen zu lassen und den Schwerpunkt meiner parlamentarischen Arbeit auf den Prozess des Zusammenwachsens Deutschlands nach der Einheit 1990 zu richten. Pragmatisch, weil dieser Einwanderungsland-›Nonsens‹ durch mich nicht wirklich zu beeinflussen war. Gerade erst in der Bundesrepublik ›angekommen‹ stand ich mit meinen ebenfalls hinzugekommenen Kollegen vor der Aufgabe, selbst einen Platz zu finden und diesen sinnvoll auszufüllen. Letzteres ist mir gut gelungen. Viele Projekte und Einrichtungen in Ostdeutschland und hier speziell in Sachsen tragen auch meine Handschrift, sogar über den Tag hinaus.

Es blieb mit Thilo Sarrazin einem gestandenen Sozialdemokraten vorbehalten, die Themen Integration, Bildung und Zuwanderung 2010 brachial auf die Tagesordnung zu heben. Wobei es genau genommen die reißerische These Deutschland schafft sich ab seines Verlages war, die sein kluges Sachbuch in Verbindung mit einem muffigen inquisitorischen öffentlichen Klima zu einem Millionenseller werden ließ. Sarrazins Niederschreier waren es, die sein Buch zu einer Art verfolgter Samisdatliteratur werden ließ. So wie es die demokratischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland heute sind, die mit ihrer Negierung von Mehrheitsauffassungen in der eigenen Bevölkerung die AfD zu einem Riesenballon aufblasen.

Die AfD-Erfolge sind nicht das Resultat der AfD-Slogans. Die AfD-Erfolge nähren sich direkt aus dem Versagen der demokratischen Bundestagsparteien.

Selbstverständlich vermag auch ich nicht die Wahlergebnisse des kommenden 24. Septembers zu prognostizieren. Dies können die Meinungsforschungsinstitute genauso wenig. Im Moment sieht es jedoch so aus, dass die CDU so tut, als ob sie was aus 2015 gelernt hat und die SPD ihrerseits so tut, als ob sie nichts aus 2015 lernen muss. Die Wähler werden vermutlich diejenigen belohnen, die so tun, als ob sie was gelernt hätten. Die Republik dürfte damit nicht untergehen, nur die SPD scheint sich leider wieder einmal entschieden zu haben, vom Steuerrad nach Backbord zu wechseln, dabei ihre eigenen Graswurzeln unter ideologischem Beton ausdörrend.


Zurück zum Beispiel SPD

1989/90 war ›Fahrprüfung‹ für die SPD. Die Fahrbahnverhältnisse hatten sich entgegen dem Zehnjahrplan der ›Gemeinsamen Gespräche von SPD und SED‹ scheinbar unerwartet drastisch geändert. Allen SPD-SED-Vorschriften zum Trotz formierte sich sogar eine Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP).

Umsteuern war angesagt! Wer nicht auf die bedeutenden Mitfahrer und Pensionäre Brandt und Schmidt auf der SPD-Hinterbank hörte, wer die ostdeutsche Volksbewegung hin zur Freiheit in der Sicherheit der Deutschen Einheit nicht sehen wollte, das war ausgerechnet die im Kommen befindliche sozialdemokratische Enkelgeneration um Lafontaine.

Dabei konnte der Konflikt Internationalismus versus Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen für den deklamatorisch überhöhten Internationalismus nur haushoch verloren werden. Das ist nun mal die Krux freier Wahlen, die für die SPD immer unabdingbar waren und bleiben werden. Hinzu kam – für Ostdeutsche klar erkennbar – Lafontaines Unwille, die Arme für uns auszubreiten. Wo waren die Sehenden in der ältesten demokratischen Partei Deutschlands? Es gab davon viele. Leider waren die meisten just zu der Zeit auf dem Weg in den politischen Abschied oder standen vor einer größer werdenden Wand die da hieß: ›postindustrielle Mainstreampartei in Regierungsverantwortung mit den Grünen‹. Irgendwie und dann doch nicht eins zu eins umgesetzt kam es so dann ja auch ab 1998 und inzwischen erleben wir den umgekehrten Pendelausschlag, jedenfalls dessen Vorboten.

2013 entschied die SPD ausgerechnet in Leipzig, der Stadt der Friedlichen Revolution, jeglichen Anstand bezüglich der Linksaußenpartei fallen zu lassen. Damit verzichtete die SPD nicht nur auf ein großes Stück ihrer eigenen Freiheitswurzel und machte sich damit im Bereich der ehemaligen DDR-Opposition auf weiten Strecken schlicht unwählbar. Sie rückte sich damit deutlich erkennbar in die Nähe der Linksaußenpartei, die in ihrem Grundverständnis immer noch weitgehend den realen Sozialismus verkörpert. Bis 1989 standen die Feinde DDR und SED vor der Tür, seit 1990 sind sie inmitten der bundesdeutschen Gesellschaft – was den Sozialismus/Kommunismus angeht: noch immer ungeläutert. Frage einen Linksaußenpolitiker, was er von Lenin hält und du weißt, was er von Freiheit und Demokratie hält! – Diesen dringlichen Rat möchte ich allen SPD-Mitgliedern unter das Kopfkissen legen. Ganz am Ende geht es darum, dass auch Sozialdemokraten niemandem den ›Strick um den Hals‹ legen können, den man bei Sozialdemokraten billig kaufen konnte.

Frau Merkel zog der SPD nach 2013 im Bestreben nach Schwarz-Grün links hinterher. Im Zusammenhang mit dem Ausfall der FDP 2013 ergab sich damit eine große repräsentative Lücke im mitte-rechten demokratischen Spektrum.

In Diktaturen kann eine solche Lücke mit Gewalt längere Zeit verheimlicht werden, in einer Demokratie folgt die Strafe auf dem Fuße. Seit dem Linksrutsch von SPD und CDU ›tanzen die Affen‹ in Gestalt der (putinaffinen) AfD und Pegida ›auf dem Tisch‹ und feiern fröhliche Urstände. Die ›Belämmerten‹ sind die bisherige Bundesrepublik und die diese Republik tragenden Parteien. SPD und CDU haben in den vergangenen Jahren die Statik der Bundesrepublik ungesund nach links verzogen. Beide großen Parteien werden diese Statikquetschung schwer bezahlen.

Meine Sorge gilt dabei in erster Linie der SPD, die ich für das Wohlergehen der Bundesrepublik für genauso wichtig erachte, wie dies CDU/CSU- und FDP-Mitglieder für ihre Parteien berechtigt in Anspruch nehmen. Eine Sonderstellung schufen sich die Grünen, denen ›Deutschland, Du mieses Stück Scheiße‹ schnell mal zwischendurch ein wichtiges Statement zu sein scheint. Die sind mir daher herzlich schnurz und piepe.

Für die SPD konstatiere ich aktuell ein zweites Versagen nach den historischen Pannen 1989/90:

Niemand braucht Umfragen. Bodenständige, verwurzelte Menschen spüren, was los ist! Der Politiker, der erst in Umfragen erkennt, dass er nicht nur dabei ist, sich ›wegwählen‹ zu lassen, sondern auch die Abwahl der bisherigen Bundesrepublik klaren Auges riskiert, ist sein Mandat schlicht nicht wert.

Seit Merkels Ignorieren der institutionellen Zusammenhänge am 4. September 2015 und dem grandios hilflosen Eingeständnis, das eigene Staatsgebiet nicht kontrollieren zu können, erodiert das Grundvertrauen der Staatsbürger in ihren Staat inflationär. Das Bild einer Mure in den Alpen drängt sich mir dabei auf. Wie kann es sein, dass die SPD, die ihre Fundamente vor allem in der Facharbeiterschaft, in der technischen Intelligenz hatte, die Interessen gerade dieser bevölkerungsstarken Gruppen faktisch nicht mehr ernst nimmt? Das ist nicht einfach so dahin gesagt. Die Rigorosität, mit der die Verlierer der sogenannten Energiewende und der Massenzuwanderung ›friss oder stirb‹ hören und lesen, macht ja nicht nur die SPD-Basis kaputt. Nein, sie betoniert die SPD näher an der Zwanzig-Prozentmarke denn in der Nähe zu dreißig und mehr Prozent fest. Dabei brauchen wir gerade jetzt eine starke SPD, die dieses Gemeinwesen zusammen hält.

Die SPD fragt aber weder die Bevölkerung, noch die eigenen Wähler, ob diese maßlose und intensiv arbeitsplatzvernichtende, euphemistisch Energiewende genannte Umverteilungsorgie und die Massenzuwanderung gewollt sind. Auch kümmert die SPD sich nicht um ihr großes Erbe auf dem Gebiet der Emanzipation der Frauen, wenn es um Burka und Niqab geht. Sie kümmert sich ebenso wenig um das ›Kindeswohl‹, wenn es um Kinder-›Ehen‹ geht.

Ja, glaubt die SPD-Führung denn wirklich, dass diese Blindheit von der Bevölkerung oder gar von vielen bisherigen SPD-Wählern goutiert würde? Wie blind muss man sein, sich besseren Erkenntnissen zu verweigern? Es ist absehbar, dass sowohl Burka als auch Kinder-›Ehe‹ geächtet werden. Warum nicht gleich vernünftig in Vorleistung gehen und das Thema federführend mitbestimmen? So bleibt ein Bild von der SPD wie 1989/90 : Die SPD muss zum Jagen getragen werden.

Es gab eine Zeit vor der extremen Radikalisierung von Pegida in Dresden. Damals hätten SPD und CDU noch viele dieser Spaziergänger ›abholen‹ können. Damals hofften dort noch viele, dass die großen vermeintlich handlungsfähigen Parteien die Probleme noch selbst lösen könnten. Spätestens mit der hedonistisch-überheblichen Abfuhr, die Sigmar Gabriel sich wegen seiner Stippvisite in Dresden Januar 2014 vom Feuilleton abholte, war diese Chance für immer vertan.

Sie war zum zweiten Mal von der SPD vertan. Die erste Chance gab es in den 90iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ganze zehn Jahre thematisierten die PDS-Jünger in der SPD-Sachsen die Völkerfreundschaft zur SED. Ganze zehn Jahre gab es deshalb diese unnütze und abstoßende öffentliche Diskussion. Sachsens Wähler nahmen die Sachsen-SPD fast nur als eine Partei wahr, die sich um die Rest-SED statt um die Probleme der Bevölkerung kümmerte.

In Leipzig hielten wir das ganz anders. Uns glaubte man, dass wir nicht mit den SED-Nachfolgern kumpanieren würden, es war einfach kein Thema. So konnten die Leute sehen, was alles mit der SPD in der Region Leipzig aufwärts gehen konnte. Inzwischen wurde diese Bastion innerhalb der sächsischen Sozialdemokratie auf sächsisches SPD-Normalmaß geschliffen und Höhenflüge sind am Horizont nicht einmal zu ahnen. Das schmerzt.

Im Folgenden gehe ich auf die Abläufe und Prozesse innerhalb und nach der Friedlichen Revolution 1989/90 mit Blickwinkel Leipzig und SDP näher ein. Mein Archiv ist prall gefüllt.


1989/90 – Wie die SPD ihre Stärke verspielte

1989 schien für die SPD alles so wunderbar zu passen. Jedenfalls glaubte ich das in meiner damals liebevollen SPD-Naivität. Helmut Schmidts Regierungszeit war erst sieben Jahre her, Willy Brandt war eine Ikone. Außer im Tal der Ahnungslosen und anderen von ARD und ZDF weit entfernten ostdeutschen Regionen klang Sozialdemokratie noch sehr frei und westlich. Darauf musste sich doch aufbauen lassen! So dachte ich.

Der 1963 das Passierscheinabkommen in die Wege leitende Frontstadtbürgermeister, der Außenminister, der in Warschau als Opfer der Nazis für die Taten der Nazis auf die Knie fallende, der die neue Ostpolitik formulierende und in Erfurt legendär bejubelte Willy Brandt stand im Osten für eine SPD, die aller Ehren wert war. Willy Brandt – das waren Freiheit, Demokratie und das Versprechen auf Zugehörigkeit. Da er zudem Sozialdemokrat war, hatte die SPD einen natürlichen Vorsprung in Ostdeutschland.

Das alles saß 1989 noch tief in der Seele vieler Menschen. Darauf musste doch aufgebaut werden können! Zumal genau dieser Willy Brandt am 9. November 1989 seinen gesamtdeutschen Traum in Erfüllung gehen sah. Sein all unsere Gefühle und Hoffnungen ausdrückender Satz Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört! war für mich die Krönung mehrheitssozialdemokratischer Politik der vergangenen dreißig Jahre.

Es gab noch einen weiteren ganz Großen der deutschen Sozialdemokratie. Helmut Schmidt als Held der Hamburger Flut 1961, als ausgewiesener Finanz- und Wirtschaftspolitiker, als wichtiger Akteur des KSZE-Prozesses (Integrität der Grenzen bei Offenhalten für friedliche Änderungen; Menschenrechte u.a.) und als Mann der Nachrüstung. War es doch die Nachrüstung, die den ersten nuklearen Abrüstungsvertrag in der Geschichte erzwang und den Niedergang der Sowjetunion beschleunigte. In Verbindung mit dem durch die Brandtsche Ostpolitik entstandenen Grundvertrauen in den Westen wurde Gorbatschow die Kapitulation des Ostblocks ohne Blutvergießen möglich gemacht. Er konnte auf den Kooperationswillen des Westens vertrauen.

An dieser Stelle lasse ich Helmut Schmidt selbst sprechen. Anlässlich der Verleihung des Point-Alpha-Preises 2010 an ihn, führte er in seiner Dankesrede u.a. aus:

I.

Dass die politische Wiedervereinigung unserer Nation 1990 geglückt ist, verdanken wir zu allermeist den umwälzenden Vorgängen im Osten Mitteleuropas. In Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in der DDR regten sich im Laufe der 1980er Jahre mutige Freiheitsbewegungen.
Diesen Freiheitsbewegungen – unter ihnen vor allem Solidarnosc in Polen – waren zwar 1968 Alexander Dubcek und der »Prager Frühling« innerhalb der damaligen tschechoslowakischen Kommunistischen Partei vorangegangen. Aber die sowjetische Führung hatte ihn mit militärischer Gewalt zerschlagen. Damit wurden alle Freiheitsbewegungen im Osten Mitteleuropas zunächst weit zurückgeworfen. Immerhin ließ sich die sowjetische Führung wenige Jahre später auf die neue Ostpolitik Brandts und Scheels ein. Gestützt auf die beiderseitigen Strategien des Gleichgewichts ging Moskau sogar einen Schritt weiter und schlug eine gesamteuropäische Konferenz über »Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« vor. Die USA reagierten zunächst mit Verdächtigungen, mit Skepsis und sodann sehr zögerlich. Wir haben damals unseren Freund Gerald Ford sehr gedrängt, der sich schließlich für die Teilnahme Amerikas entschieden hat.
Als die KSZE dann tatsächlich 1975 in Helsinki zustande kam, erwies sie sich in zweifacher Weise als erfolgreich. Zum einen erschienen alle ost- und alle westeuropäischen Staats- oder Regierungschefs persönlich, und beinahe jeder redete zum ersten Male mit beinahe jedem anderen. (So saßen im Plenum beispielsweise Honecker, Schmidt und Ford nebeneinander.) Es war sozusagen ein Marktplatz für vielerlei Gespräche in entspannter Atmosphäre. Zum anderen aber erhielt am Ende der Westen die Unterschrift aller kommunistischen Staatschefs unter die Menschenrechte. Und der Osten erhielt alle Unterschriften der amerikanischen und westeuropäischen Staats- und Regierungschefs unter die Festschreibung der Staatsgrenzen im Osten Europas.

Ich war von Anfang an überzeugt, mit diesem friedensdienlichen Kompromiss den freiheitlichen Oppositionen in Polen, in Ungarn und in der Tschechoslowakei zu helfen. So ist es dann auch tatsächlich geschehen. Der sogenannte »Korb IIIx (»Human Aspects of Security«) der Helsinki-Schlussakte wurde zur Legitimation für die Arbeit vieler osteuropäischer Menschenrechtsorganisationen und Bürgerrechtsbewegungen – und zur Hilfe für Solidarnosc, für Vaclav Havel und die »Charta 77« und für Andrej Sacharow und Alexander Solschenizyn in der Sowjetunion.
Bei alledem muss man sich daran erinnern, dass der lebensbedrohende Höhepunkt des Kalten Krieges, nämlich die kubanische Raketenkrise zur Zeit von Helsinki nur gut ein Dutzend Jahre zurücklag – während einerseits die große Wende der Jahre 1989/90 bis 1992 noch in einer ziemlich undurchsichtigen Zukunft lag; Gorbatschow kam erst 1985 ins Amt.

