Alle Welt spricht von ›Globalisierung‹. Nur denkt man dabei meist an die weniger interessante Seite dieses weltbewegenden Vorgangs, an seinen materiellen, ökonomischen Teil.
Dieser drängt sich auf, gewiss, er dirigiert sogar den ganzen Prozess. Wenn nicht das Kapital in seinem unstillbaren Hunger nach Selbstvermehrung immer neue Domänen der Verwertung aufspüren, den letzten Winkel der Erde in eine Dependance des Weltmarkts verwandeln, die kleinste Spanne zwischen einheimischen Gestehungskosten und irgendwo angesiedelter Massenproduktion ausnützen müsste, dann würden nicht permanent Güter, Dienstleistungen und elektronische Informationen über den Erdball verschoben und ganze Volkswirtschaften ruiniert zum kurzfristigen Nutzen der besser ausgerüsteten, höchstens noch oberflächlich an eine Nation gebundenen wirtschaftlichen ›Multis‹. Natürlich wäre es eine große Unterschätzung, diesen Vorgängen zu bestreiten, dass sie die höchste Aufmerksamkeit verdienen. Kleine Schwankungen in der Zirkulation besonders des Nervensafts dieser Transaktionen, des Geldes oder auch bloß der Währung, können über Gedeih und Verderb ganzer Landstriche entscheiden. Das Ergebnis ist mit statistischer Wahrscheinlichkeit immer das gleiche: Sieg der Starken über die Schwächeren, Sieg des ›freien‹ Marktes über etwa noch bestehende soziale Sicherungen und Schutzzonen (die selber mit vielen Problemen behaftet sind/waren und wenig Grund zur Nostalgie bieten). Die ›player‹ finden noch die kleinste Wendung dieser Rotationen äußerst unterhaltsam. Die, denen mitgespielt wird, haben erst recht allen Grund zu geschärftem, kritischem Interesse an den Bewegungen im einzelnen wie an ihrer scheinbaren Logik oder Zwangsläufigkeit. Hinter den so atemlos verfolgten und so ernüchternden permanenten Schwankungen, die sich den ihnen gebührenden Raum selbst im gedrängtesten vier- oder fünfminütigen Nachrichtenverschnitt erzwungen haben – jede Hörerin eine potentielle Direktkundin von Wall Street –, meldet sich hie und da auch, als aufregendste Frage überhaupt, die durchaus angebrachte Sorge, wie lange dieses Spiel noch gut gehen kann – ›gut‹ natürlich für die Sieger, aber was käme im anderen Falle erst auf die chronischen Verlierer zu?
Mir scheint jedoch die grenzüberschreitende Bewegung der Menschen noch interessanter, womöglich aufschlussreicher. Sie ist zwar von der Verschiebung der Wirtschaftsgüter und –potentiale nicht zu trennen. Sie wird von ihr verursacht und dient ihr oder begleitet sie – die Diskussion über die deutsche Greencard beweist, dass die Migration der Menschen einem durchaus ähnlichen Kalkül unterworfen wird wie die der Waren. Aber sie bietet einen anderen Ansatzpunkt, sich zu dem ganzen Geschehen und zu seiner besonderen Dynamik zu verhalten. Dieser Teil der Bewegung hat menschliche Füße, hat Köpfe, in denen sich wiederum nicht wenig bewegt.
Auch die Migration der Menschen ist meist keine rein spontane, aus dem Willen der einzelnen entsprungene Bewegung. Ein Kern von eigener Aktivität aber zeigt sich bei allen (fast allen), die ihr Herkunftsland verlassen und eine Grenze überschreiten. Sie mögen noch so sehr als Objekte von überlegenen Akteuren oder Agenturen erscheinen: verfolgt, vertrieben, malträtiert und ausgehungert, verlockt, angeworben, auf Listen gesetzt (oder gestrichen), verfrachtet, ›geschleppt‹, und dann ›geduldet‹ oder ausgewiesen, ›zurückgeführt‹: Auf sie kommt es gleichwohl und eigentlich an. Sie sind an diesem Geschehen stärker beteiligt als alle etwa involvierten Agenten. Der Wille, irgendein anderes oder das eine erwünschte Land zu erreichen, ist in der Regel die ausschlaggebende Ursache für die Migrationsbewegung der einzelnen Person. Das war in den gewaltigen Repatriierungs- und Vertreibungsbewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs noch anders; in der neueren Migration jedoch scheint der Eigenwille der Beteiligten stärker gefragt zu sein. Allerdings darf auch die Begrenztheit dieses zivilen Erklärungsansatzes nicht übersehen werden: Bis heute noch werden Menschen, junge Frauen vor allem, ins Ausland verkauft und verschleppt; auch die mitgeführten oder ›nachgezogenen‹ Kinder werden zumeist nicht gefragt. Die Migration aus Lust: aus Wohlgefallen an einem anderen Land oder an einer Person im anderen Land, aus Freude am Wechsel, am Abenteuer, zur Bewährung an einer speziellen Herausforderung usw. bietet weniger Probleme und fügt sich glatt ins Bild von der fröhlichen, nichts als Glück bringenden Mobilität und Globalisierung.
