Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990 – meine Auswertung vom 2.12.1990

Der Sommer 1990 gehört zu den überaus glücklichen Momenten deutscher Geschichte, die erstmals im Einklang mit den Interessen und der Zustimmung ihrer Nachbarn ablief. Beide deutsche Regierungen ließen keinen Zweifel an ihrem Willen aufkommen, ihre Nachbarn und die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges intensiv mit einzubeziehen. Helmut Kohl erreichte im Kaukasus Gorbatschows Einverständnis zur Deutschen Einheit im Rahmen von EU und NATO.

Die Verträge zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, zur Einheit (Einigungsvertrag), zur kommenden Bundestagswahl (Wahlvertrag) sowie zur abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) wurden in einem unerhörtem Pensum ins Werk gesetzt und die Parteien konnten sich im Herbst 1990 auf die erste gemeinsame Bundestagswahl konzentrieren, die auf der Grundlage des Wahlvertrages vom August 1990 auf den 2. Dezember 1990 festgelegt wurde.

Da die Grünen und die PDS mit ihren Klagen gegen die für Deutschland in Gänze festgelegte 5-Prozent-Klausel vom Bundesverfassungsgericht Recht bekamen, wurde in den zwei Wahlgebieten Bundesrepublik-alt und Bundesrepublik-neu mit eigenen 5-Prozent-Klauseln getrennt gewählt. Infolgedessen erreichte die PDS am 2.12. 1990 den Bundestag und Die Grünen/West schauten bis 1994 von außen zu und wurden allein vom Bündnis’90/Ost im Parlament vertreten.

Am 2. Dezember 1990 bekam die SPD mit 33,5 Prozent ihr seit 1957 schlechtestes Ergebnis überhaupt. Das Wahlvolk erteilte die Quittung für historisches Versagen und erteilte ihr den Auftrag der Opposition in der kommenden sehr wichtigen Phase des Zusammenwachsens in emotionaler und staatlicher Sicht. Regieren oder wenigstens Mitregieren der SPD wäre für Deutschland in den kommenden Jahren besser gewesen. Eigentumsfragen, Treuhand, SED-Unrechtsbereinigung, Stasiunterlagen u.v.m. standen auf der Tagesordnung und die SPD befand sich leider in der Oppositionsrolle. Suboptimal scheint hierfür ein passender Begriff zu sein.

Schade. Es wäre mehr möglich gewesen. Die Fehler der CDU/CSU/FDP-Regierung gerade im Bereich von Treuhand und Eigentum düngten den Boden, auf dem sich die SED in den 90er des letzten Jahrhunderts revitalisieren konnte: Rückübertragung statt Entschädigung schuf vielfach neues Unrecht und blockierte die wirtschaftliche Entwicklung enorm. Der Kali-Deal zwischen Treuhand, westdeutsch dominierten Gewerkschaften unter dem Gönnertum der Bundesregierung schuf den Mythos Bischofferode und war gleichzeitig die Frischzellenkur für die SED-Nachfolger.

Zusammen mit der ständigen Medienpräsenz dieser Truppe, der wenig späteren Zusammenarbeit von SPD mit PDS kam es wie es kommen musste. In Thüringen fungierte die SPD 2014 sogar als Steigbügelhalter für einen Ministerpräsidenten der inzwischen als Linksaußen firmierenden SED.

Gemach! Hier kommt erstmal meine Wahlauswertung vom Wahlabend des 2. Dezembers 1990:

 

Die SPD und die Zwangsläufigkeit ihrer Wahlniederlage
oder
Die Blauäugigkeit der SPD


Für mich als jenseits des ›Eisernen Vorhanges‹ aufgewachsenen Deutschen ›offenbarte‹ sich der Kurs der SPD nach 1982 als ein Kurs in die politische Minderheit. Ursache hierfür war m.E. eine schwerwiegende Verkennung der Realitäten in Europa bzw. in der Welt!
Der 2. Dezember 1990 sollte Anlass genug sein für ein selbstkritisches Umgehen mit dem politischen Lebenslauf unserer Partei!