II.

Auch die sowjetische militärische Intervention in Afghanistan lag noch in der undurchsichtigen Zukunft. Und desgleichen wussten wir zur Zeit von Helsinki noch nicht viel von der kurz bevorstehenden sowjetischen Rüstung mit atomaren Mittelstreckenraketen (»SS 20«). Diese neuen Raketen konnten zwar Amerika nicht erreichen, wohl waren sie aber in der Masse auf die damalige Bundesrepublik Deutschland gerichtet. Auf westlicher Seite gab es keine Gegendrohung; das ohnehin prekäre Gleichgewicht der militärischen Rüstungen drohte verloren zu gehen.

Der amerikanische Präsident Carter, anders als sein Vorgänger Ford, nahm das Problem nicht besonders ernst; denn für den Ernstfall habe Amerika ja die großen atomaren Waffen, die über den Atlantik hinweg russische Ziele erreichen könnten. Ich dagegen war zunehmend beunruhigt. Zwar wusste ich: Breschnew war kein Hasardeur, er würde keinen Krieg mit den USA riskieren. Jedoch war er ein alter und schon erkennbar hinfälliger Mann; wie aber würden seine Nachfolger agieren? Und wenn es in ungewisser Zukunft zu einer allein auf die Bundesrepublik gerichteten sowjetischen Nötigung käme, gestützt auf jene SS 20-Raketen: Wie würde in solcher Situation ein dann im Amt befindlicher amerikanischer Präsident reagieren? Und wie würde in solcher Notlage unser eigenes deutsches Volk reagieren?

Meine mit der zunehmenden Zahl sowjetischer SS 20-Raketen gleichfalls zunehmende Besorgnis führte anfangs 1979 zu einem Vierer-Treffen auf der karibischen Insel Guadeloupe – Carter, Giscard d’Estaing, Callaghan und ich –, wo wir mit entscheidender Hilfe durch meinen französischen und meinen englischen Freund gemeinsam den sogenannten Doppelbeschluss konzipiert haben. Im gleichen Jahr hat dann das nordatlantische Bündnis sich insgesamt das Konzept zu eigen gemacht.

Damit bot der Westen einerseits der Sowjetunion an, über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen zu verhandeln. Andererseits kündigte er aber an, sofern nach Ablauf von vier Jahren kein Verhandlungsergebnis zustande käme, sodann auch selbst atomare Mittelstreckenraketen in Europa (keinesfalls allein in Deutschland!) zu installieren, die auf sowjetisches Gebiet gezielt sein würden und dergestalt in Europa ein Gleichgewicht der atomaren Bedrohungen wiederherstellen würden.

Dass sich vor allem in Deutschland erhebliche Kritik an dieser doppelten Entscheidung erheben würde, haben wir natürlich erwartet – und in Kauf genommen. Ich hatte die westdeutsche Neigung, sich ängstigen zu lassen, ja schon vielfältig erlebt: Angst vor dem sogenannten Waldsterben, Angst vor dem angeblichen »Ende des Wachstums«, Angst vor der angeblichen »Rückkehr des Faschismus«, Angst vor Kernkraftwerken usw. Jetzt kam eine Angst vor dem Kriege hinzu. Allerdings wurde sie auch demagogisch geschürt, zum Beispiel mit dem törichten Schlagwort »Lieber rot als tot!« Das war zwar eine menschlich durchaus verständliche Parole. Sie war allerdings rein emotional und suggerierte den zweimal in Bonn demonstrierenden Massen, es gäbe außerhalb der beiden extremen Alternativen, nämlich entweder Unterwerfung unter die Sowjetmacht oder tödlicher Krieg, es gäbe ansonsten keinen Spielraum für strategische Vernunft, für Politik und Diplomatie.

Nachdem es aus innenpolitischen Motiven 1982 in Bonn zu einem Wechsel des Koalitionspartners und zum Regierungswechsel gekommen war, sind leider auch große Teile meiner eigenen Partei dieser Ängstigung zum Opfer gefallen. Erst gegen Ende der neunziger Jahre hat Bundeskanzler Gerhard Schröder seinen zwei Jahrzehnte zurückliegenden Irrtum eingestanden. In der Zwischenzeit hatte allerdings der Doppelbeschluss seinen stupenden Erfolg längst erzielt. Denn nicht etwa nur Bundeskanzler Kohl, sondern das ganze atlantische Bündnis hatte an beiden Teilen des Doppelbeschlusses festgehalten.

Und sie hatten tatsächlich das erstrebte Ergebnis erzielt: Der IMF-Vertrag (Inter-mediate Forces, IMF) wurde zum allerersten Abrüstungsvertrag seit 1945, und er beseitigte auf beiden Seiten die atomaren Mittelstreckenraketen in Ost- und Westeuropa. Unsere lange abgewogene strategisch-diplomatische Vernunft hatte sich in Ost und West durchgesetzt.

Interessant in diesem Text ist Schmidts Beschreibung latenter Angstneigungen in Deutschland. Schauen wir doch im Moment wie das Kaninchen auf die Schlange und wollen dieser am liebsten die Krim zu Lasten Dritter/Ukraine überlassen (Platzeck!).

Platzeck 2014 ist hier einfach nur russisch-deutsch-chauvinistisch schäbig. Auch gibt er damit den Weg für jedwede künftige Annexion und Gebietsrückforderung frei. Die deutschen Nazis wird’s freuen. Konkret verstößt der MP a.D. Matthias Platzeck auch gegen die KSZE-Schlussakte (Integrität der Grenzen/friedliche Änderungen). Aber damals (1975) war er noch jung. SPD, Brandt und Schmidt waren für ihn zu dieser Zeit sicher noch Geister einer anderen, fremden Welt. Was nicht schlimm sein muss. Aufs Dazulernen kommt es an.

Zurück zur SPD, ihrer Saat bis 1982 und der Ernte durch andere 1989:

1989 besaß die SPD bedeutende Trümpfe aus ihrer unvergessenen Ost-, KSZE- und Nachrüstungspolitik für ein erfolgreiches Mitmischen im deutschen Einigungsprozess.

Eine starke SPD-West, eine starke SDP/SPD-Ost und vor allem eine starke gesamtdeutsche SPD hätten schwerwiegende Fehler des Einigungsvertrages verhindert und einen anderen Koalitionsvertrag nach dem 2. Dezember 1990 mitgeschrieben.

Doch um erfolgreich bis dahin kommen zu können, hätte es einer grundsätzlich wohlwollenderen Behandlung der Freiheits-, Einheits- und Sicherheitswünsche der Ostdeutschen sowie einer respektvolleren Partnerschaft mit der SDP/SPD-Ost bedurft. Beides lief der eigenen würdevollen SPD-Geschichte gegenüber eher unwürdig ab.

Ein prägnantes Beispiel lieferte der offizielle SPD-Umgang mit Norbert Gansels Denkanstoß, den ›Wandel durch Annäherung‹ angesichts der fulminanten Änderungen im Ostblock durch die Formel ›Wandel durch Abstand‹ auf die Höhe der Zeit zu bringen. Gansel stand auf zwar ehrenvollem, aber doch verlorenem SPD-Posten.

Ich zitiere aus Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich Sturm in der Herausgeberschaft der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Verlag J. W. Dietz Nachf., Ausgabe 2006, S. 169:

Eine pronocierte Position vertrat hierzu wieder Norbert Gansel. Er nahm in dieser Frage kein Blatt vor den Mund und brachte Dramatik in die Debatte. Seine Partei müsse den von Bahr im Jahre 1963 begründeten ›Wandel durch Annäherung‹ angesichts der Unfähigkeit der SED zu Reformen durch einen ›Wandel durch Abstand‹ ersetzen, erklärte Gansel im Rahmen einer deutschlandpolitischen Debatte bei der Berliner SPD. Gansels Vortrag sorgte für Aufregung, stellte doch ein dem linken Flügel angehörender Politiker die Dialogpolitik der SPD grundsätzlich infrage… Gansel entschied sich vielmehr dazu, den Text seiner Rede auf einer Sonderseite der Frankfurter Rundschau am 13. September 1989 veröffentlichen zu lassen. Dieses Datum wählte Gansel nicht ohne Grund, versuchte er doch damit, über die Medien Ehmkes Delegationsreise in die DDR zu verhindern. In der parteiinternen Auseinandersetzung war ihm dies zuvor nicht gelungen. Der Aufsatz lieferte damit ein Beispiel, wie – und wie erfolgreich – Politiker eigene Vorstellungen über die Medien ›spielen‹.

Lakonisch beschrieben: 1989 war Fahrprüfung für die SPD. Sie fiel durch, weil wichtige Wortführer der ältesten demokratischen Partei Deutschlands die geänderten Wegeverhältnisse nicht beachten wollten und die alte Tante SPD lieber in den Straßengraben lenkten.

Träume sind Schäume. Wohl wahr. Die SPD bis 1982 stand für meine Träume. Die SPD mit den unsäglichen Forderungen nach Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und nach Schließung der Erfassungsstelle Salzgitter und vor allem mit ihrer sich selbst überhebenden Nebenaußenpolitik mit dem traurigem Höhepunkt »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«, kurz SED-SPD-Papier genannt, diese SPD stand bei mir für schlechte Schäume. Dabei standen bereits das Görlitzer Programm 1921 und endgültig das Godesberger Programm 1959 für eine mehrheitsfähige Sozialdemokratie, die aus der Ideologiefalle schlüpfte und die SPD zur Volkspartei zu wandeln vermochte.

Damals im Freiheits- und Einheitsjahr 1989/90 hielt ich das alles noch für reparabel. Der SPD-Bundesparteitagsbeschluss vom November 2013 in Leipzig belehrte mich endgültig eines Schlechteren: Die SPD will augenscheinlich ›vor die Hunde gehen‹! Politischer Selbstmord scheint inzwischen salonfähig gewordenzu sein. Schade! Dabei wird sie doch so sehr gebraucht, die SPD, in dieser unberechenbaren Welt! Wer bei Deckungsgleichheit mit Linksaußen auf Stimmenzuwächse hofft, versteht nichts. Die Bevölkerungsmehrheiten tummeln sich nach der Gaußschen Glockenkurve, meine Wahlkreiserfahrungen bestätigten das über 20 Jahre, zwischen den Rändern. Gerade diese Mehrheiten wählen mit Überzeugung nicht Linksaußen. Wieso sollen dann mit Linksaußenrhetorik ausgerechnet Stimmen aus der Mitte gewonnen werden? Im Gegenteil, jede nach links gewonnene Stimme inkludiert den Verzicht auf ein Mehrfaches in der Mitte.


Die Etappen aus meiner Sicht

I 1989: Die SDP traut sich was

Der Boden für eine SPD-Gründung in der DDR war, wie oben beschrieben, tatsächlich gut bereitet. Die Nachkriegsglanzlichter Kurt Schumacher, Ost-Büro der SPD, Frontstadtbürgermeister Willy Brandt, Passierscheinabkommen Westberlin, Außenminister und Naziopfer und -gegner Willy Brandt, Neue Ostpolitik, Bundeskanzler Brandt in Erfurt 12.3.1970, Brandts Kniefall in Warschau 7.12.1970, Grundlagenvertrag, Extremistenbeschluss, Bundeskanzler Helmut Schmidt und KSZE, Schmidts Standhalten gegen die RAF, Weltökonom Schmidt, Schmidts NATO-Nachrüstung und die direkte Folge INF-Vertrag, all das waren für die Mehrheit der ostdeutschen an Politik interessierten medialen Zaungäste durch den Eisernen Vorhang miterlebte Ereignisse, die der SPD noch bis in den Spätherbst 1989 hinein eine glanzvolle Perspektive zu garantieren schienen. Die Sozialdemokratie hatte sich über Jahrzehnte in Ostdeutschland einen Ruf erarbeitet, der scheinbar unkaputtbar helles Licht warf. Die Schattierungen sozialdemokratischer Politik waren bei den meisten Leuten nicht oder fast nicht präsent. Das linke Unterlaufen des Extremistenbeschlusses, der Hang zur Nebenaußenpolitik inklusive zur Schließung von Salzgitter und dem linken Anerkennungswahn der DDR-Staatsbürgerschaft, das Anrennen gegen Schmidts Nachrüstung und vieles mehr wurde bis 1989 zwar wie in Nebensätzen wahrgenommen, aber dennoch nicht stilbildend für das SPD-Bild der Ostdeutschen. Diese Fehlgriffe wurden erst mit der nach und nach erkennbar werdenden sozialdemokratischen Unfähigkeit, mit den plötzlichen Erfordernissen im Sommer/Herbst 1989 in der DDR fertig zu werden, zur Gefahr für das tatsächlich bis dahin wohl nur idealisierende Abziehbild (West-)SPD.

Das Monument Sozialdemokratie begann sich recht orientierungslos zu entblättern. Heraus kam dabei eine Partei, die in großen Teilen weder wusste, was wirklich los war und erst recht nicht willens und in der Lage war, den Ostdeutschen eine stringente Alternative anzubieten. Hier war die Union plötzlich groß im Vorteil. Sie spielte bis 1989 nicht wirklich eine Rolle, war dadurch regelrecht unterschätzt und startete mit Helmut Kohl scheinbar führungsstark step by step durch. Hier die scheinbar fahruntüchtige SPD, da Helmut Kohl mit seiner organisiert wirkenden CDU. Den in der politischen Vielfalt unerfahren Ostdeutschen blieb gar keine andere Wahl als Kohl mehr zuzutrauen.

Doch der Reihe nach. Die Ankündigung der nahenden Geburt des Kindes Sozialdemokratie in der DDR erfolgte am 24. Juli 1989. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte die West-SPD es wissen können, hätte sie es denn auch wissen gewollt, dass ein kleines Schwesterlein kommen wird. Leider wartete die erfahrene und ideologisch schläfrig gewordene große Schwester auf Erhellendes von ihrer riesengroßen, unansehnlichen Schwippschwägerin SED. Von dort kam jedoch außer Betonrezepten nichts Substantielles. Das kam dafür aus Schwante, ausgerechnet am sogenannten Republikgeburtstag am 7. Oktober 1989. Dort gründeten Martin Gutzeit und Markus Meckel gemeinsam mit 42 anderen jungen Leuten die Sozialdemokratische Partei in der DDR /SDP.

An und für sich traf es beide sehr hart. Die West-SPD sollte eine ungewollte, unideologische kleine Schwester einfach eben mal adoptieren und mit diesem sozialdemokratischen Etwas sogar noch gemeinsam an der Zerstörung der DDR wirken sowie an gemeinsamer Politik stricken?! Die SED und das MfS bereiteten sich zwar seit Gorbatschows Glasnost und Perestroika auf einen Tapetenwechsel zur Erhaltung der Diktatur der Arbeiterklasse vor, doch ging das ab Sommer 1989 für SED/MfS einfach viel zu schnell. Wer sollte denn jetzt noch auf die Kleiderordnung achten? Auch dem listigen Markus Wolf nützte plötzlich sein angebliches Ausscheiden aus dem MfS nichts mehr. Mit jedem Montag in Leipzig und der gesamten DDR zerbröselte die zum ›Tapezieren‹ vorbereitete DDR mehr und mehr. Der Zug in die Freiheit wurde immer schneller, SED und Stasi bekamen einfach keinen Fuß in den Führerstand. Nicht einmal die Besetzung des Bremserhäuschens funktionierte richtig. Die Leimrute Dialog wurde zwar von vielen angenommen, doch eben nicht, um mit dem Demonstrieren aufzuhören.

Eigentlich lief zu diesem Zeitpunkt noch alles gut für die Sozialdemokratie in West- und Ostdeutschland. Hier die West-SPD, das große Vorbild aus dem Fernsehen, dort die Ost-SPD/SDP an vorderer Front in der Friedlichen Revolution. Daraus musste doch etwas werden. Wurde es auch zuvörderst. Doch dann kam es von Woche zu Woche dicker. Allein die Diskussion um den Parteinamen SDP war ein Stück weit unterirdisch. Wieso denn nicht gleich SPD? Sozialdemokratie wurde von den meisten Ostdeutschen nur gesamtdeutsch gedacht. SDP in der DDR klang halt einfach wie SDP in einer DDR, die wohl noch ewig weiter bestehen solle? Hätten die Ostdeutschen damals gewusst, dass auch diese Namensgebung viel mit dem Fremdeln der West-SPD mit einer ostdeutschen Sozialdemokratie zu tun hatte, wir hätten damals sofort einpacken können. Dieser Schmarren hätte nur in Ostberlin eine (kurze) Chance (bis zu einer Fusion mit der SED?) gehabt.

