Gorbatschow und die Deutsche Frage

Für die Sowjetunion unter der Ägide Gorbatschows war die DDR zu einem besonderen Problem geworden.

Gorbatschow wollte sich zurückziehen aus den kommunistischen Satellitenstaaten, die Stalin errichtet hatte. Ihm war klar geworden, dass sein Land die ökonomischen und finanziellen Lasten, die damit verbunden waren, nicht mehr tragen konnte. Ihm war außerdem klar, dass er auch die Hochrüstung nicht mehr finanzieren konnte. Und zum Schluss war ihm klar geworden, dass der Kommunismus Stalinscher Prägung die Menschen ihres Lebensodems beraubt. Daher sein Spruch: Die Menschen brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Mit Gorbatschow war einer jener seltenen, aber klugen Menschen an die Macht gekommen, wie das in Russlands bisheriger Geschichte in regelmäßigen, aber langen Abständen immer wieder geschehen ist, ein Mensch, dem Weitblick, Vernunft und eine gewisse Menschlichkeit eigen sind. Ohne Politiker seines Schlages wäre das russische Imperiums wohl schon lange zusammengebrochen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass Gorbatschow genau dies verhindern wollte. Seine neue Politik, die vom Westen gefeiert wurde, war kein Wunder, sondern das Ergebnis einer sauberen politischen Analyse. Im Übrigen hätte der Westen auf so einen Menschen vorbereitet sein können. Der amerikanische Diplomat George Kennan hatte bereits zu Anfang des Kalten Krieges eine solche Entwicklung vorhergesehen.

Nun wurde sie eingeleitet. Gorbatschow entließ die kommunistischen Bruderparteien in den Satellitenstaaten in die Selbst-, d.h. Eigenverantwortung. Er begann substantielle Abrüstungsverhandlungen und er führte demokratische Elemente im sowjetischen Staat ein.

Die SED stellte er damit vor ein Dilemma. Wenn sie sich ebenso wie Gorbatschow auf demokratische Reformen einließ, drohte sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch den von ihr geschaffenen Staat, die DDR zu versenken. Aber auch wenn sie nichts tat, drohte ihr dieser Untergang. Daher die merkwürdige Schockstarre, die von der SED in ihren letzten Lebensjahren ausging.

Gorbatschow konnte der SED nicht helfen. Er konnte ja niemandem vom alten System helfen, weder im In- noch im Ausland. Er wollte das auch gar nicht mehr. Er wollte sein Land retten, das er in höchster Gefahr sah. Und dafür war ihm die DDR ziemlich schnuppe, wie auch Polen oder Ungarn, oder gar Kuba. Damit aber brach der Sicherheitsanker der SED weg. Sie war nicht nur abhängig von Moskau, sie war Russland nicht nur hörig, sie glaubte auch an Moskau. Ihr ganzes ideologisches und politisches Gebäude brach zusammen. In Polen waren die Kommunisten immer auch Polen, in Ungarn waren sie immer auch Ungarn, aber in der DDR waren sie Deutsche. Nun plötzlich sahen sich die deutschen Kommunisten mit ihrer eigenen deutschen Geschichte konfrontiert, mit ihrer Verantwortung, die sie doch über ihre kommunistische Ideologie und ihren Staat so schön entsorgt hatten. Die DDR hatte außer ihrer kommunistischen Staatsidee sowjetrussischer Prägung keine andere Legitimation. Und sehr zum Leidwesen manch eines Sozialdemokraten in der Bundes-SPD, und wohl auch bei Gorbatschow selbst, fand sich in der SED niemand, der Mumm und Verstand aufgebracht hätte, diese Verhältnisse so zu benennen, und damit die politische Führung, und sei es auch nur für eine Übergangszeit, an sich zu reißen.

Es führt immer wieder zu spannenden Diskussionen, wenn man der Frage nachgeht, woran das wohl gelegen hat. Auf jeden Fall ist es ein Fakt. Die SED, oder besser ein Teil von ihr, hat zwar in der PDS, der heutigen Linkspartei, überlebt, aber den Übergang in die Demokratie und auch die Deutsche Einheit hat sie nicht mitgestaltet, dafür fehlten ihr jene Männer und Frauen, die über die notwendige intellektuelle Größe und das charakterliche Format verfügten. Die einzige wirkliche Bedeutung, die die Linkspartei heute hat, besteht in der Abgrenzung von ihrer Vorgängerin, der SED, der diejenigen, die von ihr übrig geblieben sind, die ganze Schuldenlast für die untergegangene DDR umgehängt haben.

Was aber sollte aus der DDR werden? Und was sollte aus Deutschland werden, wenn die SED unterging, wenn Gorbatschow weitermachte? In den 80er Jahren war eine Option für Deutschland entstanden, von der der Widerstand in den 50er Jahren immer geträumt hatte. Diese Option betraf bei weitem nicht nur die DDR, es betraf Deutschland als Ganzes. Das Ende des Kalten Krieges schien nahe zu sein. Nun mussten die Deutschen selber sagen, wohin für sie die Reise gehen sollte. Was wollten sie? Es bedurfte dafür auch einer ostdeutschen Stimme, genauso wie der westdeutschen. Denn mit einer Stimme konnten die Deutschen nicht sprechen. Die hatten sie ja nicht. Und die alte Bundesrepublik, die immer davon ausgegangen war, für die Ostdeutschen mit zu handeln können, für sie die Verantwortung mit zu tragen, stieß jetzt mit ihrem Alleinvertretungsanspruch an ihre Grenzen. Den Ostdeutschen Pässe auszustellen, sie freizukaufen, sie zu alimentieren, sie aus den besetzten Botschaften rauszuholen, das ging ja noch, aber für die 17 Millionen Ostdeutschen zu entscheiden, was diese wollten, daran hätte sich die alte Bundesrepublik überhoben. Das mussten die Ostdeutschen selber tun. Und genau darauf zielte die Gründung der sozialdemokratischen Partei in der DDR, der SDP.

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