Welche Mobilitätsgewinne, welchen Ertrag an Lebensmöglichkeiten, an praktizierter Koexistenz, an Verständnis und Verständigung, welche Einsichten und welcherlei Veränderung der Begriffe verspricht die Globalisierung der Menschen, die weltweite Migration?
1. Entgrenzung, jedoch nicht unbegrenzt
In der Argumentation der Mobilitätsfreunde sieht alles schlüssig und historisch folgerichtig aus: Grenzen sind dazu da, aufgehoben zu werden. Die Organisation der europäischen wie später der übrigen Menschheit in Nationalstaaten war eine vielleicht einmal unvermeidliche, aber eher schädliche als nützliche Entwicklungsstrategie des 18. bis 20. Jahrhunderts. Nationalismus, kollektive Überheblichkeit, künstlich geschürte Abgrenzung von anderen, eine beträchtliche Zahl von Kriegen und ein nur mit Mühe auflösbares Reservoir von Aggressivität beweisen unübersehbar, dass diese Organisation eine Sackgasse war. Vielleicht sind die Nationalstaaten noch nicht (oder gar nicht?) entbehrlich, nicht einmal da, wo sich schon durch Vereinbarungen größere Einheiten herstellen lassen. Aber sie sind überlebt, sie verdienen es, soweit wie möglich abgeschwächt, abgemildert zu werden. Wenn schon nicht ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungskraft, dann sollte doch wenigstens ihre bewusstseins- und verhaltensprägende Gewalt, dieser Motor vieler ideologischer Verhärtungen, gebrochen werden. Bei dieser gewaltigen, bis jetzt erst wenig erfolgreichen Anstrengung, die in jedem einzelnen Staat und zugleich staatenübergreifend geleistet werden muss, verspricht die vielfältige Migration eine ebenso zeichenhafte wie faktische Hilfe. Je belangloser die Grenzen durch permanente Überschreitung oder ›Verletzung‹ werden, je mehr Individuen sich in fremden Umgebungen behaupten, je größer die Chancen der Einwohner eines gegebenen Territoriums werden, mit Nichteinheimischen zu sprechen, zusammenzuwirken, umso besser ist es um die Zukunft der einen Menschheit auf der ganzen Erde bestellt. Die für viele zeitgemäße Operationen benötigte Auflockerung des Verhaltens wie des Bewusstseins (s. Punkt 2 und 3) wird mindestens erleichtert, partiell vielleicht erst ermöglicht durch die faktische Ortsveränderung und die Konfrontation mit Angehörigen einer anderen Kultur in zumeist auch einer anderen Sprache.