Die Plauener Neusozis machten das in ihren Augen Nichtnachvollziehbare nur sehr unfreiwillig mit und nannten sich alsbald entgegen mancherlei Regieanweisungen ›von oben‹ sofort und schnörkellos SPD.

Rolf Schwanitz:

Die erste öffentliche Versammlung der SDP fand in Plauen am 30. November 1989 statt. Zuvor gab es eine Gründungsversammlung am 16. November, die von drei Personen (Klaus Gerstner, Kurt Schwabe, Rüdiger Müller) durchgeführt wurde sowie zwei weitere ebenfalls nichtöffentliche Leitungsversammlungen, auf denen sich die Mitgliederzahl auf insgesamt 7 Personen erhöhte. Bereits auf der ersten öffentlichen Mitgliederversammlung am 30. November, auf der ich eingetreten bin, gab es eine Diskussion, weshalb sich die Partei nicht gleich unter ihrem Markenzeichen "SPD" versammelt. Einen konkreten Umbenennungsbeschluss gab es aber da noch nicht. Das änderte sich aber bei der zweiten öffentlichen Mitgliederversammlung der SDP in Plauen am 14. Dezember 1989. Dort erfolgte unter Tagesordnungspunkt 3 ein einstimmiger Beschluss zu Umbenennung des Ortsvereinsnamens von »SDP« in »SPD«.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Berliner Landesvorstand (DDR) der SDP, erweitert durch Vertreter aus den Bezirken, zwei Tage zuvor, am 12. Dezember, ausdrücklich erklärte: »Der Name der Partei bleibt bis zur Delegiertenkonferenz am Beginn des kommenden Jahres bestehen. Der Vorstand bittet die Basisgruppen und Kreisverbände die Entscheidung über eine Namenänderung der Konferenz zu überlassen.«

Offensichtlich scharrte man damals nicht nur in Plauen gewaltig mit den Füßen.

Hier ein SPD-Aufruf zur Demonstration in Plauen vom 09. Januar 1990. Umbenannt wurde die SDP aber erst am 14. Januar.

Aufruf

Interessanterweise erlebte die SDP ausgerechnet 25 Jahre nach ihrer Gründung und 24 Jahre nach ihrer Fusion mit der West-SPD eine damals ungeahnte Renaissance. Das Gründerthema der SDP, die Zerstörung der SED, wurde durch die Diskussion um den Linksaußenministerpräsidenten in Thüringen wieder auf die politische Agenda der Bundesrepublik gesetzt. Plötzlich steht SDP nicht mehr nur für die nunmehr historisch gewordene Sozialdemokratie in der DDR, sondern für eine antitotalitär ausgerichtete Sozialdemokratie innerhalb der jetzigen SPD: Die SDP sozusagen nicht als Synonym deutscher Teilung, sondern als Spiegelbild der sozialdemokratischen Zerrissenheit in der Wahrnehmung der politischen Extreme. 2014 mehrten sich die Stimmen für eine Wiedergründung der SDP, die zuletzt in Ilmenau (3.11.2014), Erfurt (9.11.2014 und 4.12.2014 regelrechte Urstände feierte.

Erster sozialdemokratischer Stolperstein eigener Herkunft im Revolutionsherbst 1989 auf dem Weg zu Deutschen Einheit: Das Unvermögen, die SDP erfreut zu begrüßen.


II Findungsprozesse

Die Begrüßung ging also gründlich daneben. Das wäre ja wieder wettzumachen gewesen. Noch wussten die Ostdeutschen nichts vom sozialdemokratischen Kuddelmuddel. Leider ging das Holpern und Stolpern unendlich lange weiter. 1989/90 inflationierte die politische Situation dermaßen schnell, dass die Entwicklungen einer Woche zu normalen Zeiten Entwicklungen von Monaten oder gar von Jahren benötigt hätten. Figilanz, Konsequenz, Mumm und Risikobereitschaft von Politikern war gefragt. Von SPD-Seite kam zu diesem Zeitpunkt einfach zu wenig.

Willy Brandts Jahrhundertsatz »Es wächst zusammen, was zusammen gehört« gab der deutschen Sozialdemokratie nach seiner Ostpolitik ein zweites Mal einen Schub, der wieder für einen Flug in den politischen Sternenhimmel ausgereicht hätte. Dieser Schub wurde von der SPD weder verstanden noch ausgenutzt.

Die SDP hätte gern mehr und schneller agieren wollen, wollte dies aber vernünftigerweise unter allen Umständen in Übereinstimmung mit der West-SPD zuwege bringen.

Der SDP-Vorstand in Ostberlin befand sich diesbezüglich richtig in Kalamitäten. Statt professioneller politischer Hilfe und Tatkraft kam nicht mal laue Luft aus der Bonner Baracke.

In der Provinz und hier zuerst in Leipzig erscholl der sozialdemokratische Ruf nach Deutscher Einheit (und nach grundsätzlicher historischer Aufarbeitung). Diesen Druck wollte der SDP-Vorstand aufnehmen, was er nicht einfach tun konnte oder wollte, weil die Position der West-SPD nicht klar war. Der SDP-Vorstand wollte es sich zudem nicht mit der West-SPD verderben, von der er fürchtete, diese würde dann vielleicht lieber mit der SED ins Konkubinat gehen und mit dieser die zwei deutschen Staaten erhalten wollen.

Sage und schreibe siebenundsiebzig Tage benötigte der Vorstand der West-SPD seit Gründung der SDP und vierunddreißig Tage seit Willys programmatischem Satz, um am 13. Dezember 1989 endlich in eine förmliche Partnerschaft mit der SDP einzutreten! Bis dahin wussten weder die ostdeutschen Sozialdemokraten noch die ostdeutsche Bevölkerung, woran sie mit der West-SPD sein würden. An der Seite der mutigen SDP-Revolutionäre (in die das MfS genauso eindrang wie es in anderen Parteien bereits seit Jahrzehnten der Fall war – was eine weitere Geschichte wäre, immerhin standen zur Volkskammerwahl an der Spitze jeder Partei diesbezüglich ›komplizierte‹ Leute) oder inmitten der auf neue Tapete sich tunenden SED-Mafia?

Zweiter sozialdemokratischer Stolperstein eigener Herkunft im Revolutionsherbst 1989 auf dem Weg zu Deutschen Einheit: Das Unvermögen, sich für die SDP und gegen die SED entscheiden zu wollen.


III Das Berliner Programm von gestern für morgen?

Das Drama näherte sich dem nächsten Akt. Der Berliner Programmparteitag stand an. Entwickelt wurde dieses Programm zu Zeiten des SPD/SED-Papiers im Hinblick auf den kommenden SPD-Star Lafontaine. Dies Programm konnte beim besten Willen zu diesem Zeitpunkt die vor kurzem nicht für möglich gehaltenen politischen Änderungen im Zuge der Friedlichen und Samtenen Revolution mit der Möglichkeit der Deutschen und Europäischen Einheit noch nicht reflektieren. Über Jahre waren viele Sozialdemokraten in diese Programmdiskussion intensiv eingebunden, hatten ihr Herzblut reinformuliert.

Soweit war das alles emotional noch irgendwie zu verstehen, gerade bei Freunden. Keinesfalls zu verstehen war jedoch die schreiende Unfähigkeit zum Umschalten. Das Programm passte plötzlich klar erkennbar nicht mehr in die Zeit und ihre neuen Erfordernisse. Deutschland-, Europa-, und weltpolitisch waren die Fenster offen und die SPD-West wollte davon auf ihrem Programmparteitag bis auf eine halbseidene Erklärung statt eines Änderungsantrages geradezu bockig keine manifeste Notiz nehmen! So als ob da Hoffnung war, dass der DDR-Trubel vorüber gehen würde und die SED doch noch ihre Chance mit der SPD bekommen würde. Jedenfalls passte das Berliner Programm weitaus besser zum SED-Reformgeschwafel als zum freiheitsgeprägten SDP/SPD-Volkskammerwahlprogramm vom Februar 1990.

Gleichermaßen symptomatischer und trauriger Tiefpunkt dieser Programmdebatte war die Verhinderung des Redebeitrages des deutschlandpolitischen Sprechers der SPD-Bundestagfraktion zu möglichen Schritten zur Deutschen Einheit. Katrin Fuchs MdB, eine ideologisch festgefahrene Lafontainistin, ließ als Parteitagspräsidiumsmitglied ihren Kollegen Hans Büchler MdB aus Hof am 20. Dezember 1989 nicht zu Wort kommen. Dieser wollte den Parteitag auffordern, ein Bekenntnis zur Deutschen Einheit abzulegen. Wäre dies gelungen, hätte die SDP wieder starken Rückenwind in Leipzig und überall in der DDR bekommen. So aber setzte sich Lafontaine durch und für Sozialdemokraten wurden die Montagsdemonstrationen ungemütlich. Mit Lafontaines Ablehnung der Deutschen Einheit kroch die Kälte in die DDR-weiten Demonstrationen. Daran konnten Brandt, Schmidt, Vogel, Büchler, Dohnanyi, Renger und viele, viele andere westdeutsche Sozialdemokraten nicht viel ändern. Lafontaine stand in der West-SPD in der Tür. Das wussten die Ostdeutschen. Mit Lafontaine hatte die SPD den falschen Mann zur falschen Zeit an Bord. Es konnte nur in die Hosen gehen.

Dritter sozialdemokratischer Stolperstein eigener Herkunft im Revolutionsherbst 1989 auf dem Weg zu Deutschen Einheit: Der Berliner Programmparteitag wurde weder verschoben noch zu einem deutschlandpolitischen Parteikongress zur aktuellen Situation umfunktioniert.

Kohl und der CDU wäre so ein Fauxpas nicht passiert. Die SPD zog die SDP nicht auf die Autobahn, sie schob sie ins Abseits.


Heller Zwischenstopp

Zeit für einen Zwischenstopp. Alles war ja nicht schlecht in und mit der SPD 1989/90. Auch in der Sozialdemokratie der Bundesrepublik war der Jubel über die Friedliche Revolution in der DDR riesengroß. Und dabei eine Partei, die sich in der DDR auf die Sozialdemokratie berief, im Herbst 1989 mit an der Spitze der Bewegung zu sehen, erfüllte die Mehrheit der SPD-Mitglieder und -Abgeordneten mit großem Stolz. Unterschiedlich aufgestellt war diese innerparteiliche Mehrheit lediglich – am entscheidenden Punkt –, ob mit dem Erreichen von Freiheit und Demokratie bereits alles für die Ostdeutschen erreicht sei oder ob der gemeinsame Schutz innerhalb der Bundesrepublik, der EU und der NATO gewährleistet werden solle. Hier unterschieden sich die Sozis sicher nicht allzusehr von der gesamten westdeutschen Bevölkerung. Nicht jeder politisch Interessierte war und ist gleichzeitig Vollblutpolitiker mit politisch-systematischen Gedankenspielen im Hinterkopf. Mein Vorwurf kann naturgemäß nur an jene gehen, die die Zusammenhänge hätten besser kennen müssen, weil sie sich tagtäglich mit Politik beschäftigten und dennoch komplett versagten – die sogenannten ›Zweistaatler‹ um Bahr und Lafontaine. Die SPD-Mitgliedschaft war demgegenüber mehrheitlich glücklich über die Entwicklung und übte sich auch ganz schnell in beachtlicher Solidarität.

In Leipzig ging es jedenfalls sehr schnell mit dem deutsch-deutschen Zusammenkommen auf sozialdemokratischem Humus.

SPD-Wahlkampfhilfe für SDP

In den Erinnerungen Volker Manhenkes (damals Vorsitzender des SDP-Kreispräsidiums Leipzig) lief dies folgendermassen ab (aus Erinnerungen und Gedanken eines Mitgründers der SDP Leipzig/ Dr. Volker Manhenke 1999):

Schon im November 1989 – glaube ich – war Johannes Rau in Leipzig, sprach mit alten Führungen. Die Opposition wollte er nur kurz als Ganzes sehen. Von der SDP nahm er bei der Zusammenkunft keine besondere Notiz, nur einer seiner Mitarbeiter sprach mich dort unauffällig an und im Ratskeller sagte dieser uns die Zustellung eines Kopiergerätes zu, was auch realisiert wurde. Später begriff ich, daß es der SPD damals sehr schwer fallen mußte, uns Neulinge als Partner anzuerkennen, während alle anderen Westparteien mit großen gestandenen und sich wendenden Parteien rechnen konnten.

Die Partnerstadt Hannover nahm Kontakt mit Leipzig auf. Schmalstieg besuchte uns nach seinem Treffen mit dem SED-Bürgermeister gegen 24 Uhr bei mir zu Hause. Mit seinen SPD-Begleitern organisierten wir in den nächsten Tagen, daß über 100 Leipziger SDPler nach Hannover fuhren, dort bei Familien von Genossen übernachteten (ich hatte die Adressen von ca. 300 Hannoveraner SPDlern erhalten), führten einen Erfahrungsaustausch und Diskussionen über den weiteren Weg. Am nächsten Tag stand in der Zeitung, daß der Leipziger SDP-Präsident Manhenke nicht aus Dankbarkeit vor den (durchaus sehr willkommenen, Manh.) Geldspenden der Hannoveraner Genossen verstummte, sondern klare Forderungen bezüglich der weiteren Zusammenarbeit stellte. Ich warnte u. a. vor einer Zusammenarbeit mit derzeitigen SED-dominierten Strukturen und forderte, nur mit Vertretern der Runden Tische zu sprechen. Dort lernte ich Hinrich Lehmann-Grube kennen. Er hörte genau zu und verstand. In der Folge bestanden gute Kontakte mit der dortigen SPD, es kam zu mehreren Arbeitsbesuchen in Leipzig und für Leipziger SPD-Mitglieder wurde später eine Kommunalschulung bei Hannover durchgeführt.

SDP in Hannover

Johannes Rau war bei weitem nicht der einzige maßgebliche bundesdeutsche Sozialdemokrat mit dem unbedingten Wollen, den Ostdeutschen zu helfen, gemeinsam mit »ihren« Sozialdemokraten den kommenden Weg der dramatischen Änderungen gut zu beschreiten. Nach Johannes Rau kamen sehr bald die Kanalarbeiter und Seeheimer der SPD voller Neugierde auf ihre neue Verwandtschaft in der (noch)DDR). Egon Franke, Annemarie Renger, Gerd Andres, Klaus von Dohnanyi und sehr viele unbekannte schwer gerührte Sozis wollten viel wissen und vor allem viel helfen. Es war eine tolle Zeit. Nicht nur in Leipzig. Diese Begegnungen fanden überall in den 15 DDR-Bezirken statt.

Zum Stab von Johannes Rau gehörte auch der umtriebige Bodo Hombach. Ihn läßt Daniel Friedrich Sturm wirkungsvoll zu Wort kommen:

(Daniel Friedrich Sturm, »Uneinig in die Einheit«/Bundeskanzler-Willy- Brandt-Stiftung/J.W.Dietz Nachf. GmbH 2006; S. 275-277)

4. Die Zusammenarbeit auf unteren Ebenen (Landesverbände, Bezirke, Unterbezirke, Ortsvereine und Arbeitsgemeinschaften)

Einzelne Gliederungen beider Parteien einigten sich schon sehr früh auf eine Zusammenarbeit. So kamen bereits vor dem SPD-Parteitag im Dezember 1989 die Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen Parteibezirke mit ihren Kollegen aus den DDR-Bezirken zusammen. Die nordrhein-westfälische SPD unter ihrem umtriebigen Landesgeschäftsführer Bodo Hombach hatte der SDP bereits zuvor Hilfe geleistet, während das Ollenhauer-Haus noch vor überstürzten Aktionen warnte. Hombach, der sich bereits am Tag nach der Parteigründung von Schwante in einem Brief an Böhme gewandt hatte, »verstand dieses Engagement als politisch notwendig. Er verwies darauf, dass die mehrheits- und mitgliederverwöhnte SPD an Rhein und Ruhr ebenso Parteifreunde in der sozialdemokratischen Diaspora Bayerns unterstützte.« Hombach reiste zu dieser Zeit einmal pro Woche in die DDR, »eine Woche nicht hier sein, heißt umlernen«, war ihm klar geworden. Längst kannte Hombach die dortigen Verhältnisse und wurde mit seinem Einsatz wie seinem Wissen über die politischen und strukturellen Umstände zur Ausnahmeerscheinung in der SPD.