Auf der ›Habenseite‹ sollte u.a. stehen:
– allgemein zugesprochene Kompetenz in sozialen Fragen
– ökologische Kompetenz wurde den GRÜNEN ›abgenommen‹
– eine Million Sozialdemokraten

Negativbilanz:
– Verlust der wirtschaftlichen Kompetenz im Bewusstsein des Wahlvolkes
– teilweise ›Übernahme‹ des Klischees der ›Politikunfähigkeit der GRÜNEN/Alternativen‹
– Einheit der Partei nach außen bleibt Wunsch, solange statt Integratoren Polarisierer (gemeint war der Kandidat 1990: Lafontaine – beispielsweise) Kanzlerkandidaten sind.

Die Kommunisten scheiterten u. a. an der Tatsache, daß es den ›Menschen an sich‹ für ihr System nicht gab bzw. geben wird. D. h. sie wollten diese Tatsache nicht wahrhaben! Nun zu den Sozialdemokraten. Diese wollten (oder wollen) nicht wahrhaben, daß die Realitäten sich vielfach von ihren Vorstellungen unterscheiden. Ich sage hierzu Blauäugigkeit oder auch standhafte Negation der Realitäten. Nachfolgend einige Beispiele zur Untermauerung meiner Behauptungen:

Illusion 1: Der Begriff der Nation gehört ins 19. Jahrhundert!
Realität 1: Die angeblich nicht mehr existente Nation erzwang die Einigung Deutschlands und bestimmte vorrangig die Politik! Weder wollten die DDR-Deutschen mit Österreich noch mit Frankreich die staatliche Einheit. Auch wollten die Tschechoslowaken (ebenfalls befreit) sich trotz des Wohlstandsgefälles nicht mit einem ihrer Nachbarstaaten vereinen. Gerade die sträfliche Blindheit in tatsächlich vorhandenen nationalen Belangen zog eine herbe Wahlniederlage nach sich. Diese Überheblichkeit divergiert erheblich mit unserem Anspruch, Volkspartei zu sein. Außerdem steht die Einbettung in nationale Identitäten keineswegs in Widerspruch zum europäischen Gedanken. Im Gegenteil! Dies meinte übrigens auch der leider bereits scheinbar von Vielen vergessene Kurt Schumacher.

Illusion 2: ›Der Arbeiter existiert nicht mehr!‹
Realität 2: Selbstverständlich entspricht das Bild des Arbeitnehmers nicht mehr dem Stand des 19. Jahrhunderts. Aber deshalb hat er doch nicht aufgehört zu existieren. Und er ist imstande, seiner SPD derbe und heftige Ohrfeigen zu versetzen. So ist es nicht nur in Sachsen, nein, so ist es auch in Westdeutschland geschehen! Die SPD verliert momentan enorm innerhalb ihrer Stammklientel. Nicht zuletzt ihr hoher pseudointellektueller Personenanteil, der u.a. an der Sprache (Dialogunfähigkeit) erkennbar ist, bereitet dem Arbeiter Schwierigkeiten bei der Identifikation mit sozialdemokratischer Politik. Von der guten alten Politikertugend, dem Volke aufs Maul zu schauen, ist keine Spur geblieben.

Illusion 3: ›Der neue Weg – ökologisch, sozial, wirtschaftlich stark‹ (Slogan des SPD-Wahlkampfes 1990)
Realität 3: Wirtschaftlich stark und sozial/ökologisch! Wirtschaftliche Fragen stehen immer, aber vor allem in Umbruchzeiten als Hauptfragen in der politischen Landschaft. So gesehen ist unsere Reihenfolge zwar emotionell verständlich, sie ist aber gegen den Realismus des »Mannes auf der Straße« gerichtet. (Anders als Kohls CDU gelang es der SPD nicht, sich auf die veränderten Verhältnisse einzustellen.) Eine weitere Anmerkung: ›Der neue Weg‹ benötigte vierzig Jahre zu seiner Entstehung. Und trotzdem ist er in Westdeutschland noch schwer vermittelbar. Logischerweise ist er in dem irgendwo in den fünfziger Jahren steckengebliebenen Ostdeutschland (fast) überhaupt nicht vermittelbar. Wie alle Menschen benötigen auch die Ostdeutschen Karenzzeit. Die Negierung der angestauten Bedürfnisse der Ostdeutschen seitens der Sozialdemokratie, beispielsweise hinsichtlich deren Wunsch nach Mobilität, war närrisch! Vierzig Jahre bezahlten sie bereits M 1,50 (wenn auch Ostmark) je Liter Kraftstoff. Fünfzehn (15) Jahre warteten sie durchschnittlich auf ihren Plastikbomber (gemeint ist der Kleinwagen Trabant) erwarten im Fall unserer Wahl deren Bereitschaft, freiwillig noch mehr Geld für ihren Wunsch nach freier Fahrt für freie Bürger zu bezahlen. Die Menschen brauchen Zeit. Und wir wollen die Augen davor verschließen, oder?