Diese Argumentation hat viel für sich. Sie stellt sich, anders als die meist nur defensiven oder abwartenden Reaktionen der Mobilitätsskeptiker, auf den Trend der Zeit ein und sucht ihn bei seinem grundsätzlichen, wegweisenden Wert zu nehmen. Die Relativierung, Verringerung, Entkräftung der scheinbar natürlichen Zugehörigkeit zu einer Nation (durchweg von Geburt an) ist nicht nur möglich und denkbar, sie findet laufend statt, und das schon seit langem. In Tausenden von Fällen wird die Staatsangehörigkeit gewechselt, der Zugang zu einem anderen Kulturkreis gesucht und gefunden, die Sprache so gut gelernt, dass die Hinzugekommenen in ihr statt in der Muttersprache weiterleben können – mit allen Mischungen oder Schattierungen natürlich, die den Kulturübergang so facettenreich und lehrreich machen. Was die meisten Einheimischen sich nur als Gedankenexperiment vielleicht beim Lesen von Reiseberichten oder fremdländischen Romanen, allenfalls bei Ferienbegegnungen im Ausland leisten, das ist für andere, hier im Lande Anwesende der Ernstfall, ein bestimmender Teil ihrer Existenz. Das bloße Faktum ihrer Anwesenheit hier hat Wirkungen auf die Existenz und das Bewusstsein der schon immer hier Lebenden. Es ist leider immer wieder nötig, sich die Fülle der Interaktionen und Kooperationen zwischen den Einheimischen und den Hinzugekommenen klarzumachen. Sie ist in den Läden, Büros, Fabriken, in Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Krankenhäusern, auf fast allen Straßen, in den meisten Kneipen selbstverständlich und bedarf an sich keiner Hervorhebung. Bei einer kritischen Betrachtung des Entwicklungsstandes im Zu- oder Einwanderungsland Deutschland muss sie jedoch eigens akzentuiert werden, damit nicht die Äußerungen des Fremdenhasses bis zur Brandstiftung und zum Mord, die natürlich eine ganz andere Aufmerksamkeit verdienen als die sonst praktizierte Friedfertigkeit, als typisch für das ganze Verhältnis genommen werden. Zur Unterstreichung, wie sehr die Einwanderung, ja selbst die vereitelte Einwanderung die übrigen Einwohner dieses Landes nicht nur angehen sollte, sondern faktisch schon in ihr Leben eingegriffen hat und weiter eingreift, nannte z.B. das Komitee für Grundrechte eine Broschüre (1998): Die Bedeutung der Ausschließung gefährdeter Menschen für uns eingeschlossene Deutsche.
So zutreffend aber diese pointierte Formulierung klingt: Lässt man sich auf das ein, was hinter ihr steht, verstrickt man sich notwendig in Polemik, in der keine Seite einfach Recht hat, ja im gegenwärtigen Weltungleichgewicht ein uneingeschränktes Recht auch nur haben könnte. Grenzen verschwinden nicht, wenn sie nur oft genug überschritten werden; die erfreuliche und relativ problemlose, aber nur äußerliche Beseitigung der Schlagbäume zwischen den EU-Ländern darf uns nicht zu unbedachtem Optimismus verleiten. Das Überschreiten selbst lässt sich zwar steigern und auch erleichtern, es lässt sich aber nicht bis ins Grenzenlose vermehren. Für Hunderte von abschiebungsbedrohten Asylsuchenden, notleidenden Flüchtlingen, nachzugsgehinderten Familienangehörigen kann man mit Recht geltend machen, dass dieses immer noch reiche Land großzügiger verfahren sollte als die jeweils zuständigen, ihre Parteidoktrinen und Koalitionsvereinbarungen exekutierenden Bundes- oder Landesregierungen und die auf die Gesetzeslage pochenden Gerichte. Dass bei der Prüfung jedes Einzelfalls, zu dem die Gerichte verpflichtet wurden, die Unverletzlichkeit der Person und die Wahrung der übrigen Menschenrechte Vorrang haben vor etwa entgegenstehenden Interessen des aufnehmenden Landes und seiner Verwaltung, ist ein Postulat, dem man nur zustimmen kann. Dennoch ist, so rücksichtslos es klingt, die Aufnahmefähigkeit eines Landes, von der die Aufnahmebereitschaft ein unabdingbarer Teil ist, auch eine quantitative, also begrenzte Größe. Sie liegt nicht unveränderlich fest, aber sie lässt sich nur durch Verbesserung der hier gebotenen Bedingungen und durch mühevolle Diskussionsprozesse mit dem Ziel eines neu gesetzten gesellschaftlichen Konsenses erweitern. Die Forderung der Mobilitätsfreunde, alle Interessenten oder Bedürftigen ›hierher‹ kommen zu lassen, hat bestenfalls Provokationswert. Wörtlich genommen ist sie angesichts der Flüchtlingsströme in aller Welt und schon an den Rändern Europas nichts als weltfremd. De facto vertrauen denn auch die Befürworter selbst darauf, dass soziale Kohärenz und Heimatliebe, Unkenntnis, Immobilität, die Kostspieligkeit der Passage (inklusive Schleppergebühren) und auch die befehdeten Abschirmmaßnahmen der EU die meisten Bedürftigen schon fernhalten. Umso gewissenhafter setzen sie sich dann dafür ein, dass alle, die die Ankunft geschafft haben, bleiben dürfen und die ›Illegalen‹ legalisiert werden. Das weiterhin notwendige Ringen zwischen Bestrebungen zur Ausweitung und zur ›Eindämmung‹ der Migration verspräche vernünftigere Resultate, wenn keine Seite fundamentalistisch argumentierte. Eine solche Hoffnung auf Konsenslösungen aber stünde hier viel zu abgeklärt, zu bequem, wenn nicht hinzugefügt würde: Von einem Land, selbst einem reichen, kann tatsächlich nicht ›alles Leid dieser Erde‹ gemildert werden, wie die Befürworter des Status quo sich gern ausdrücken. Doch wenigstens das Bewusstsein der Interrelationen, der direkten und der vielfältigen indirekten Verursachung jenes Leidensdrucks, also auch der Verantwortung dafür ist bei allen, die hier mitreden wollen, einzufordern. Das Gewicht der gern verdrängten Kehrseite der hierzulande florierenden Zivilisation muss dabei ebenso vergegenwärtigt werden wie die Stimme der Wortlosen oder der ganz Abwesenden.