In einem internen Papier, das der »Spiegel« damals veröffentlichte, hatte sich Hombach mit Ratschlägen an die Funktionäre seiner Partei ge­wandt. Er drängte darauf, jede technische Hilfe »mit den Freunden in der DDR« genau abzustimmen. »Es nützt ihnen nichts, wenn (wie geschehen) eines unserer Büros einen Computer schenkt, mit dem es selber nicht zurechtgekommen ist.« Recht schnell bewies Hombach Sensibilität. »Unser Leitgedanke«, schrieb er, »soll sein: Wir müssen helfen, aber wir müssen auch helfen wollen.« Vielen anderen Funktionären seiner Partei erschien Hombachs Engagement als nicht nachvollziehbar. Bei der Ost-SPD wurde Hombach freundlich empfangen. Dies lag u.a. an der Reputation Raus, dessen Landtagswahlkämpfe er organisiert hatte.

Hombach bemühte sich primär um die gerade einmal drei Monate alte SPD in Leipzig, bei der es weiter an Kommunikationsmitteln mangelte. Bei einem Besuch versprach Hombach seinen Parteifreunden, das nächste Mal werde er ein Telefaxgerät mitbringen. Mancher in der Runde der Leipziger Sozialdemokraten hörte hier den Begriff »Telefax« zum ersten Mal. Als Zöpel einer Leipziger Parteifreundin vorschlug, das mitgebrachte Wahlkampfmaterial in »dein Auto« umzuladen, musste er sich anhören, dass sein Gegenüber kein Auto besaß und den Wahlkampf bis dato mit der Straßenbahn bestritten hatte. Die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte traten so offen zu Tage. Mentale Differenzen waren bei den Ost-West-Kontakten immer wieder spürbar. Ein besonders prägnantes Beispiel lieferte die bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Ursula Pausch-Gruber, die sich im Juli bei Richard Schröder beklagte, »mit Betroffenheit wird in Freidenkerkreisen der Beschluß der Volkskammer, die Förderung der Jugendweihe des Freidenkerverbandes zu streichen, aufgenommen«. Nun war dem Theologen Schröder die Diskriminierung aller kirchlichen Aktivitäten in der DDR bewusst, sein eigenes Promotionsverfahren aus dem Jahre 1977 war erst 1990 anerkannt worden. Entsprechend fassungslos zeigte sich Schröder, dass bayerische Parteifreunde von ihm nun ein Engagement zugunsten der Jugendweihe erwarteten: »Nehmt mir nicht übel, wenn ich schroff und klar erkläre: da seid Ihr an der falschen Adresse. Ich selbst bin u.a. wegen der Nichtteilnahme an der Jugendweihe und der Nichtmitgliedschaft in der FDJ vom Besuch der Oberschule ausgeschlossen worden... Meiner Tochter (aber) wurde noch im Mai 1989 erklärt, sie könne aus denselben Gründen nicht Jura studieren.«

Der Europaabgeordnete und frühere Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt unterstützte den Aufbau der SPD in Thüringen. Arndt tat dies nicht frei von emotionaler Verklärung, hatte doch sein Großvater im 19. Jahrhundert die thüringische SPD mit gegründet. Er mietete sich in Erfurt zwei Zimmer und ließ die Stadt als Zweitwohnsitz in seinen Diplomatenpass eintragen. Arndt machte sich in der eigenen Partei in Thüringen jedoch schnell unbeliebt. Vielen ging der Eifer des 62-Jährigen zu weit, insbesondere als er sich »Geschäftsführer« der thüringischen SPD titulieren ließ – zu einer Zeit, als dieser Landesverband noch nicht gegründet war. Skeptisch betrachteten die thüringischen Sozialdemokraten Arndts Großspurigkeit, etwa wenn er betonte, jüngst habe er mit dem Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors, über den EG-Beitritt der DDR verhandelt. Neben Arndt widmeten sich weitere frühere SPD-Spitzenpolitiker der politischen Arbeit in der DDR. Klaus von Dohnanyi gewährte Hilfe für die SPD in Mecklenburg. Der frühere hessische Landesminister Hans Krollmann war in Brandenburg aktiv.

Inzwischen warf die Volkskammerwahl ihre Schatten voraus. Ab Januar 1990 befanden wir uns im Dauerwahlkampf bis zum 18. März. Die wichtigste Tribüne in Leipzig war jeden Montag der Balkon der Oper, doch organisierten wir selbstverständlich auch eigene Veranstaltungen. So auch der OV Südost am 20. Januar 1990 im Fußballstadion des 1. FC Lokomotive Leipzig mit Helfern aus Hannover):

Von Hans Büchler, damals Deutschlandpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ist mir bekannt, dass er mehrere hunderttausende DM an Spenden in der Region Hof generieren konnte, die über eine große Bank an die SDP-Gliederungen in Leipzig, Jena und Chemnitz weitergeleitet wurden. Davon wurde Vervielfältigungstechnik, Bürotechnik, Papier u.v.m. gekauft. Es war eine unbeschreibliche Hilfe- und Sympathiewelle. Viele, noch immer andauernde Freundschaften entstanden daraus.

Hans Büchler wurde ein knappes Jahr später leider ein prominentes Opfer der Bahr/Lafontaine-Riege in der SPD-Bundestagsfraktion. Ihm wurde sein gesamtdeutsches Engagement zum Verhängnis. Die SPD-Bundestagsfraktion wählte im Dezember 1990 den Sprecherkreis des neugebildeten Arbeitskreises IX/Ostdeutschland. Gesetzt war Wolfgang Thierse. Die Wahl seines Stellvertreters westdeutscher Provinienz wurde zur Abrechnung mit dem ›Einstaatler‹ Hans Büchler organisiert. Mit Büchler, dem über Jahre ausgewiesenen Deutschlandpolitiker und einem Mann, dessen Position sich gerade erst kurz vorher als historisch richtig erwiesen hatte, kandidierte Arne Börnsen um den Stellvertreterposten. Im Gegensatz zu Büchler hatte Börnsen dieses politische Feld vorher nicht beackert. Es gab eigentlich keinen plausiblen Grund, den Mann mit Fachwissen in der kommenden komplizierten Zeit abzusägen und durch einen fachlich eher Unberührten zu ersetzen. Was aber genau so organisiert war. Die Ossis hatten von diesen Flügelkämpfen keine Ahnung und wussten nicht, was in der Abstimmung gespielt wurde. Büchler nützte nicht einmal sein ausgearbeiteter Fraktionsantrag zum ›Grünen Band‹, den er mit zur Sitzung brachte und dort vorlegte. Die Mehrheiten waren ohne Wissen der Ossis von der Parteilinken vorgeklärt und Hans Büchler hatte seine gesamtdeutsche Schuldigkeit getan. Das musste einmal geschrieben werden!

Es entstanden 1989/90 nicht nur zwischenmenschliche Freundschaften. Auch Ortsvereine vereinbarten Partnerschaften. Zum Beispiel vereinbarten Hannover-List-Süd und Leipzig- Nordost eine Partnerschaft:

Die Partnerschaft in Leipzig nimmt Form an

In anderen Regionen fand dies alles ähnlich mit derselben Begeisterung statt. Hier zwei Fotos der Partnerschaft zwischen dem SPD OV Reichenbach/Vogtland und dem OV in Langen/Hessen:

 

An den gegenseitigen Sympathien, an der Bereitschaft aufeinander zu zu gehen hat es nicht gelegen. Der 18. März 1990 wurde vor dem Hintergrund der SPD(West)Haltung zur SDP und zur Deutschen Frage ein Tag der großen Enttäuschung für die neuen Sozialdemokraten in der DDR. Ich danke allen, die uns geholfen hatten! Es war schön!


IV ›Ihr Sozis wollt die Einheit nicht!‹

Nach den epochalen Ereignissen in der Friedlichen Revolution 1989/90 mit Massenflucht, Massendemonstrationen, Volksaufstand Leipzig zwischen 9. und 16. Oktober 1989, Mauereindrücken 9. 11. 1989 stand am 7. Dezember 1989 der nächste Akt auf der ostdeutschen Tagesordnung.

In seiner ersten Sitzung beschloss der Runde Tisch, die Volkskammerwahlen auf den 6. Mai 1990 festzulegen. Die amtierende DDR-Regierung und die amtierende Volkskammer, die wie all ihre Vorgängerregierungen und Volkskammern zu keinem Zeitpunkt demokratisch legitimiert waren, mussten zügig durch eine von einer demokratischen Volkskammer legitimierten neuen Regierung ersetzt werden.

Mit dem Wahltermin stand fest, wieviel Zeit die Akteure der Friedlichen Revolution zur Erreichung ihres Zieles Freie Wahlen, aber auch das ›Ancien Regime‹ (der alte Staat) zur Wiederherstellung alter Macht in neuer Verkleidung zur Verfügung haben würden.

Die neuen Gruppen und Parteien besaßen dabei nichts außer ihrem Engagement und (noch) großen Rückhalt in der Bevölkerung, die alten Parteien SED und Blockflöten hatten ihre großen Apparate. Während die Einen buchstäblich bei Null anfingen, konnten die Anderen bereits ihr Equipment und Personal für die Verbreitung ihrer Politikauffassungen einsetzen. Gehörten ihnen doch auch immer noch die Medien.

Für die SDP schien die Ausgangslage für den kommenden Wahlkampf mehr als günstig zu sein. Mit-Träger der Friedlichen Revolution hier und faktische Mitinhaberin des grandiosen sozialdemokratischen Erbes da. Zusammen mit der sehr vorzeigbaren Gilde auch in Ostdeutschland hoch angesehener sozialdemokratischer Spitzenpolitiker konnte den Wahlen eigentlich nur positiv entgegen gesehen werden. Noch stimmte scheinbar einfach alles. Die Bekenntnisse zur SDP und zur Deutschen Einheit seitens des SPD-Bundesvorstandes waren inzwischen erfolgt und gerade in Leipzig stand die SDP in hoher öffentlicher Anerkennung. Was sollte da noch schief gehen können?

Doch es sollte noch viel schief gehen. Die Zwei-Deutschland- und SED-Freunde in der SPD hatten es nicht verwunden, dass ihre Favoriten nicht zum Zuge kommen sollten. Die Deutsche Frage sollte unbedingt offen gehalten werden. Der Berliner Programmparteitag mit Lafontaines deutlich zu spürender Abneigung gegenüber der Deutschen Einheit, dem dortigen Verhindern des Redebeitrages Hans Büchlers zur Einheit ließen die kommenden Probleme für die Sozialdemokratie drohend am Horizont wetterleuchten.

Wieder lohnt ein Blick in Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich Sturm. Hier der Umgang mit Ollenhauers Rede von 1959 (S.243):

Zu Beginn des Parteitages wollte Anke Fuchs den Videoausschnitt einer Rede Erich Ollenhauers auf dem Godesberger Parteitag von 1959 zeigen. Darin hieß es: »Genossinnen und Genossen, ich möchte, ehe ich zum Programm selbst komme, noch eine weitere wesentliche Feststellung treffen. Das neue Grundsatzprogramm der Sozialdemokratie ist das Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in der Bundesrepublik. Wir sind uns dieser tragischen Unzulänglichkeit bewußt, und wir möchten unseren Genossen und Freunden in die Zone die selbstverständliche und undiskutierbare Gewissheit geben, daß wir mit ihnen gemeinsam die programmatischen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie neu diskutieren werden, wenn die Stunde gekommen ist, in der wir alle als freie Menschen in einem freien und wiedervereinigten Deutschland die Positionen und die Aufgaben des demokratischen Sozialismus neu bestimmen können.« Dem Parteitag 1989 aber wurde dieser Redeausschnitt vorenthalten. Wieczorek-Zeul verhinderte als Tagungspräsidentin ein Abspielen der Rede Ollenhauers: »Das wird nicht gezeigt, das bedeutet dann ja, wir sind für die Wiedervereinigung. Das aber sind falsche Signale, das wollen wir nicht«, habe Wieczorek-Zeul ihr bedeutet, berichtet Fuchs. Zwar hätte sich Fuchs als »Hausherrin« an diese Ansage nicht halten müssen. Fuchs und Vogel aber vermieden eine Auseinandersetzung, zumal Wieczorek-Zeul die Mehrheitsmeinung des Präsidiums verkörperte.

Und hier zu Lafontaines Rede auf dem Parteitag (S. 251-253):

Wie weit Lafontaine mit seiner Rede und seinem Denken von der Wirklichkeit des Lebens der Menschen in der DDR entfernt war, zeigte ein Radiointerview, das er am 21. Dezember im Rückblick auf den Parteitag gab. Ausgerechnet in der »Stimme der DDR« nannte er »die stärkere Betonung des Internationalismus« als wichtigste Botschaft und warnte davor, sich »allzu sehr nationalistischer Übersteigerung ... hinzugeben«. Die ökologische Zerstörung nannte er die »Hauptherausforderung unserer Zeit«. Zudem schwärmte Lafontaine, im neuen Programm der SPD finde sich ein »Arbeitsbegriff, der über Marx und Hegel hinausgeht«. Mit den Menschen in der DDR »fremdelte« Lafontaine. Treffend analysierte Richard Schröder später: »Merkwürdig, dass diejenigen, die sich für besonders weltoffen hielten, von dem bisschen Fremdheit der Ostdeutschen schon überfordert waren.« Brandt zeigte sich von Lafontaines Rede entsetzt. Auf der Rückfahrt von dem Parteitag, berichtet seine Frau, habe er gescherzt: »Ach was, diese Saarländer sind ja gar keine richtigen Deutschen.« Lafontaines Realitätsverweigerung wurde von Günter Grass übertroffen. Grass wandte sich in seiner Rede mit einer harten Rhetorik gegen die staatliche Einheit. Er geißelte »den rücksichtslos herbeigeredeten Einheitswillen der Deutschen« und sprach vom »Volk der DDR«. Grass erinnerte an Skandale in der Geschichte der Bundesrepublik, verwies auf die Affären um die Parteispenden des Großindustriellen Flick, die Vorgänge um die Baugesellschaft »Neue Heimat« und die Barschel-Affäre. Mit einer »Vereinigung als Einverleibung der DDR«, prognostizierte Grass, gehe Identität verloren. Und: Nach dem Bankrott des Kommunismus sei erkennbar, »dass der demokratische Sozialismus weltweit Zukunft hat«. Der Beifall zeigte, wie Grass die Stimmung unter den Delegierten getroffen hatte. Das Ausmaß der Widersprüche innerhalb der SPD zeigten drei weitere Wortmeldungen. Ganz wie Lafontaine äußerte sich einmal mehr Momper. Die SPD dürfe sich nicht an einer Wiedervereinigungskampagne beteiligen, warnte er. Diese mobilisiere allein nationalistische Gefühle, aber widme sich nicht dem, was den Menschen wichtig sei. Die deutsche Frage sei europäisch zu lösen… Kohl jedoch dominierte zum Ärger Lafontaines die Fernsehbilder am Abend und die Schlagzeilen des nächsten Tages. Das Medieninteresse an der SPD war begrenzt.
Kurzum: Der Parteitag erwies sich als Höhepunkt deutschlandpolitischer Verwirrungen. Brandt sprach euphorisch für die Einheit, Lafontaine wandte sich kämpferisch dagegen. Vogel schwieg.

›Ihr Sozis wollt die Einheit nicht‹, diesen Satz hieß es ab Jahreswechsel 1989/90 ständig und immer öfter abzuwehren. Was nützte es der SDP/SPD, wenn sie in Ostdeutschland tagsüber für die Deutsche Einheit warb und abends in den Nachrichten mit Lafontaine-Abwiegelungen desavouiert wurde. In Leipzig spürte ich diese Diskrepanz persönlich sehr stark. Oben auf dem Balkon der Oper stand ich für die ostdeutsche Sozialdemokratie mit dem Herzen für die Einheit und unten standen die Demonstranten, die am Abend vorher die Lafontainisten gegenteilig vernommen hatten. Von Brandt, Schmidt, Renger, Dohnanyi u.v.a. war es anders zu hören. Wunderbare Entwicklung, es wird auch Schwierigkeiten geben, doch wir werden es zusammen schaffen! Offene statt verschränkte Arme halt…

Ab sofort galt für die ostdeutschen Sozialdemokraten: Die SDP/SPD-Ost konnte erklären, was sie wollten, die Demonstranten achteten stärker auf die Äußerungen der kommenden ersten Garde der SPD-West um Lafontaine. Das Klima auf dem Balkon der Leipziger Oper kühlte sich für den SDP/SPD-Redner merklich ab. Das ging soweit, dass die Blockparteien plötzlich wie Bürgen geradliniger Deutschlandpolitik standen und zu richtiger Konkurrenz anwuchsen. Lafontaines Abwehr der Einheit, sein offensichtliches Nichtverstehen der Ostdeutschen außerhalb der SED-Nomenklatura befreite die Blockparteien faktisch von Schuld. Gemessen an Lafontaines Ablehnung erschienen den meisten Ostdeutschen diese Helden in gebückter Haltung als lässliche Sünder. Zudem übersahen die Ostdeutschen die vormaligen Blockparteien und die SDP/SPD zunehmend willentlich. Wichtig waren die Ost-Parteien in dieser Sichtweise nur noch als Ableger ihrer bundesdeutschen Schwesterparteien. Und auf die kam es in dieser Logik ja schließlich an. Gerade deshalb war Lafontaines Kurs höchst unprofessionell. Es ging um Mehrheiten zur Gestaltung der kommenden Prozesse und dieses angebliche große politische Talent erkannte nicht den Faden und zog die deutsche Sozialdemokratie aufs gesellschaftliche und historische Abstellgleis?