Illusion 4:Verlangen nach Vorrechnung der Kosten der Einheit wirkt seriös.
Realität 4: Die Forderung wurde als kleinlich abgetan, ihre ständige Wiederholung wirkte penetrant. In Anbetracht der Freude der weitaus meisten Deutschen über die Einheit zog diese Forderung gar ablehnende Reaktionen nach sich. Mehr noch, es war das Gefühl bemerkbar, daß sich viele der neuen Bundesbürger trotz vollzogener Vereinigung wieder ausgeladen vorkamen! Die Aufforderung, bereitwillig Opfer zu bringen, hätte der Wirklichkeit entsprochen und wäre somit klüger gewesen.

Illusion 5: Die SPD braucht das Ideal des »Demokratischen Sozialismus«, (als ob der Begriff »Sozialdemokratie« nicht ausreichend Name und Programm wäre...)
Realität 5: Die Menschen litten bzw. hatten von Ferne teil an einem System, welches zwar dem sozialdemokratischen Ideal entgegengesetzt war, das den Begriff des ›Sozialismus‹ aber für sich beanspruchte. Daß der Begriff des ›Sozialismus‹ derart auf Jahrzehnte, wahrscheinlich sogar für immer, diskreditiert worden ist, bleibt die Folge der verlogenen Besetzung dieses Begriffes durch die Bolschewisten. Auch in diesem Punkt nehmen Sozialdemokraten wiederum keine Rücksicht auf die ernstzunehmenden Gefühle des ›gemeinen Mannes/der gemeinen Frau‹. Als ob nichts geschehen sei, als ob die Emotionen der Menschen keine Rolle für die SPD spielten, beharrt sie zänkisch auf ihrer heiligen Kuh, dem ›Demokratischen Sozialismus‹. Und dies, obwohl sie bereits schon einmal (50er Jahre bis Anfang der 70er Jahre) bei Besinnung auf den eigenen, inhaltlich bedeutsamen und aussagekräftigen im Parteinamen geführten Begriff ›Sozialdemokratie‹ ausgekommen war und damit breiten Anklang im Volk hatte!

Illusion 6: Linksaußen ist weniger gefährlich als Rechtsaußen.
Realität 6: Otto Wels sagte bereits auf dem Leipziger Parteitag im Jahre 1931: »Bolschewismus und Faschismus sind Brüder!«. Den Nachweis dieser These hat für alle verständlich die Geschichte geführt! Während man (berechtigterweise) für Sühneleistungen an den NS-Opfern eintrat, ließ man die SED-Kommunisten halbwegs ungeschoren. Während man die Existenz des »Berlin Document Center« (NSDAP-Mitgliederkartei) akzeptierte, wollte man die »Erfassungsstelle Salzgitter« (In Salzgitter wurden die bekanntgewordenen Grenzverbrechen der DDR archiviert.)liquidieren. Als ob die Verbrechen der Kommunisten, gerade auch gegenüber Sozialdemokraten, harmloser waren!? Nichts gegen den Denkansatz des ›Gemeinsamen Papiers‹ (von SED und SPD aus dem Jahre 1987). Warum aber wurden die Verpflichtungen aus diesem Dokument bei den Kommunisten nicht konsequent unter Androhung der Annullierung dieses Papiers eingeklagt? Unter Verleugnung unsere Erfahrungen mit den Kommunisten, nämlich daß diese niemals ihre Identität wirklich ändern werden, glaubte man ungeschoren aus diesen Kontakten hervorzukommen. Wer seine Identität änderte, das war nicht die SED, es war in Teilen die SPD. Allein die Tatsache der Existenz ›anständiger Kommunisten‹ berechtigt nicht zu einer Verharmlosung des Kommunismus. Schließlich war auch nicht jedes NSDAP-Mitglied ein KZ-Aufseher. Trotzdem war und bleibt für uns das System der kleinen Nazis ein zutiefst unmenschliches. Und genau dies gilt ebenso für das System der kleinen Kommunisten. In dem hier beschriebenen Zusammenhang müsste die Forderung nach einem zweiten Nürnberg (gemeint sind die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von 1946) – dieses Mal für die kommunistischen Diktatoren – Allgemeingut sein.