Zur Zeit könnte es sich ergeben, dass einfach die demographische Entwicklung der Bundesrepublik eine Öffnung erzwingt, die weiter reicht als die bisherige, welche das Land überwiegend dem Hierbleiben der einstigen ›Gastarbeiter‹ und dem Nachzug verdankt. Dann werden vermutlich wie in klassischen Einwanderungsländern jährliche Kontingente für Zuwanderungen aufgestellt werden - und prompt stellt sich die weitere, wiederum nicht ohne Kontroversen denkbare Frage, wer in welchem Sinne auf die Kontingentierung Einfluss nehmen kann und soll. Die diesem Land fehlenden Computerexperten werden jetzt schon angeworben, doch um den Geburtenschwund zu kompensieren dürften sie zu wenige und daran nicht übermäßig interessiert sein. Die Industrie hätte gern auch die übrigen so jung und alert wie möglich. Die Demographen bestehen darauf, dass alle nicht zu alt und dass sie nachwuchsfreudig sind. Beide Kontingente versprechen der hiesigen Gesellschaft gut zu tun. Die gesamte Zuwanderung aber wird sich nicht auf solche erwünschten, womöglich ausgesuchten Immigranten festlegen lassen, und das ist ebenfalls gut für die Gesellschaft. Die Verfolgung und das Elend in anderen Ländern geht die Menschen in Deutschland, einem der Weltmeister des Exports, heftig an. Dass schließlich zusammen mit den Erwünschten ebenso wie mit den Asylsuchenden, den Elendsflüchtlingen und den Kosmopoliten auch unerwünschte Einwanderer kommen werden, Mafiosi, Geldwäscher, Waffenhändler, Rauschgiftdealer, Zuhälter, ›Schläfer‹ und andere Helfer von Terroraktionen, wird sich so wenig verhindern lassen wie bisher (und natürlich kommen solche nicht nur von jenseits der Grenze; über die relative Häufigkeit ihres Auftretens ist mit der negativen Aufzählung hier nichts gesagt). Es wäre aber an der Zeit, die Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden wenigstens so weit zu internationalisieren, wie es jene ›Netze‹ und ›Ketten‹ schon lange sind.