V Die SDP wird zur SPD(-Ost)

Die SPD mit ihrer nur kompliziert erklärbaren Haltung zur deutschen Frage hatte sich eindeutig die schlechteren Karten gemischt. Zuerst das zögerliche Ja zur Deutschen Einheit durch den SPD-West-Parteivorstand Anfang Dezember 1989, dann das einheitskritische Agieren Lafontaines auf dem Berliner Programmparteitag, die Situation für uns Ostsozialdemokraten war eine auf vermeintlich hohem Bevölkerungszustimmungsniveau zwischen Baum und Borke taumelnde Partei. Hinzu kamen ab und an indifferente Auffassungen des SDP/SPD-Ostvorstandes zur deutschen Frage. Geradlinigkeit, Selbstsicherheit mussten anders aussehen. Die Sozialdemokraten hatten sich in eine schwierige Lage gebracht. Der innerparteiliche Verdruss hierüber war jedenfalls in den südlichen Bezirken recht groß. Die alte Kluft zwischen der Provinz und Ostberlin tat sich wieder stärker auf.

Wir benötigten endlich wieder mehr Klarheit und vor allem den öffentlich deutlichen Nachweis, dass wir Ostsozialdemokraten von Anfang an zur deutschen Sozialdemokratie gehörten und als gesamtdeutsche Sozialdemokraten unsere frisch gewonnenen Freiheiten in der Deutschen Einheit absichern wollten. Kurz gesagt, so schnell wie möglich musste aus der SDP eine SPD/Ost werden! Gleichzeitig würde die Umbenennung in SPD der SED-PDS den Weg abschneiden, sich transformatorisch in SPD umzubenennen und an unserer Statt als natürlicher Partner der West-SPD die Öffentlichkeit zu verschaukeln.

Dies gelang am 13. Januar 1990 in Berlin. Vom 12. bis 14.01.1990 fand hier die erste DDR-weite SDP-Delegiertenkonferenz statt. Für die Region Leipzig kann ich sagen, wir hatten nur Delegierte nach Berlin entsandt, die uns vorher versicherten, für die Umbenennung in SPD zu stimmen. Es war eine Herzensangelegenheit und sollte auch der Wiedergewinnung wegen Lafontaine verlorenen Vertrauens dienen. Für die Leipziger Montagsdemonstrationen trat dieser Effekt auch für einige Wochen wieder ein.


VI Die Bürde alten Ballastes: Sozialismus, Genosse

Die Kehrseite der Medaille ließ leider nicht lange auf sich warten. Der Vertrauensgewinn in die ostdeutschen Sozialdemokraten, die nun endlich einen gesamtdeutschen Namen trugen, schmolz doch wieder ein Stück dahin. Halbe Sachen konnte es nicht geben. Entweder SDP ohne Genosse, ohne Sozialismus und mit DDR oder SPD mit Genosse, mit Sozialismus und mit Einheit. Das war ein großes Dilemma. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte sich gerade vom ideologischen Plunder des SED-Staates befreit, wollten die jahrzehntelange Zwangsanrede ›Genosse‹ nie wieder hören. Von Sozialismus egal welcher Provenienz hatte diese Mehrheit ein und für allemal den Kanal richtig voll und jetzt kamen diese Sozialdemokraten und quäkten ausgerechnet wieder diese Litanei, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, vor sich her? Dies schien ein Stück aus dem Tollhaus und entfernte die frischgebackene Ost-SPD sehr von ihrer angestammten Wählerschaft in der Industrie. Mit dem trotzigen Beharren auf ›Genosse‹ und ›Sozialismus‹ schnitt sich die SPD in den Industriegebieten von ihrer natürlichen Wählerschaft ab. Die Ingenieure, Techniker, Facharbeiter wollten eine Sozialdemokratie, die nach Brandt und Schmidt schmeckte, und keine sozialistisch verquaste SPD, die wie Lafontaine daher kam. Das Genossen-Gesülze vom Sozialismus hatten die Leute noch von den ständigen Parolen in ihren Betrieben, PGHs und LPGs deutlich in den Ohren. Wer sollte dies und vor allem warum unterscheiden zwischen SED-Sozialismus und SPD-Sozialismus? Es war nicht die Zeit für diese Art Feingeisterei.

Interessanterweise waren es in der SDP die vormals eher staatsfern in kirchlicher Umgebung ihren Weg Absolvierenden, die mit diesen Begrifflichkeiten geringere Probleme hatten. Möglicherweise war dies dem Umstand geschuldet, dass an deren DDR-Nische das penetrante tägliche SED-Gesülze nicht stattfand und in dieser Nische der tägliche Kampf um Ersatzteile, um das tägliche ›wie weiter‹ in der (sozialistischen) Produktion in eigenen Erfahrungen relativ unbekannt geblieben war? In der DDR hatte jede Nische ihr eigenes DDR-Bild. In der Industriearbeiterschaft war die DDR richtig im Ar…, in der kirchlichen Nische war das DDR-Bild vielleicht doch mehrheitlich etwas rosaroter, zumindest in der evangelischen Kirche?

Viele Freunde in der West-SPD sahen diese Schwierigkeiten mit ›Genosse‹ und ›Sozialismus‹ und nahmen Rücksicht auf uns. Diese Rücksichtnahme ging stärker in die Bundestagsfraktion über als in die Parteigliederungen, doch gab es diese auch dort. Meist waren es Seeheim-Sozialdemokraten, die im Osten die Anrede Genosse vermieden, die nie vom Demokratischen Sozialismus sprachen und uns damit peinliche Erklärungen ersparten.

Willy Brandt, Helmut Schmidt, Annemarie Renger, Hans-Ulrich Klose, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und viele, viele andere begrüßten uns immer als ›Liebe Freunde‹ und nie als ›Genosse‹. Dies war uns sehr wichtig und wir waren jenen für diese Höflichkeit dankbar. In der Bundestagsfraktion kam die Anrede Genosse sogar für einige Jahre fast aus dem Gebrauch, damit wir Ostdeutschen uns heimischer fühlten. Es waren dann die linken Ostsozis, die diese Dämme einrissen. Ich persönlich verwende die Anrede noch immer nicht und sehe auch keine Veranlassung hierzu. Besser vermag ich noch immer nicht bereits in einem ersten Kennenlerngespräch meinen anderen Weg in die Sozialdemokratie deutlich zu machen. Sozialismus geht mit mir als Begriff sowieso nicht. Ich bin Sozialdemokrat in dem freiheitlich-demokratischem System, in dem ich mich zu Hause fühle. Ich will es nicht ändern und benötige für meine Politikbeschreibung keinen quaisreligiösen -ismus. Ich komme im Leben ohne Esoterik aus.

Die Bevölkerung nahm diesen differenzierten Umgang innerhalb der SPD wenig wahr. Für die Leute wurden wir auch in Konkurrenz zu den anderen Parteien, die sich solche Umständlichkeit nicht leisten mussten, zu einer Partei, die ihren Weg nicht klar zu wissen schien und die die Bevölkerung vielleicht doch wieder mit gesellschaftlichen Experimenten à la Sozialismus konfrontieren würde?

Perplex war ich auch an dieser Stelle über meine heißersehnte Sozialdemokratie, die doch nur über den Weg des Ablegens des Klassenparteiabziehbildes, des Marxismusablegens in den späten 50ern zur Volkspartei wurde und als Volkspartei anderthalb Jahrzehnte später für dreizehn Jahre die Kanzler der Bundesrepublik stellen konnte. Und genau diese Partei wusste das alles 1989/90 nicht mehr? Aus den ersten Büchern, die ich mir nach dem Mauerfall über Willy Brandt besorgen konnte, wusste ich von den Diskussionen im Vorfeld des Godesberger Programms. Ich verstand diese West-SPD an dem Punkt überhaupt nicht. Ihren Bundeskanzler Willy Brandt, den Friedensnobelpreisträger, den Erfurter Helden hatten sie nur über die Wandlung zur Volkspartei ›erhalten‹. Jetzt, 1989/90 stand vor der deutschen Sozialdemokratie dasselbe Problem, weil Ostdeutschland mental noch irgendwo in den 50ern hing und diese erfahrene Sozialdemokratie erkennt die auch mentalen Notwendigkeiten nicht? Die DDR-Gesellschaft war ein Konglomerat unterschiedlichster Nischen. Diese Nischen kannten keine Binnen-Kommunikation, sie kannten erst recht keine Inter-Kommunikation. Alles Problematische war konserviert. Unter dem jahrzehntelangen Dauerberieseln mit Sozialismus, mit Demokratieverachtung und der Angst vor der allgegenwärtigen politischen Polizei trafen sich 1989/90 mit der Bundesrepublik und der DDR Gesellschaft höchst unterschiedliche Entwicklungsstände. Und die höher entwickelte war nicht in der Lage, mit ihren eigenen Erfahrungen der faktisch hinterwäldlerischen Verwandtschaft mental entgegen zu kommen. 25 Jahre später haben wir es mit Pegida zu tun. Vermutlich lässt sich dies zum Teil auch als Spätfolge des damals nicht erkannten und nicht bewältigten Konfliktes diagnostizieren. Die Pegidianer wissen nämlich heute noch nicht, dass Demokratie nicht das Versprechen auf Wohlstand, sondern das friedliche Prinzip der Teilhabe an Verantwortung/Gestaltung und an den Ergebnissen ist.

Meine damalige Fassungslosigkeit war grenzenlos. Bezüglich ›Genosse‹, Sozialismus, Marxismus war Brandts Position 1955, wie hier in »Willy Brandt« von Peter Koch, Bastei Lübbe 1989 (!) auf Seite 232 unten treffend beschrieben:

Ich möchte nicht von Ballast abwerfen reden. Aber der Kapitän entledigt sich toter Ladung, wenn er dadurch lebendiges Gut erhalten kann… Die Zeit der Postkutsche ist vergangen. Das Gesicht der Partei muss vor dem Gericht der Epoche bestehen können…Die SPD müsse sich von einer Partei der Nein-Sager zu einer Partei entwickeln, die ihre Forderungen positiv vertrete.

Mit dem Willy Brandt des Godesberger Programms und dem der Jahrhundertsatz-Schöpfung »Es wächst zusammen…« als realem Anführer der West-SPD hätte die SPD-Ost ihren klaren Kurs fahren können und wäre um ein herausragendes Wahlergebnis am 18. März 1990 nicht herumgekommen. Statt des großen Politikers mussten wir aber leider mit dem Spieler aus dem Saarland klarkommen. ›Pech für die Kuh Elsa‹ würde Didi Hallervorden sagen.

Der SPD lief die Zeit davon. Der Vertrauensvorschuss wurde kleiner, die Blockflöten schüttelten mit Hilfe von Kohl, Waigel, Rühe, Genscher ihre Nationale Front ab, die SED-PDS stabilisierte sich mit ihrem Besitz und den noch immer über eine Million Mitgliedern auf einem Niveau von sicherlich 15 Prozent Wahlchancen. Dank Lafontaine wurde die SPD-Ost als Bremser wahrgenommen. ›Rote aus der Demo raus‹ schallte es mir montags in Leipzig immer öfter entgegen. Die SED waren ›Die Roten‹ und wer als Bremser wie diese wahrgenommen wurde, der wurde dann ebenfalls unter ›Die Roten‹ subsumiert. Das war schon hart. Weder war ich Rot noch wollte ich die DDR erhalten. Weinerlichkeit bürgt bekanntlich nicht für Selbstbewusstsein und deshalb blieb ich dabei, weiterhin jeden Montag zu den Demonstranten zu reden. Eine Sozialdemokratie, die sich feige von dannen macht, entsprach mein Bild der Sozialdemokratie nun gerade nicht.


VII Neuer Wahltermin 18. März 1990

Insgesamt wurde dem gesamten Gebilde DDR die Zeit knapp. Die Montagsdemonstrationen als Gradmesser der rasant kleiner werdenden Geduld mit den politischen Prozessen in Ostberlin vor dem Hintergrund der wieder anwachsenden Übersiedelungszahlen in die Bundesrepublik ließen den Wahltermin 6. Mai immer stärker als utopisch und nicht erlebbar erscheinen. Bis Mai würde das Chaos herrschen. In dieser Einschätzung beschloss der Runde Tisch am 28. Januar 1990 die Vorziehung des Wahltermins zur Volkskammer auf den 18. März 1990 und die Festlegung der Kommunalwahlen auf den 6. Mai 1990.

Aus heutiger Sicht scheint mir das Vorziehen noch immer sehr richtig gewesen zu sein. Für die Masse der Bevölkerung besaß die DDR ohnehin nur noch Statistenrolle. Niemand wusste, wie lange Gorbatschow und die Sowjetunion alles laufen lassen würden, wie viele Menschen noch Richtung Westdeutschland ziehen würden und was aus dem allein gelassenen Rest werden würde. Die angespannte Stimmung des Runden Tisches war am 28. Januar 1990 zusammengefasst etwa so: »Entweder vorgezogene Wahlen jetzt oder wir erleben überhaupt keine Neuwahlen mehr, entweder wir gehen alle in die Regierung oder wir gehen gemeinsam unter« (aus Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder wo blieb das Volk?, Westdeutscher Verlag 1990, S. 93).

Der SPD fiel die Zusage zum Wahltermin besonders leicht. Ihr wurden zu diesem Zeitpunkt 54 Prozent prognostiziert. Da gerade einmal die Hälfte der Befragten angab, welche Partei sie bevorzugen würden und die Telefonumfragen erst recht nichts wert waren – wer besaß in der DDR überhaupt privat ein Telefon – konnten die 54 Prozent bei Licht nur als trügerisches Eis betrachtet werden. So kam es dann ja auch am 18. März 1990: 22 Prozent für die SPD als die Partei, die zuerst zögerlich Ja zur Einheit und diese dann auch noch verkompliziert über die Diskussion Artikel 23 oder Artikel 146 führte. Für den DDR-Normalbewohner war dies schlicht und einfach zu umständlich. SPD, durchgefallen.


VIII Eine komplizierte Formel: GG 23 (Beitritt) oder GG 146 (Gemeinsame Verfassung)

Noch war es jedoch nicht soweit. Der Wahltag stand jetzt endgültig fest, die Parteien formierten sich für den ersten heißen Wahlkamp in der DDR. Die SPD beschloss in Markkleeberg bei Leipzig ihr Grundsatz- sowie ihr Wahlprogramm als ›Fahrplan zur Deutschen Einheit‹. Beide Papiere sind noch immer sehr lesenswert. Mit dem SPD-Fahrplan zur Deutschen Einheit wären die Ostdeutschen gut gefahren. Der vorgeschlagene ›Rat zur deutschen Einheit‹ hätte ab Mai 1990 eine gemeinsame Verfassung beider deutscher Staaten auf der Grundlage des Grundgesetzes erarbeitet und diese gemeinsame Verfassung im Sommer 1990 zum Volksentscheid vorgelegt. Im Anschluss an diesen Volksentscheid hätte es eine gesamtdeutsche Bundestagwahl gegeben. Am Tage des Zusammentritts des gesamtdeutschen Bundestages hätten sich die beiden deutschen Parlamente Bundestag und Volkskammer aufgelöst. Es wäre doch auch eine gute Lösung gewesen, oder? Eine ›Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion‹ wurde von der SPD-Ost für den 1. Juli 1990 auch vorgeschlagen.