Genug der weiteren Aufzählung von Illusionen und den dagegen stehenden Realitäten. Aber die folgenden Details möchte ich dennoch ansprechen: – Die Unklarheiten auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bereits der weltfremde Diskurs, ob die Vereinigung über Art. 23 GG oder Art. 146 GG erfolgen sollte, trieb uns die Wähler in Scharen davon. Da Art. 146 GG kein Rezept zur Erreichung der Einheit bietet, lediglich dem dann bereits (!) geeinten Volk die (berechtigte) Chance einer Volksabstimmung über eine Verfassung gibt, war unsere ›Schlauheit‹ (Art. 146) eigentlich eine Torheit. Sie führte nicht zu mehr Hoffnung, dafür aber zu erhöhter Verunsicherung des in der Mehrzahl jedenfalls einheitswilligen Bürgers. Und so wählte er dann auch im März 1990! Nämlich den ›sicheren Kandidaten‹ – die Allianz. (Artikel 23 GG sah die Möglichkeit des sofortigen Beitritts früherer ostdeutscher Länder zur Bundesrepublik vor. Artikel 146 GG wies den Weg zur Einheit über eine verfassungsgebende Versammlung für alle Deutschen.) Warum wurde eigentlich diese Diskussion, noch dazu in der Partei Kurt Schumachers, geführt? Besteht Opposition tatsächlich nur in der konsequenten Äußerung der Regierung entgegenstehender Meinungen? Muß dies in einer Art geschehen, die weder Sinn noch Form erkennen lässt? In diesem Zusammenhang hoffe ich, daß die SPD nun nicht grundsätzlich gegen Steuererhöhungen ist, nur weil die Regierung diese plötzlich doch als richtig erkennen würde. Hier sollte uns der Triumph, recht behalten zu haben, ausreichen! (Im Bundestagswahlkampf 1990 thematisierte die SPD (Lafontaine) die Kosten der Einheit. Steuererhöhungen waren hierfür absehbar. Die Bundesregierung stritt diese Notwendigkeit immer strikt ab (Kohl: Es wird keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der Einheit geben...). Tatsächlich musste die Regierung bereits wenige Wochen später massive Steuererhöhungen vornehmen (u. a. Solidaritätszuschlag).

Generationenwahl – die Jugend wählt wieder sozialdemokratisch? Hier beginnt die standhafte Realitätsverleugnung bereits wieder! Erstens ist keineswegs sicher, daß die heute Zwanzigjährigen in vier Jahren immer noch SPD wählen. Zweitens sind die heute Zwanzigjährigen auch in vier Jahren noch in der Minderheit. Drittens ist der Tausch von zehn Jugendlichen gegen 50 ›Normalbürger‹ jedenfalls aus Sicht der Bildung regierungsfähiger Mehrheiten ein miserabler Handel. Will man sich aber in Richtung 20 Prozent entwickeln – dann sollte man allerdings so weitermachen...

Das Berliner Wahlergebnis ist als klare Absage an das Tändeln der SPD mit dem linken Rand der Gesellschaft zu verstehen. (Am 2. Dezember 1990 wurde das Rot/Grüne-Bündnis – Momper – klar abgewählt.)

Die von mir erhobene Klage hinsichtlich der Realitätsferne bezieht sich selbstverständlich auch auf ostdeutsche Sozialdemokraten. Die Aussagen unseres Außenministers in der letzten DDR-Regierung bezüglich eines Beitritts 1991 oder 1992, die er noch im Juni/Juli des Jahres machte, trieften von politischer Instinktlosigkeit. Zum damaligen Zeitpunkt war für jeden, außer unserem Außenminister und seinen Beratern, der Beitritt 1990 klar ersichtlich. Des weiteren besaß Freund Meckel seit Dezember 1989/Januar 1990 detaillierte Ausarbeitungen zu kommenden 2+4-Gesprächen bzw. zu friedensvertraglichen Regelungen für Deutschland. Wäre er mit diesem Material an die Öffentlichkeit gegangen, statt es in der Schublade zu lassen – die SPD hätte den Zug zur Einheit nicht als Schlafwagenschaffner begleitet. Hier muß natürlich die Frage nach den Beratern unseres Ministers gestellt werden. Ebenso war ihm bestens das Schnüfflernetz seines Ministeriums bekannt. Die Reaktionen waren gleich Null!