2. Lockerungen und Suche nach Halt, vielleicht anderer Art
Migration ist in der Regel eine Antwort auf handfeste Probleme, sei es der Migranten selbst, sei es ihres Herkunftslandes oder des aufnehmenden Landes. Schutz, Existenzerhaltung und Arbeitsmöglichkeiten fallen schwerer ins Gewicht als die vielleicht mit dem Wechsel verbundene Lust an etwas Neuem. Dennoch produziert die Existenz in der anfangs fremden Umgebung häufig, ob die Beteiligten es beabsichtigt haben oder nicht, eine z.T. für sie selbst erstaunliche Auflockerung von früheren Prägungen oder Festlegungen. Sie werden deshalb nicht gleich Jongleure. Sie greifen mitunter nach der neuen, der bundesdeutschen oder rheinländischen Existenzform (bzw. einzelnen Versatzstücken derselben) oder der des Supermarktkunden mit der gleichen Rigidität, mit der sie zuvor, wie man sich das hier vorstellt, Anatolier oder Händler oder Käufer im heimischen Bazar gewesen sind. Doch die Schwierigkeiten, ehe sie das können, das Zögern, ehe sie es wollen und tun, das Schwanken zwischen beiden Verhaltensmöglichkeiten, die nur langsame und partielle Veränderung mit Rückstößen, mit Vorbehalten, das Messen des Neuen am Alten und allmählich auch umgekehrt, diese ganze Existenz im Übergang dauert viele Jahre an. Selbst die geübtesten Migranten lassen sie lebenslänglich nie restlos hinter sich. Sie bewirkt es, dass Migranten insgesamt, als Gruppe, auch wenn manche von ihnen traditioneller denken als inzwischen die Heimat selbst, weniger festgelegt wirken als diejenigen, denen diese Erfahrung fehlt. Die Bewusstesten – durch Reflexion oder durch entschiedenes Ausspielen ihrer Situation – können als Pioniere der auf alle zukommenden Zukunft angesehen werden, die mindestens, so wenig Bestimmtes sich auch sonst vorhersagen läßt, zunehmend instabil und unübersichtlich zu werden verspricht.
Neben dem bloßen Faktum des Übergangs ist, für die Interkulturalitätsforschung wie für die mitlebenden Zeitgenossen, die Art der Verbindung zwischen den divergierenden Orientierungen von Interesse. Vermischen sie sich? Kann man von ›hybriden‹ Lebensformen, von einer ›hybriden‹ kulturellen Zugehörigkeit sprechen? Werden die ungleichen Kulturmuster nur addiert (eher partiell als ganz) oder werden sie einander angenähert oder entsteht etwas Neues zwischen ihnen? Bilden die nicht nur mit neuen Erscheinungen, sondern auch mit einer neuen Sichtweise Konfrontierten ihrerseits eine ›doppelte Optik‹ aus, bewusst oder ohne es zu merken, spielerisch oder im Ernst, mit Lust oder mit Argwohn sich selbst gegenüber? Die Verhaltensweisen und Äußerungen der Migranten zeigen eine große Streubreite, alle aber nehmen eine Zwischenposition, manche eine sehr fruchtbare Zwischenposition zwischen den nur vorstellbaren Extremen ein. Selbst diejenigen Ankömmlinge, die sich nichts so wünschen wie eine rasche Integration, werden immer noch Spuren ihrer früheren kulturellen Sozialisation ›verraten‹, und auch an Familienclans, die hier in einer der zahlreichen Enklaven ›ganz wie zu Hause‹ zu leben versuchen, geht die weitere Umgebung mit ihren Angeboten und Verführungen, mit ihrem heimlichen oder offenen Druck nicht spurlos vorüber. Besonders aufschlussreich sind die literarischen Be- und Verarbeitungen dieser Situation, auch wenn diese immer schon eine bestimmte Auslese vornehmen und durch ihre Gestaltung die existentiellen Fragen oft noch weiter zu intellektuellen verschieben. Vorstellungen von einer verdoppelten oder gespaltenen Existenz tauchen in literarischen Texten immer wieder auf. Eine weite Skala von hybriden Lebensformen, Denkweisen, Sprachgestaltungen wird etwa in den avancierten Texten von Tawada, Biondi, Gruša, Herta Müller und anderen vergegenwärtigt und in ihren literarischen Verfahren durchgespielt. Die Lust am ›Anderssein‹ stößt mit der Scheu vor dem anderen oder vor seiner Andersartigkeit, mit der Befremdung, Ablehnung usw. zusammen. Dank des Rahmens von Fiktionalität oder Reflexivität entsteht daraus ein nicht-kriegerischer, ein oft gedankensprühender, anziehender oder selbst bei heftiger Ablehnung faszinierender Funkenregen.