Hier ein Auszug aus dem ›Fahrplan zur deutschen Einheit‹:

Ja zur deutschen Einheit

Die SDP-Ost war programmatisch und professionell gut aufgestellt. Dies passte weder Kohl noch Lafontaine. Kohl wollte das Ding alleine durchziehen und Lafontaine wollte diese Entwicklung verzögern. Zuerst wollte er die kommenden Bundestagswahlen gewinnen. Der gesamte innerdeutsche Prozess machte ihm diese Pläne zunichte. Seinen Ausweg sah er folglich im Anstacheln des westdeutschen Egoismus (›Kosten der Einheit‹) und im Verängstigen der Ostdeutschen. Kohl sah seine Chance in der Thematisierung des scheinbar komplizierten Einheitsverfahrens der Sozialdemokratie. Den Wunsch nach Geschwindigkeit und Unkompliziertheit der Bevölkerung gut einschätzend, versprach er die einfache Lösung, über GG 23 zur Einheit zu kommen. Einfach rein und alles wird gut. Das ging den Leuten runter wie Öl. Dass im Kohlschen Verfahren legitime Interessen der DDR-Bevölkerung per Handauflegen behandelt worden wären, konnte durch uns im Wahlkampf nicht differenziert thematisiert werden. Von Problemen wollten die Menschen nichts hören. Die Allianz für Deutschland stand im Wahlkampf für ›Alles wird schnell gut‹, die Sozis waren perfekt vorbereitet, mussten aber den Einheitsverweigerer Lafontaine und ihr zu erklärendes, faires Modell zur Einheit Huckepack tragen. Das konnte nicht gutgehen. Ging es auch nicht.

Hätte sich Hans-Ulrich Klose am 12. Februar 1990 in der SPD-West-Präsidiumssitzung durchgesetzt, die SPD-Ost wäre am 18. März 1990 erfolgreicher gewesen und hätte infolge dessen den Weg in die Einheit (Eigentumsregelungen, Treuhand u.v.m..) stärker mitbestimmen können. Klose schlug in besagter Sitzung vor, auf die Konföderationsüberlegungen komplett zu verzichten und stattdessen sofort nach GG 23 den DDR-Beitritt zu favorisieren. Es würde ohnehin so oder ähnlich kommen.

Am 18. März 1990 erteilten die Ostdeutschen ihrem ersten freigewähltem Parlament den eindeutigen ›Auftrag zur Deutschen Einheit‹. Die Parteien, die für die Einheit in der Wahl angetreten waren, wurden mit rund 85 Prozent gewählt, die SED-PDS als erklärte Einheitsgegnerin erhielt 16,4 Prozent. Unterschiede bei den strikten Einheitsbefürwortern der späteren großen DDR-Koalition gab es lediglich in den Einzelprozenten für die unterschiedlichen Parteien und deren scheinbar unterschiedlich angesetzte Einigungsgeschwindigkeit. Die Allianz für Deutschland (CDU-Ost, DA, DSU) erhielt 48 Prozent, die SPD 21,9 Prozent, der Bund Freier Demokraten BFD 5,3 Prozent. Damit hatten die Einheitsbefürworter 75,2 Prozent und verfügten über die verfassungsgebende Mehrheit in der Volkskammer. Ohne die SPD hätten die anderen Wahlgewinner Allianz und BFD die Verfassung der DDR nicht für den Einigungsprozess ändern können. Der SPD war ihr Wert bewusst und eine ihrer Bedingungen für den anstehenden Prozess waren die Zusagen zu einem Vertrag zur Wirtschafts-, Währung-, und Sozialunion und zu einem Einigungsvertrag. Mit der Zusage von de Maizière war für die SPD-Ost der Weg in die große Koalition in der DDR frei und folgerichtig.

Die SPD-Ost war sich ihrer großen Verantwortung vor den realen Notwendigkeiten bewusst. Sie machte den parlamentarischen und damit staatsrechtlichen Weg für die gesicherte Freiheit in der deutschen und europäischen Einheit nicht nur frei. Sie machte ihn möglich, auch weil sie bereits mit ihrer Gründung die Deutsche Frage auf den europäischen Tisch legte.

Die Allianz für Deutschland und die Freien Demokraten hatten die notwendigen Zweidrittelmehrheiten in der Volkskammer nicht beisammen. Ohne die SPD-Ost wäre es am 3. Oktober 1990 nicht zum Beitritt nach Grundgesetzartikel 23 gekommen.

Bei allem Ärger, ich bin stolz, als Sozialdemokrat dabei gewesen zu sein!


IX Es reicht! Helmut Schmidt muss ran!

Pleiten, Pech und Pannen bedeutet beileibe nicht das Fehlen von Glücksmomenten. Richard Schröder war so eine glückliche Personalie. Rationales Denken, klassische Bildung, weiter Wissenshorizont und ein gesunder, trockener Humor – mein erster Fraktionsvorsitzender zählt zu meinen besten politischen Erfahrungen. Noch heute bin ich bekennender (R.) Schröder-Fan, obgleich ich mit ihm an Punkten wie Stolpe und MfS-Personal in der jetzigen Jahn-Behörde etwas über Kreuz liege.

Die SPD-Volkskammerfraktion nahm unter Führung Schröders ihre neue und ungewohnte parlamentarische Arbeit zügig auf und wurde sehr schnell zu einer tragenden Säule innerhalb der großen Koalition auf dem Weg in die Deutsche Einheit. Für uns alle ging es um sehr viel, wir spürten große Verantwortung. Die DDR-Verfassung und viele Gesetze für den Weg in die Einheit reformieren, die Staatsverträge I (Wirtschafts-, Währungs-, und Sozialunion), II (Einigungsvertrag) und den Zwei-plus-Vier-Vertrag als abschließenden Friedensvertrag aushandeln und die Interessen des völkerrechtlichen Subjekts DDR weltweit wahren. Auch die Bevölkerung wollte eine ordentlich arbeitende Regierung erleben.

An drängenden Aufgaben mangelte es nicht. Die freie Volkskammer war ein Arbeitsparlament, wie es nur wenige in der Geschichte gab. Eigentlich ging es ein halbes Jahr lang rund um die Uhr im Plenarsaal um Reformen, Anpassungen, Erhaltenswertes, die Hinterlassenschaften der SED und ihrer Diktatur u.v.m. Wie umgehen mit der DDR-Wirtschaft, wie umgehen mit den in der Diktatur gewachsenen und gelebten (Nicht-)Eigentumsregelungen, wie den DM-Umtauschkurs festlegen? Es war klar, die Zeit würde knapp werden und vieles würde in gutem Vertrauen auf die Einhaltung der Staatsverträge auch nach dem Wegfall eines der beiden Vertragspartner vom kommenden gemeinsamen Deutschen Bundestag geklärt und begleitet werden müssen.

All diese Aufgaben mussten mit den Vertretern des Bundestages, der Bundesregierung und des Bundesrates koordiniert werden. Die gesetzgebenden Institutionen beider deutschen Staaten mussten zustimmen. Genau an diesem Punkt schlug Lafontaine wieder zu. Sand im Getriebe sollte den Einigungsprozess behindern, wenn schon unmöglich machen nicht mehr möglich war. Er suchte über den Egoismus der westdeutschen Bevölkerung seine Wahlchancen für den 2. 12. 1990 zu verbessern. Die Kosten der Einheit bestimmten sein tägliches Lamento. Der SPD-Bundestagsfraktion empfahl er, als Oppositionspartei gegen die Staatsverträge zu stimmen und im Bundesrat als SPD scheinbar staatstragend zuzustimmen. Was mit der SPD-Bundestagsfraktion in Verantwortung vor dem deutschen Volk nicht zu machen war.

Verquerer denken und handeln war nicht möglich! Lafontaine disqualifizierte sich für höchste Staatsaufgaben in historischer Zeit deutlich und nachhaltig. Zum Glück für Deutschland hatten 1990 auf SPD-Seite noch Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau die maßgeblichen Fäden in der Hand. Doch was würde mit der SPD in der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl geschehen? Würde sie großen oder kleinen Einfluss auf die Politik des innerdeutschen Zusammenwachsens haben? Wie weiter mit der Treuhand, die von der Modrow-Regierung gegründet wurde? Erst Sanieren und dann Privatisieren? Oder sofort Privatisieren/Verramschen? Wie mit den verqueren Eigentumsverhältnissen in der Ex-DDR umgehen? Altes Unrecht bereinigen und neuen Unfrieden damit schaffen? Die Rechte der Alteigentümer waren zu SBZ/DDR-Zeiten auch aus Sicht der SPD unbestritten missachtet worden. Doch nutzten die meisten DDR-Bürger die Häuser/Wohnungen/Grundstücke vormaliger Besitzer, deren Schicksal sie nicht kannten, in Treu und Glauben, dass sie sich nichts zu Schulden hätten kommen lassen. Viele hatten über Jahrzehnte auch zum Werterhalt dieser Häuser und Wohnungen beigetragen. Es gab viele solcher und ähnlicher Fragen und die Antworten von Union, FDP und SPD unterschieden sich hier sehr. Die SPD wollte erhaltenswerte Betriebe erst sanieren und dann privatisieren bzw. den neuen Eigentümern die Mittel zur Sanierung mit an die Hand geben. Union und FDP wollten alles so schnell wie möglich loswerden. In der Eigentumsfrage strebte die SPD den Grundsatz Entschädigung vor Rückübertragung an. Union und FDP wollten Rückübertragung vor Entschädigung.

Vor diesen Hintergründen war es aus SPD-Sicht ungemein wichtig, mitzugestalten und nicht nur als Opposition das Schlimmste abzuwenden. Deshalb musste es ein Hauptziel sein, nach den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen die SPD mit in einer neuen Bundesregierung zu wissen.

Die Wahl selbst war nicht gewinnbar. Das war klar. Der 18. März 1990 würde Ende des Jahres für Kohl eine Fortsetzung finden. Doch wie stark die Unionsparteien abschneiden würden und wer als Koalitionspartner dann infrage käme, dies war im Frühjahr 1990 noch nicht ausgemacht. Die SPD-Volkskammerfraktion bewies seriöses, verantwortliches Handeln, die SPD-Bundestagsfraktion wies dies ebenso täglich nach. Aus meiner Sicht musste eine personell und fachlich klar aufgestellte SPD in der Bundestagswahl so stark rauskommen, dass sie zwar wahrscheinlich nicht den Kanzler, wohl aber in einer großen Koalition den Vizekanzler hätte stellen können und zwar für Deutschland in Europa, für bessere Regelungen im Bereich der ostdeutschen Wirtschaft und im Bereich der Eigentumsregelungen.

Ich gehe heute so weit zu sagen, die Gysis wären schon längst kein Thema mehr, wäre es nicht zu den Verwerfungen im Eigentumsrecht und zur gnadenlosen Verramschung der Ostwirtschaft gekommen. Selbst Bischofferode wäre vielleicht kein PDS-Beatmungsprogramm geworden.

Doch wie die kommende gesamtdeutsche SPD für große Mehrheiten wählbar machen? Mit Lafontaine? Nie und nimmer! Mit ihm würden wir näher bei 30 als bei 40 Prozent rauskommen. Soviel war für mich klar. Für viele andere in der SPD-Ost ebenso. Ich war mit diesem Gefühl nicht allein. Wer könnte aber die SPD im Wahlkampf führen? Willy Brandt? Willy war fünf Jahre älter als Helmut Schmidt und gesundheitlich dem Vernehmen nach viel angeschlagener. Schmidts Regierungszeit lag erst knapp acht Jahre zurück. Hoch angesehen war er ohnehin, besonders auch in Ostdeutschland. Die meisten Ostsozis sind damals wegen Brandt und Schmidt Sozialdemokraten geworden, Lafontaine trug an deren Mitgliedschaft keinerlei Schuld. Schmidt musste ran! Das war mein Fazit. Doch wie? Ich setzte mich hin und schrieb diesen Brief:

Gunter Weißgerber an Helmut Schmidt /1

 

Gunter Weißgerber an Helmut Schmidt /2

 

Gunter Weißgerber an Helmut Schmidt /1

Schmidts Reaktion:

Helmut Schmidt an Gunter Weißgerber /1

 

Helmut Schmidt an Gunter Weißgerber /2

Allein wollte ich nicht zu Schmidt fahren. Er sollte schon sehen, dass mehr Leute hinter dieser Idee standen. Ich sprach mit Rüdiger Fikentscher MdV und Harald Ringstorff darüber. Beide hatten Interesse, doch sagte mir Ringstorff kurz vorher ab. Fikentscher riet mir zu Rolf Schwanitz, der sofort zusagte. Zu dritt fuhren wir dann zu Helmut Schmidt in sein Zeit-Büro in Hamburg.

Es wurde ein schönes, uns immer in Erinnerung bleibendes Treffen. Schmidt nahm sich für uns ausführlich Zeit. Er wollte unsere Einschätzungen erfahren. Wir wollten den Mann kennenlernen. Wer hat schon die Chance im Leben, bedeutenden Menschen persönlich und beinahe privat zu begegnen? Wir waren uns dessen bewusst. Was uns jedoch für unser Anliegen nichts nützte.

Helmut Schmidt bedankte sich bei uns für die Achtung seiner politischen Lebensleistung. Hoffnungen könne er uns aber nicht machen. In Vorbereitung dieses Gesprächs sprach er schon mal mit Willy (Brandt) darüber. Willy erwiderte sinngemäß ›Helmut, ich beschäftige fünf Ärzte, Du drei. Es geht nicht.‹ Für seine Position fügte Schmidt noch an, dass er ohnehin weniger als Brandt für so eine Aufgabe geeignet sei. Brandt werde auch von denen getragen, ›die sich irgendwie Links dünken‹. Er, Schmidt, würde die Partei, der er seit 46 Jahren Beiträge zahle, spalten. Dies wolle er nicht verantworten. Auch schätze er die SPD-Chancen mit ihm ebenfalls nicht so überaus positiv ein. Nun blieb nur noch der Versuch, Lafontaine in die ostdeutsche Lebenswirklichkeit zu holen…


X Es reicht! Ein Brief an den künftigen Kanzlerkandidaten der SPD

Dieser gesamte Prozess war spannend, höchst arbeitsreich und nie frei von Querschüssen. Hierzu gibt es viel Literatur. Mir geht es in diesen Beiträgen um die SPD-hausgemachten Probleme 1989/90. Weil diese zu den Hauptursachen des schlechten ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlergebnisses für die SPD zählten. Die politische Konkurrenz will einer anderen Partei nie was Gutes. Darüber lohnt das Schreiben weniger. Die eigenen Fehler sind es, die der tiefgründigen Betrachtung wert sein müssen.

Also, Lafontaines Kurs hatte der SPD-Ost die Volkskammerwahl verhagelt. Mit Ach und Krach langte es über die Notwendigkeit der verfassungsgebenden Mehrheit, den kommenden Weg mitzubestimmen. Ohne die SPD-Ost ging es nicht in der Volkskammer, ohne die SPD-West ging es ohnehin nicht in Bundestag und Bundesrat. Eigentlich eine gute Chance, die Ausgangssituation für die kommenden Bundestagwahlen erheblich zu verbessern. Nicht jedoch mit dem kommenden Kanzlerkandidaten der SPD! Mit dem ›besoffenen Einheits- und Nationalstaatsgesäusel‹ konnte Lafontaine nichts anfangen. Das war ihm spürbar zuwider. Auf die Ostdeutschen zugehen? Nicht mit ihm! Er wusste, dass die Menschen zwischen Fichtelberg und Kap Arkona dies spürten und er bei ihnen keinen Blumentopf holen würde. Er baute seine Strategie auf dem Egoismus der Westdeutschen auf. Den Leuten nur täglich die Kosten der Einheit aufs Butterbrot schmieren und sie würden in einer Wahl Kohl die Stimme verweigern. Lafontaine verrechnete sich auch hier. Die Mehrheit der Westdeutschen gab ihm am 2.12. 1990 eine Abfuhr und Kohl ein glänzendes Ergebnis. Dazu später.

Auf dem Höhepunkt von Lafontaines Querschüssen während des komplizierten Verhandlungsmarathons um die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schrieb ich mit Genehmigung der gesamten Volkskammerfraktion diesen Brief:

Fraktion der SPD in der Volkskammer - Brief an O. Lafontaine

 


Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990 – meine Auswertung vom 2.12.1990

Der Sommer 1990 gehört zu den überaus glücklichen Momenten deutscher Geschichte, die erstmals im Einklang mit den Interessen und der Zustimmung ihrer Nachbarn ablief. Beide deutsche Regierungen ließen keinen Zweifel an ihrem Willen aufkommen, ihre Nachbarn und die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges intensiv mit einzubeziehen. Helmut Kohl erreichte im Kaukasus Gorbatschows Einverständnis zur Deutschen Einheit im Rahmen von EU und NATO.

Die Verträge zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, zur Einheit (Einigungsvertrag), zur kommenden Bundestagswahl (Wahlvertrag) sowie zur abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) wurden in einem unerhörtem Pensum ins Werk gesetzt und die Parteien konnten sich im Herbst 1990 auf die erste gemeinsame Bundestagswahl konzentrieren, die auf der Grundlage des Wahlvertrages vom August 1990 auf den 2. Dezember 1990 festgelegt wurde.