Das diffuse Bild der Ost-SPD bis Juni 1990 passte ebenfalls ›wunderbar‹ in das ›Nicht Fisch noch Fleisch‹-Bild der gesamten SPD. Die Hauptursachen hierfür lagen vor allem in der offenbaren Unfähigkeit des Ost-Vorstandes, mit der Koalitionsentscheidung der Volkskammerfraktion klarzukommen. Montag für Montag wurde durch Vorstandsbeschlüsse über die Medien Druck auf die jeweils am Dienstag tagende Volkskammerfraktion ausgeübt. Dem Zuschauer am Bildschirm wurde dadurch ein völlig desolates Bild der Ost-SPD geboten.(Während die Volkskammerfraktion, zusammengesetzt aus bereits gestandeneren Basisvertretern, sich zur großen Koalition durchrang, stand der eher mit diffusen Senkrechtstartern besetzte Vorstand ständig gegen die Zusammenarbeit mit den Allianzparteien.)

Jüngstes Beispiel dafür, wo Teile der SPD den Verlockungen pseudo-links-intellektueller Scharlatane verträumt auf den Leim gehen, ist der Fall Böhme. (Nach der Volkskammerwahl (März) veröffentlichte der Spiegel Details zu Böhmes IM-Tätigkeit. Realistischen Gemütern in Volkskammerfraktion und Ost-SPD war Böhmes Verstrickung deutlich. Dessen ungeachtet wurde er auf dem Vereinigungsparteitag in den Bundesvorstand der SPD gewählt (Richard Schröder fiel dagegen durch). Selbst seine Unterstützung des PDS-Anachronistischen Zuges, einer Propagandaaktion in altbekannt unangenehmen Stil, nahm ihm die SPD nicht übel.) Die Warnungen ernstzunehmender Sozialdemokraten (M. Gutzeit, R. Schröder) als von rechts kommend aus dem Wind schlagend, sitzt man nun wieder einer selbstgeschneiderten Täuschung auf. Hierzu ist anzumerken, dass ich bereits anläßlich Böhmes Unterstützung – gemeinsam mit Modrow, Gysi, Wolf u.a. – des ›Anachronistischen Zuges‹ seinen Parteiausschluss nach § 35 (1) des Organisationstatutes der SPD forderte.

Allgemein konstatiere ich: Mit dem Fiasko des Ostblocks steht die SPD ebenfalls vor dem Scherbenhaufen der Politik, die seit dem Abgang von Helmut Schmidt betrieben hat. Die Raketen sind fort – aber doch nicht zuletzt wegen Schmidts Festhalten am Doppelbeschluss. Diesen im Doppelbeschluss formulierten Druck ›brauchte‹ der Ostblock doch wirklich. Dies haben die Ereignisse m. E. doch deutlich unter Beweis gestellt. Statt zu glauben, russische Raketen schmerzten weniger, statt dadurch der Propaganda des erwiesenermaßen äußerst aggressiven Ostblocks nachzulaufen – stattdessen hätte man doch besser den Rücken des eigenen Kanzlers stärken sollen. Mit dem schon von Schmidt (für die 80er Jahre) prognostizierten Wirtschaftswachstum im Rücken hätte man sich bei Stützung des eigenen Mannes um die Regierungsverantwortung bis heute keine Sorgen machen müssen. Die SPD hat sich nicht zuletzt durch ihr eigenes Handeln um die Früchte ihrer Ost- und KSZE-Politik gebracht. Nicht nur Brandt – auch Schmidt hat eindeutig zu einer Situation in der Sowjetunion beigetragen, welche einem Mann wie Gorbatschow den Weg öffnete. Der Nomenklatura blieb nichts anderes übrig...

Die SPD ist sehr gut beraten, wenn sie aus der derzeitigen Unperson Helmut Schmidt wieder den Mann ›macht‹, welcher zu den bedeutendsten Sozialdemokraten überhaupt gehört. Bisher kannte man nur im Osten, in den kommunistischen Parteien, Unpersonen. Die 127jährige SPD sollte als demokratische Partei mit langer Tradition doch wohl zu klügeren Dingen fähig sein.