Da die Grünen und die PDS mit ihren Klagen gegen die für Deutschland in Gänze festgelegte 5-Prozent-Klausel vom Bundesverfassungsgericht Recht bekamen, wurde in den zwei Wahlgebieten Bundesrepublik-alt und Bundesrepublik-neu mit eigenen 5-Prozent-Klauseln getrennt gewählt. Infolgedessen erreichte die PDS am 2.12. 1990 den Bundestag und Die Grünen/West schauten bis 1994 von außen zu und wurden allein vom Bündnis’90/Ost im Parlament vertreten.

Am 2. Dezember 1990 bekam die SPD mit 33,5 Prozent ihr seit 1957 schlechtestes Ergebnis überhaupt. Das Wahlvolk erteilte die Quittung für historisches Versagen und erteilte ihr den Auftrag der Opposition in der kommenden sehr wichtigen Phase des Zusammenwachsens in emotionaler und staatlicher Sicht. Regieren oder wenigstens Mitregieren der SPD wäre für Deutschland in den kommenden Jahren besser gewesen. Eigentumsfragen, Treuhand, SED-Unrechtsbereinigung, Stasiunterlagen u.v.m. standen auf der Tagesordnung und die SPD befand sich leider in der Oppositionsrolle. Suboptimal scheint hierfür ein passender Begriff zu sein.

Schade. Es wäre mehr möglich gewesen. Die Fehler der CDU/CSU/FDP-Regierung gerade im Bereich von Treuhand und Eigentum düngten den Boden, auf dem sich die SED in den 90er des letzten Jahrhunderts revitalisieren konnte: Rückübertragung statt Entschädigung schuf vielfach neues Unrecht und blockierte die wirtschaftliche Entwicklung enorm. Der Kali-Deal zwischen Treuhand, westdeutsch dominierten Gewerkschaften unter dem Gönnertum der Bundesregierung schuf den Mythos Bischofferode und war gleichzeitig die Frischzellenkur für die SED-Nachfolger.

Zusammen mit der ständigen Medienpräsenz dieser Truppe, der wenig späteren Zusammenarbeit von SPD mit PDS kam es wie es kommen musste. In Thüringen fungierte die SPD 2014 sogar als Steigbügelhalter für einen Ministerpräsidenten der inzwischen als Linksaußen firmierenden SED.

Gemach! Hier kommt erstmal meine Wahlauswertung vom Wahlabend des 2. Dezembers 1990:

 

Die SPD und die Zwangsläufigkeit ihrer Wahlniederlage
oder
Die Blauäugigkeit der SPD


Für mich als jenseits des ›Eisernen Vorhanges‹ aufgewachsenen Deutschen ›offenbarte‹ sich der Kurs der SPD nach 1982 als ein Kurs in die politische Minderheit. Ursache hierfür war m.E. eine schwerwiegende Verkennung der Realitäten in Europa bzw. in der Welt!
Der 2. Dezember 1990 sollte Anlass genug sein für ein selbstkritisches Umgehen mit dem politischen Lebenslauf unserer Partei!

Auf der ›Habenseite‹ sollte u.a. stehen:
– allgemein zugesprochene Kompetenz in sozialen Fragen
– ökologische Kompetenz wurde den GRÜNEN ›abgenommen‹
– eine Million Sozialdemokraten

Negativbilanz:
– Verlust der wirtschaftlichen Kompetenz im Bewusstsein des Wahlvolkes
– teilweise ›Übernahme‹ des Klischees der ›Politikunfähigkeit der GRÜNEN/Alternativen‹
– Einheit der Partei nach außen bleibt Wunsch, solange statt Integratoren Polarisierer (gemeint war der Kandidat 1990: Lafontaine – beispielsweise) Kanzlerkandidaten sind.

Die Kommunisten scheiterten u. a. an der Tatsache, daß es den ›Menschen an sich‹ für ihr System nicht gab bzw. geben wird. D. h. sie wollten diese Tatsache nicht wahrhaben! Nun zu den Sozialdemokraten. Diese wollten (oder wollen) nicht wahrhaben, daß die Realitäten sich vielfach von ihren Vorstellungen unterscheiden. Ich sage hierzu Blauäugigkeit oder auch standhafte Negation der Realitäten. Nachfolgend einige Beispiele zur Untermauerung meiner Behauptungen:

Illusion 1: Der Begriff der Nation gehört ins 19. Jahrhundert!
Realität 1: Die angeblich nicht mehr existente Nation erzwang die Einigung Deutschlands und bestimmte vorrangig die Politik! Weder wollten die DDR-Deutschen mit Österreich noch mit Frankreich die staatliche Einheit. Auch wollten die Tschechoslowaken (ebenfalls befreit) sich trotz des Wohlstandsgefälles nicht mit einem ihrer Nachbarstaaten vereinen. Gerade die sträfliche Blindheit in tatsächlich vorhandenen nationalen Belangen zog eine herbe Wahlniederlage nach sich. Diese Überheblichkeit divergiert erheblich mit unserem Anspruch, Volkspartei zu sein. Außerdem steht die Einbettung in nationale Identitäten keineswegs in Widerspruch zum europäischen Gedanken. Im Gegenteil! Dies meinte übrigens auch der leider bereits scheinbar von Vielen vergessene Kurt Schumacher.

Illusion 2: ›Der Arbeiter existiert nicht mehr!‹
Realität 2: Selbstverständlich entspricht das Bild des Arbeitnehmers nicht mehr dem Stand des 19. Jahrhunderts. Aber deshalb hat er doch nicht aufgehört zu existieren. Und er ist imstande, seiner SPD derbe und heftige Ohrfeigen zu versetzen. So ist es nicht nur in Sachsen, nein, so ist es auch in Westdeutschland geschehen! Die SPD verliert momentan enorm innerhalb ihrer Stammklientel. Nicht zuletzt ihr hoher pseudointellektueller Personenanteil, der u.a. an der Sprache (Dialogunfähigkeit) erkennbar ist, bereitet dem Arbeiter Schwierigkeiten bei der Identifikation mit sozialdemokratischer Politik. Von der guten alten Politikertugend, dem Volke aufs Maul zu schauen, ist keine Spur geblieben.

Illusion 3: ›Der neue Weg – ökologisch, sozial, wirtschaftlich stark‹ (Slogan des SPD-Wahlkampfes 1990)
Realität 3: Wirtschaftlich stark und sozial/ökologisch! Wirtschaftliche Fragen stehen immer, aber vor allem in Umbruchzeiten als Hauptfragen in der politischen Landschaft. So gesehen ist unsere Reihenfolge zwar emotionell verständlich, sie ist aber gegen den Realismus des »Mannes auf der Straße« gerichtet. (Anders als Kohls CDU gelang es der SPD nicht, sich auf die veränderten Verhältnisse einzustellen.) Eine weitere Anmerkung: ›Der neue Weg‹ benötigte vierzig Jahre zu seiner Entstehung. Und trotzdem ist er in Westdeutschland noch schwer vermittelbar. Logischerweise ist er in dem irgendwo in den fünfziger Jahren steckengebliebenen Ostdeutschland (fast) überhaupt nicht vermittelbar. Wie alle Menschen benötigen auch die Ostdeutschen Karenzzeit. Die Negierung der angestauten Bedürfnisse der Ostdeutschen seitens der Sozialdemokratie, beispielsweise hinsichtlich deren Wunsch nach Mobilität, war närrisch! Vierzig Jahre bezahlten sie bereits M 1,50 (wenn auch Ostmark) je Liter Kraftstoff. Fünfzehn (15) Jahre warteten sie durchschnittlich auf ihren Plastikbomber (gemeint ist der Kleinwagen Trabant) erwarten im Fall unserer Wahl deren Bereitschaft, freiwillig noch mehr Geld für ihren Wunsch nach freier Fahrt für freie Bürger zu bezahlen. Die Menschen brauchen Zeit. Und wir wollen die Augen davor verschließen, oder?

Illusion 4:Verlangen nach Vorrechnung der Kosten der Einheit wirkt seriös.
Realität 4: Die Forderung wurde als kleinlich abgetan, ihre ständige Wiederholung wirkte penetrant. In Anbetracht der Freude der weitaus meisten Deutschen über die Einheit zog diese Forderung gar ablehnende Reaktionen nach sich. Mehr noch, es war das Gefühl bemerkbar, daß sich viele der neuen Bundesbürger trotz vollzogener Vereinigung wieder ausgeladen vorkamen! Die Aufforderung, bereitwillig Opfer zu bringen, hätte der Wirklichkeit entsprochen und wäre somit klüger gewesen.

Illusion 5: Die SPD braucht das Ideal des »Demokratischen Sozialismus«, (als ob der Begriff »Sozialdemokratie« nicht ausreichend Name und Programm wäre...)
Realität 5: Die Menschen litten bzw. hatten von Ferne teil an einem System, welches zwar dem sozialdemokratischen Ideal entgegengesetzt war, das den Begriff des ›Sozialismus‹ aber für sich beanspruchte. Daß der Begriff des ›Sozialismus‹ derart auf Jahrzehnte, wahrscheinlich sogar für immer, diskreditiert worden ist, bleibt die Folge der verlogenen Besetzung dieses Begriffes durch die Bolschewisten. Auch in diesem Punkt nehmen Sozialdemokraten wiederum keine Rücksicht auf die ernstzunehmenden Gefühle des ›gemeinen Mannes/der gemeinen Frau‹. Als ob nichts geschehen sei, als ob die Emotionen der Menschen keine Rolle für die SPD spielten, beharrt sie zänkisch auf ihrer heiligen Kuh, dem ›Demokratischen Sozialismus‹. Und dies, obwohl sie bereits schon einmal (50er Jahre bis Anfang der 70er Jahre) bei Besinnung auf den eigenen, inhaltlich bedeutsamen und aussagekräftigen im Parteinamen geführten Begriff ›Sozialdemokratie‹ ausgekommen war und damit breiten Anklang im Volk hatte!

Illusion 6: Linksaußen ist weniger gefährlich als Rechtsaußen.
Realität 6: Otto Wels sagte bereits auf dem Leipziger Parteitag im Jahre 1931: »Bolschewismus und Faschismus sind Brüder!«. Den Nachweis dieser These hat für alle verständlich die Geschichte geführt! Während man (berechtigterweise) für Sühneleistungen an den NS-Opfern eintrat, ließ man die SED-Kommunisten halbwegs ungeschoren. Während man die Existenz des »Berlin Document Center« (NSDAP-Mitgliederkartei) akzeptierte, wollte man die »Erfassungsstelle Salzgitter« (In Salzgitter wurden die bekanntgewordenen Grenzverbrechen der DDR archiviert.)liquidieren. Als ob die Verbrechen der Kommunisten, gerade auch gegenüber Sozialdemokraten, harmloser waren!? Nichts gegen den Denkansatz des ›Gemeinsamen Papiers‹ (von SED und SPD aus dem Jahre 1987). Warum aber wurden die Verpflichtungen aus diesem Dokument bei den Kommunisten nicht konsequent unter Androhung der Annullierung dieses Papiers eingeklagt? Unter Verleugnung unsere Erfahrungen mit den Kommunisten, nämlich daß diese niemals ihre Identität wirklich ändern werden, glaubte man ungeschoren aus diesen Kontakten hervorzukommen. Wer seine Identität änderte, das war nicht die SED, es war in Teilen die SPD. Allein die Tatsache der Existenz ›anständiger Kommunisten‹ berechtigt nicht zu einer Verharmlosung des Kommunismus. Schließlich war auch nicht jedes NSDAP-Mitglied ein KZ-Aufseher. Trotzdem war und bleibt für uns das System der kleinen Nazis ein zutiefst unmenschliches. Und genau dies gilt ebenso für das System der kleinen Kommunisten. In dem hier beschriebenen Zusammenhang müsste die Forderung nach einem zweiten Nürnberg (gemeint sind die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von 1946) – dieses Mal für die kommunistischen Diktatoren – Allgemeingut sein.

Genug der weiteren Aufzählung von Illusionen und den dagegen stehenden Realitäten. Aber die folgenden Details möchte ich dennoch ansprechen: – Die Unklarheiten auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bereits der weltfremde Diskurs, ob die Vereinigung über Art. 23 GG oder Art. 146 GG erfolgen sollte, trieb uns die Wähler in Scharen davon. Da Art. 146 GG kein Rezept zur Erreichung der Einheit bietet, lediglich dem dann bereits (!) geeinten Volk die (berechtigte) Chance einer Volksabstimmung über eine Verfassung gibt, war unsere ›Schlauheit‹ (Art. 146) eigentlich eine Torheit. Sie führte nicht zu mehr Hoffnung, dafür aber zu erhöhter Verunsicherung des in der Mehrzahl jedenfalls einheitswilligen Bürgers. Und so wählte er dann auch im März 1990! Nämlich den ›sicheren Kandidaten‹ – die Allianz. (Artikel 23 GG sah die Möglichkeit des sofortigen Beitritts früherer ostdeutscher Länder zur Bundesrepublik vor. Artikel 146 GG wies den Weg zur Einheit über eine verfassungsgebende Versammlung für alle Deutschen.) Warum wurde eigentlich diese Diskussion, noch dazu in der Partei Kurt Schumachers, geführt? Besteht Opposition tatsächlich nur in der konsequenten Äußerung der Regierung entgegenstehender Meinungen? Muß dies in einer Art geschehen, die weder Sinn noch Form erkennen lässt? In diesem Zusammenhang hoffe ich, daß die SPD nun nicht grundsätzlich gegen Steuererhöhungen ist, nur weil die Regierung diese plötzlich doch als richtig erkennen würde. Hier sollte uns der Triumph, recht behalten zu haben, ausreichen! (Im Bundestagswahlkampf 1990 thematisierte die SPD (Lafontaine) die Kosten der Einheit. Steuererhöhungen waren hierfür absehbar. Die Bundesregierung stritt diese Notwendigkeit immer strikt ab (Kohl: Es wird keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit geben...). Tatsächlich musste die Regierung bereits wenige Wochen später massive Steuererhöhungen vornehmen (u. a. Solidaritätszuschlag).

Generationenwahl – die Jugend wählt wieder sozialdemokratisch? Hier beginnt die standhafte Realitätsverleugnung bereits wieder! Erstens ist keineswegs sicher, daß die heute Zwanzigjährigen in vier Jahren immer noch SPD wählen. Zweitens sind die heute Zwanzigjährigen auch in vier Jahren noch in der Minderheit. Drittens ist der Tausch von zehn Jugendlichen gegen 50 ›Normalbürger‹ jedenfalls aus Sicht der Bildung regierungsfähiger Mehrheiten ein miserabler Handel. Will man sich aber in Richtung 20 Prozent entwickeln – dann sollte man allerdings so weitermachen...

Das Berliner Wahlergebnis ist als klare Absage an das Tändeln der SPD mit dem linken Rand der Gesellschaft zu verstehen. (Am 2. Dezember 1990 wurde das Rot/Grüne-Bündnis – Momper – klar abgewählt.)

Die von mir erhobene Klage hinsichtlich der Realitätsferne bezieht sich selbstverständlich auch auf ostdeutsche Sozialdemokraten. Die Aussagen unseres Außenministers in der letzten DDR-Regierung bezüglich eines Beitritts 1991 oder 1992, die er noch im Juni/Juli des Jahres machte, trieften von politischer Instinktlosigkeit. Zum damaligen Zeitpunkt war für jeden, außer unserem Außenminister und seinen Beratern, der Beitritt 1990 klar ersichtlich. Des weiteren besaß Freund Meckel seit Dezember 1989/Januar 1990 detaillierte Ausarbeitungen zu kommenden 2+4-Gesprächen bzw. zu friedensvertraglichen Regelungen für Deutschland. Wäre er mit diesem Material an die Öffentlichkeit gegangen, statt es in der Schublade zu lassen – die SPD hätte den Zug zur Einheit nicht als Schlafwagenschaffner begleitet. Hier muß natürlich die Frage nach den Beratern unseres Ministers gestellt werden. Ebenso war ihm bestens das Schnüfflernetz seines Ministeriums bekannt. Die Reaktionen waren gleich Null!

Das diffuse Bild der Ost-SPD bis Juni 1990 passte ebenfalls ›wunderbar‹ in das ›Nicht Fisch noch Fleisch‹-Bild der gesamten SPD. Die Hauptursachen hierfür lagen vor allem in der offenbaren Unfähigkeit des Ost-Vorstandes, mit der Koalitionsentscheidung der Volkskammerfraktion klarzukommen. Montag für Montag wurde durch Vorstandsbeschlüsse über die Medien Druck auf die jeweils am Dienstag tagende Volkskammerfraktion ausgeübt. Dem Zuschauer am Bildschirm wurde dadurch ein völlig desolates Bild der Ost-SPD geboten.(Während die Volkskammerfraktion, zusammengesetzt aus bereits gestandeneren Basisvertretern, sich zur großen Koalition durchrang, stand der eher mit diffusen Senkrechtstartern besetzte Vorstand ständig gegen die Zusammenarbeit mit den Allianzparteien.)

Jüngstes Beispiel dafür, wo Teile der SPD den Verlockungen pseudo-links-intellektueller Scharlatane verträumt auf den Leim gehen, ist der Fall Böhme. (Nach der Volkskammerwahl (März) veröffentlichte der Spiegel Details zu Böhmes IM-Tätigkeit. Realistischen Gemütern in Volkskammerfraktion und Ost-SPD war Böhmes Verstrickung deutlich. Dessen ungeachtet wurde er auf dem Vereinigungsparteitag in den Bundesvorstand der SPD gewählt (Richard Schröder fiel dagegen durch). Selbst seine Unterstützung des PDS-Anachronistischen Zuges, einer Propagandaaktion in altbekannt unangenehmen Stil, nahm ihm die SPD nicht übel.) Die Warnungen ernstzunehmender Sozialdemokraten (M. Gutzeit, R. Schröder) als von rechts kommend aus dem Wind schlagend, sitzt man nun wieder einer selbstgeschneiderten Täuschung auf. Hierzu ist anzumerken, dass ich bereits anläßlich Böhmes Unterstützung – gemeinsam mit Modrow, Gysi, Wolf u.a. – des ›Anachronistischen Zuges‹ seinen Parteiausschluss nach § 35 (1) des Organisationstatutes der SPD forderte.

Allgemein konstatiere ich: Mit dem Fiasko des Ostblocks steht die SPD ebenfalls vor dem Scherbenhaufen der Politik, die seit dem Abgang von Helmut Schmidt betrieben hat. Die Raketen sind fort – aber doch nicht zuletzt wegen Schmidts Festhalten am Doppelbeschluss. Diesen im Doppelbeschluss formulierten Druck ›brauchte‹ der Ostblock doch wirklich. Dies haben die Ereignisse m. E. doch deutlich unter Beweis gestellt. Statt zu glauben, russische Raketen schmerzten weniger, statt dadurch der Propaganda des erwiesenermaßen äußerst aggressiven Ostblocks nachzulaufen – stattdessen hätte man doch besser den Rücken des eigenen Kanzlers stärken sollen. Mit dem schon von Schmidt (für die 80er Jahre) prognostizierten Wirtschaftswachstum im Rücken hätte man sich bei Stützung des eigenen Mannes um die Regierungsverantwortung bis heute keine Sorgen machen müssen. Die SPD hat sich nicht zuletzt durch ihr eigenes Handeln um die Früchte ihrer Ost- und KSZE-Politik gebracht. Nicht nur Brandt – auch Schmidt hat eindeutig zu einer Situation in der Sowjetunion beigetragen, welche einem Mann wie Gorbatschow den Weg öffnete. Der Nomenklatura blieb nichts anderes übrig...

Die SPD ist sehr gut beraten, wenn sie aus der derzeitigen Unperson Helmut Schmidt wieder den Mann ›macht‹, welcher zu den bedeutendsten Sozialdemokraten überhaupt gehört. Bisher kannte man nur im Osten, in den kommunistischen Parteien, Unpersonen. Die 127jährige SPD sollte als demokratische Partei mit langer Tradition doch wohl zu klügeren Dingen fähig sein.

Zu denken sollte weiterhin der Umstand geben, daß der CDU zwar Wähler verlorengegangen sind, diese aber zur FDP und nicht zur SPD gingen. Hier liegt unser derzeitiges Hauptarbeitsfeld. Um die PDSED brauchen wir uns keine Sorge zu machen. Als politische Splittergruppe (2,4 Prozent – Gerechnet auf das gesamte Bundesgebiet.) wird die zwölfte ihre erste und letzte Legislaturperiode im Bundestag gewesen sein. Dies gilt allerdings unter der Voraussetzung, daß wir tatsächlich das soziale Spektrum abdecken. So wie das Aufnehmen der grünen Themen für die praktische Austrocknung der Grünen bundesweit sorgte, so werden auch die Restposten an demokratisch gesinnten PDS-Wählern zur SPD fließen. Hier kann nur nach dem Prinzip des Schwammes vorgegangen werden: die unbelasteten und demokratisch gesinnten Nichtfunktionsträger unter den Anhängern der PDS werden von der Sozialdemokratie aufgesaugt. Der Gedanke, daß sich eine 35Prozent-Partei mit einer 2,4Prozent-Partei verbindet, ist lächerlich. Dies wäre außerdem genauso unmoralisch wie der Zusammenschluß von West-CDU mit der belasteten Ost-CDU. In diesem Punkt sind wir besser!

Wen brauchen wir in erster Linie? Der neue Parteivorsitzende sollte im Gegensatz zum Kanzlerkandidaten ein Integrator sein. (Hans-Jochen Vogel hatte vor der Wahl klargemacht, dass er nicht länger Parteivorsitzender sein will. Ursprünglich wäre sein natürlicher Nachfolger der 90er Kanzlerkandidat Lafontaine gewesen. Dies war am Abend des 2.12.90 nicht mehr so klar.) Was die SPD mehr als alles andere braucht, ist eine Persönlichkeit, die von der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder getragen wird. Die SPD braucht eine Persönlichkeit, die für Kontinuität und Erneuerung steht!

So gesehen ist ein Mann wie Björn Engholm scheinbar eine gute Wahl. Engholm war Minister im Kabinett Schmidt und gehört zur Enkelgeneration. Mit seiner Ausgeglichenheit und seinem gesunden Verhältnis zur Macht könnte er die Übergangsphase, in der die SPD sich seit 1982 steckt, beenden. Als ehemaliger Schmidtscher Minister steht er für ein gewaltiges und erfolgreiches Stück sozialdemokratischer Politik. Mit seiner ›Jugend‹ verkörpert er viel Hoffnung.

Die im Programm ›Fortschritt ’90‹ enthaltenen Themen werden zweifelsohne die Themen der nächsten Jahre sein. Keine andere Partei weist derzeit ein derart vorausschauendes Politikangebot nach und beweist damit in solcher Masse ihre Visionskraft. Allerdings müssen die Themen des ›Fortschritt 90‹ wohl noch vom Kopf auf die Füße gestellt werden, d.h. sie müssen den Grenzen des menschlichen Lernvermögens angepasst werden. Bei Überforderung laufen uns nämlich die Menschen davon. Diese Art von geistiger Inbesitznahme der Massen dürfte für uns – speziell im Osten – katastrophal sein. Die verschiedenen Varianten des ›über den Menschen Bestimmens‹ kennen wir in den neu beigetretenen Ländern noch zur Genüge.

All diese Punkte schrieb ich aus und wegen meiner emotionalen Bindung an die Sozialdemokratie – nicht um im Nachhinein Recht zu bekommen (ich vertrete diesen hier beschriebenen Standpunkt in dieser Form schon seit längerem), wohl aber aus Verärgerung über das Unvermögen so mancher, die eigene Lage zu begreifen. Nur klare Worte helfen uns, weiterzukommen. Sätze über die angebliche Generationenwahl (aus Lafontaines Umgebung wurde die Version genährt, wonach die Jugend ihn gewählt habe) und den sozialdemokratischen Sieg bei jungen Wählern gehören in die Kategorie der Schönrednerei, die noch niemandem ernsthaft geholfen hat. Bei so viel Einfältigkeit hat es hingegen der politische Gegner umso einfacher. Ausdrücklich betonen möchte ich, daß ich dem derzeitigen Fraktions- und Parteivorsitzendem (Hans-Jochen Vogel) absolut nicht am Zeug flicken will. Die Aufgabe, die Partei in schweren Zeiten zusammenzuhalten, erforderte seine ganze Person. Dies bedarf einer besonderen Würdigung.

 


Eine Antwort – von Helmut Schmidt

…die Antwort von Helmut Schmidt auf meine Auswertung kam prompt.

Zu Schmidts Einwand gegenüber dem Wort ›trotz‹ in meiner Auswertung bleibt meinerseits festzuhalten, dass ich es genauso meinte, wie Helmut Schmidt es zu recht sprachlich korrigierte. Mir ging es um Schmidts fast trotzige Standhaftigkeit, die zum Erfolg führte. Na ja, das Papier schrieb ich am Wahlabend aus einem Guss und gab es am nächsten Tag sofort in die Fraktion. Dabei war mir überhaupt nicht klar, dass der große Helmut Schmidt mein Papier auch auf seinen Tisch bekam. Der ganze Betrieb in der Fraktion war mir damals noch nicht wirklich klar. Umso größer war meine Freude, von meinem Idol persönlich und dann noch solche zustimmende Post zu bekommen. Siebenter Himmel war gar nichts dagegen.

Helmut Schmidt an Weißgerber

 

Helmut Schmidt an Weißgerber /2

Epilog

1989 hatte es die Sozialdemokratie in der Hand. Mit einem begeisterten Ja zur ostdeutschen Sozialdemokratie, mit einem tatkräftigem Ja zur Deutschen Einheit hätte sie 1990 erfolgreich ernten können, was sie selbst in den Jahrzehnten zuvor mit Brandt in Westberlin, in Warschau, Erfurt und Neuer Ostpolitik, mit Schmidt, KSZE und Doppelter Nullösung an wuchtigen Fundamenten des Vertrauens beharrlich eingesät hatte. Die Gestaltung der Deutschen Einheit hätte eine starke sozialdemokratsiche Handschrift bekommen können.

Schade. Daraus wurde nichts. Der Hang zur SED und zu deren Nachfolgern vergiftete den Resonanzboden für die ostdeutsche Sozialdemokratie und brachte die älteste demokratische Partei Deutschlands in den Verruf, gegen die Einheit gewesen zu sein.

Dabei begann es mit der SDP doch so mutig und vernehmbar! Die neue Ost-SDP/SPD in der DDR war die offensivste Kampfansage an die SED und ihre Diktatur, sie war auch die deutlichste Befürworterin des Zuges zur Deutschen Einheit unter den vormaligen Oppositionsgruppen und –parteien. Die SPD-West mit ihrem pragmatischem Seeheimerflügel, der damals die Mehrheit in der SPD-Bundestagsfraktion stellte, stand genauso positiv zu SDP/SPD-Ost und Deutscher Einheit.

Unter Führung von Hans-Jochen Vogel, der damals eine schier unlösbare innerparteiliche Aufgabe der Verbindung von pro-SDP und Einheit mit pro-SED und Teilung zu bewältigen hatte, wurde die westdeutsche Sozialdemokratie letztlich doch zum verantwortungsvollen Mitgestalter des Einigungsprozesses. Beim Durcharbeiten der damaligen Papiere, Beschlüsse, Verhandlungen und Verträge liegt dieser Schluss deutlich nahe.

Was nützt aber die sachlich und fachlich handfeste Arbeit, wenn diese durch feilschendes öffentliche Klingeln desavouiert wird? Legt man die Äußerungen und Querschüsse des Lafontaineschen Flügels drüber, so wird nicht nur die damalige Zerrissenheit der SPD deutlich, sondern auch die Wahlergebnisse für die SPD in Volkskammer- und Bundestagswahlen 1990 sind schnell erklärt.

Die Frage der Deutschen Einheit war nicht nur eine Frage der Freiheit. Sie war eine Frage der gesicherten Freiheit und sie war eine soziale Frage. In beiden Punkten erschien die deutsche Sozialdemokratie 1989/90 widersprüchlich. Führungsstärke in unübersichtlichen Situationen schien ihr seitens der Bevölkerung nicht zuzutrauen gewesen zu sein. Die deutsche Sozialdemokratie war damals ein Wackelkandidat in einer existenziellen Situation Deutschlands. Die 33,5 Prozent vom 2. Dezember 1990 konnten so recht niemanden überraschen. Wer dies prophezeite, wie Altkanzler Schmidt es tat, den wollten die Jusos sogar aus der SPD ausschließen.

Aktuell befinden wir uns unverhofft nicht nur in Deutschland sondern mit der gesamten EU in einer bisher ungeahnten bedrohlichen Situation. Putins Russland spielt mit der EU Katz und Maus, lässt die Gespenster von Gebietsansprüchen wieder auferstehen. Zur selben Zeit holt sich die SPD mit der deutschen Linksaussenpartei nicht nur den harten Kern der SED sondern vor allem eine sehr loyale Putingefolgschaft ins Bett. Die damit einhergehende Gefühlslage unsicherer Zeiten dürfte der SPD 2017 schwer ins Kontor schlagen. Unsichere Kantonisten werden aber nicht gewählt. Mit dem Thema Freiheit lässt es sich für die SPD nach ihrem Thüringer Verrat am antitotalitären Gründungskonsens der SDP von 1989 jedenfalls nicht mehr glaubwürdig punkten.

Für die SPD ist damit die Gefahr sehr realistisch, in der nächsten Bundestagswahl näher bei 20 als über 25 Prozent zu liegen. Was den rechnerischen Traum des linken SPD-Flügels von RotBlutrotGrün im Bund ohnehin zunichte machen wird. Mit ihrem Linkskurs produziert die SPD für die Unionsparteien eine gute Grundlage, in der nächsten Bundestagswahl das zu erreichen, was 2013 noch misslang: die absolute Mehrheit für CDU/CSU. Die Gelegenheit zum Lagerwahlkampf Sicherheit und Wachstum hier versus Unsicherheit plus linke Experimente da, wird sich die gesamte Union nicht entgehen lassen. Das Ergebnis ist bereits heute absehbar. Falls nicht das Wunder realistische/r Kanzlerkandidat/in plus realistisches Programm inklusive der Absage an Linksaußen aus der SPD-Tüte gezaubert wird.

Wer die bevölkerungsreiche demokratische Mitte dieser Republik nach Links verlässt, der macht Platz im repräsentativen System und lässt die konservative Konkurrenz breit in diese Mitte nachrutschen. Was diese Konkurrenz auch bisher erfolgreich vollzog, doch ebenfalls unter Preisgabe angestammter Wählerbereiche im CDU-rechten demokratischen Spektrum. Zusammen mit dem parlamantarischen Ausfall der FDP entstand eine repräsentative Lücke im Mitte-Rechtsbereich der Bundesrepublik, die als politisches Vakuum keinen Bestand haben wird. Andere, schwierigere Player stoßen ins System. AfD, Pegida sind beileibe nicht nur Symptome offensichtlicher Defizite in der Bundesrepublik.

Woran sollte sich die SPD glaubhaft orientieren? Den Bedarf an sozialdemokratischer Politik, die sich an den Grundwerten Freiheit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft, sozialer Ausgleich glaubhaft orientiert, den gibt es noch und sicher für lange Zeit. In welchen Situationen gelang der SPD bisher die Übernahme von Regierungsverantwortung? Erfolgreich war die SPD immer dann, wenn das innerparteiliche Verhältnis ihrer Flügel eine sozialdemokratische Mehrheit gegenüber der ihr innewohnenden sozialistischen Minderheit deutlich erkennen ließ.

Zu keiner Zeit stellte die SPD Staatspräsidenten oder Kanzler, die auf dem Weg ins Amt und im Amt selbst dem linken Flügel zuzuordnen waren. Friedrich Ebert, Philip Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, sie alle entwickelten sich auf jeweils unterschiedlichem Wege, auch teilweise von links kommend. Den Weg ins Amt nahmen sie eindeutig als Mitte/rechte Sozialdemokraten. Dies wird so bleiben. Mit einem erkennbar linken Kanzlerkandidaten wird die SPD weder 2017 noch später das Vertrauen maßgeblicher Teile der Bevölkerung erreichen. Da Kandidaten und Wahlprogramme zueinander passen sollten, ist die SPD gut beraten, beide Entscheidungen miteinander passfähig zu gestalten. Das Beispiel Peer Steinbrück und dessen ›fehlende Beinfreiheit‹ durch ein einschnürendes linkes Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2013 dürfte noch gut in Erinnerung sein.

Ein Wahlprogramm, welches nicht zum Kandidaten passt, ist das Papier nicht wert und ein ausgewiesen linker Kandidat mit einem linken Programm gewinnt keinen Blumentopf. Programm und Kandidat/in müssen zur sozialen Marktwirtschaft passen und erkennbar in der transatlantischen Sicherheit zu Hause. Heute mehr denn je!

Eigentlich ganz einfach.