Zu denken sollte weiterhin der Umstand geben, daß der CDU zwar Wähler verlorengegangen sind, diese aber zur FDP und nicht zur SPD gingen. Hier liegt unser derzeitiges Hauptarbeitsfeld. Um die PDSED brauchen wir uns keine Sorge zu machen. Als politische Splittergruppe (2,4 Prozent – Gerechnet auf das gesamte Bundesgebiet.) wird die zwölfte ihre erste und letzte Legislaturperiode im Bundestag gewesen sein. Dies gilt allerdings unter der Voraussetzung, daß wir tatsächlich das soziale Spektrum abdecken. So wie das Aufnehmen der grünen Themen für die praktische Austrocknung der Grünen bundesweit sorgte, so werden auch die Restposten an demokratisch gesinnten PDS-Wählern zur SPD fließen. Hier kann nur nach dem Prinzip des Schwammes vorgegangen werden: die unbelasteten und demokratisch gesinnten Nichtfunktionsträger unter den Anhängern der PDS werden von der Sozialdemokratie aufgesaugt. Der Gedanke, daß sich eine 35Prozent-Partei mit einer 2,4Prozent-Partei verbindet, ist lächerlich. Dies wäre außerdem genauso unmoralisch wie der Zusammenschluß von West-CDU mit der belasteten Ost-CDU. In diesem Punkt sind wir besser!

Wen brauchen wir in erster Linie? Der neue Parteivorsitzende sollte im Gegensatz zum Kanzlerkandidaten ein Integrator sein. (Hans-Jochen Vogel hatte vor der Wahl klargemacht, dass er nicht länger Parteivorsitzender sein will. Ursprünglich wäre sein natürlicher Nachfolger der 90er Kanzlerkandidat Lafontaine gewesen. Dies war am Abend des 2.12.90 nicht mehr so klar.) Was die SPD mehr als alles andere braucht, ist eine Persönlichkeit, die von der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder getragen wird. Die SPD braucht eine Persönlichkeit, die für Kontinuität und Erneuerung steht!

So gesehen ist ein Mann wie Björn Engholm scheinbar eine gute Wahl. Engholm war Minister im Kabinett Schmidt und gehört zur Enkelgeneration. Mit seiner Ausgeglichenheit und seinem gesunden Verhältnis zur Macht könnte er die Übergangsphase, in der die SPD sich seit 1982 steckt, beenden. Als ehemaliger Schmidtscher Minister steht er für ein gewaltiges und erfolgreiches Stück sozialdemokratischer Politik. Mit seiner ›Jugend‹ verkörpert er viel Hoffnung.

Die im Programm ›Fortschritt ’90‹ enthaltenen Themen werden zweifelsohne die Themen der nächsten Jahre sein. Keine andere Partei weist derzeit ein derart vorausschauendes Politikangebot nach und beweist damit in solcher Masse ihre Visionskraft. Allerdings müssen die Themen des ›Fortschritt 90‹ wohl noch vom Kopf auf die Füße gestellt werden, d.h. sie müssen den Grenzen des menschlichen Lernvermögens angepasst werden. Bei Überforderung laufen uns nämlich die Menschen davon. Diese Art von geistiger Inbesitznahme der Massen dürfte für uns – speziell im Osten – katastrophal sein. Die verschiedenen Varianten des ›über den Menschen Bestimmens‹ kennen wir in den neu beigetretenen Ländern noch zur Genüge.

All diese Punkte schrieb ich aus und wegen meiner emotionalen Bindung an die Sozialdemokratie – nicht um im Nachhinein Recht zu bekommen (ich vertrete diesen hier beschriebenen Standpunkt in dieser Form schon seit längerem), wohl aber aus Verärgerung über das Unvermögen so mancher, die eigene Lage zu begreifen. Nur klare Worte helfen uns, weiterzukommen. Sätze über die angebliche Generationenwahl (aus Lafontaines Umgebung wurde die Version genährt, wonach die Jugend ihn gewählt habe) und den sozialdemokratischen Sieg bei jungen Wählern gehören in die Kategorie der Schönrednerei, die noch niemandem ernsthaft geholfen hat. Bei so viel Einfältigkeit hat es hingegen der politische Gegner umso einfacher. Ausdrücklich betonen möchte ich, daß ich dem derzeitigen Fraktions- und Parteivorsitzendem (Hans-Jochen Vogel) absolut nicht am Zeug flicken will. Die Aufgabe, die Partei in schweren Zeiten zusammenzuhalten, erforderte seine ganze Person. Dies bedarf einer besonderen Würdigung.

 

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