Diese spezifische, durch eine folgenreiche Lebensanstrengung gewonnene Auflockerung berührt sich natürlich mit vielerlei Veränderungen und Ausdifferenzierungen, von denen mittlerweile die Hörsäle, Theater und Ausstellungsräume, die Märkte, die Medien, partiell auch die Straßen und Plätze voll sind. Ob sie sich ansteckend oder provozierend (in der weiten Skala des Wortes) auf diejenigen auswirken kann, die am eigenen Leib diese Erfahrung nicht gemacht haben, ist zu bezweifeln. Nicht einmal Partikel einer anderen Kultur lassen sich durch bloßes Ansehen und Reden übernehmen. Wichtig aber, weit über die Frage der Ästhetik und des Lebensgefühls hinaus, ist die Erwägung, welche Anstöße für das Denken, die Anschauungen, die Selbstverständlichkeiten der Einheimischen von der eventuell auflockernden Existenz von Fremden unter ihnen ausgehen, die ihrerseits nicht nur, jedenfalls nicht gänzlich fremd sind und es nicht dauernd bleiben.
3. Begriffe mobiler machen?
Auch wenn – Optimisten meinen: solange – die realen, mit vielerlei Sanktionen bewehrten Grenzen durch noch so häufige Überschreitung nicht verschwinden, die Grenzen in den Köpfen können durch eifrigen Gebrauch der Köpfe weitgehend abgetragen, durch sinnvollere Operationen als die bloße Grenzziehung ersetzt werden. Urteile, Wertschätzungen, Zuordnungen, emotionale und metaphorische Assoziationen werden von früh auf mit einer Fülle von Distinktionen gebildet, mit ungeprüft übernommenen Definitionen befestigt. Sie wimmeln geradezu, im hier relevanten Bereich, von Setzungen oder Vergleichen, deren eine, nach Ich und Wir benannte Seite etwas mit Umgang und Erfahrung zu tun hat (jedenfalls haben kann), während die andere, wenn es hoch kommt, auf Hörensagen beruht. Um sie zurechtzurücken, tut die Anschauung der als ›Gegenseite‹ definierten Wirklichkeit oft Wunder – diesen Aufklärungseffekt produzierte die Migrationsliteratur besonders in ihrer ersten Phase mit Vorliebe. Wiederholtes Zurechtrücken von gedanklichen Oppositionen geht nun nicht ohne eine Relativierung des Schemas der Gegenüberstellung selbst ab. Die Selbsteinschätzungen sowie die Begriffe, die man sich von anderen macht, verlieren ihre verletzende Schärfe, ihre Festigkeit, die Absolutheit, die am liebsten unbedacht übernommene Begriffe annehmen. Die Begegnung mit Fremden, seien es Unbekannte oder falsch Gekannte, und erst recht der Austausch mit ihnen, ist ein entscheidender Motor der alten wie jeder neueren Übung im Zweifeln. Sie befördern die Skepsis und Selbstkritik, die Dekonstruktion. Sie können – Optimisten hoffen: werden – zu einer fortlaufenden Entsubstantialisierung unserer Annahmen, unserer Urteile und Prinzipien, der Kategorien, der Logik, des Denkprozesses selbst führen.
Diese zu erhoffende Aufweichung von Urteilen, welche so gern in der Form von Vorurteilen gebildet werden, wie auch der Abbau von Fundamentalismus und Fanatismus geschieht nicht von allein und ist nicht auf einmal dauerhaft und offen für Transfers. Gerade der deutsche Boden, Ost wie West, bietet grausige Beispiele von Reaktionen der Abstoßung, der Verhärtung und Selbstbornierung. Die Reaktionen fallen oft umso wütender aus, je geringer die reale Berührung mit Fremdem und Fremden gewesen ist. Die Strategie der militanten Rechten läuft auf völlige Segregation hinaus (›national befreite Zonen‹). Sie verabscheuen jede Vermischung, suchen sie rückgängig zu machen und suchen auch die Begriffe wieder an klare Distinktionen zu binden, bis sie bei ihren Fundamentalien Nationalität, ›Rasse‹, Bodenzugehörigkeit ankommen. Da jedes Zurückweichen vor ihnen sie in ihrer Aggressivität bestärkt, da aber jede unvermittelte Konfrontation mit den abgelehnten ›Fremden‹, die in dieser Konstellation meist auch die Schwächeren sind, sie noch mehr provoziert, hängt viel von der Organisation von Vermittlungen, Diskussionen und Zwischenschritten ab. Der Neuansatz und die Variation von Konfrontationen ist vermutlich pädagogisch günstiger als das Beharren auf einer und derselben Konstellation. Das Ablassen und Neuansetzen an anderer Stelle kann zugleich den Trend der ohnehin fälligen Entwicklung anschaulich beglaubigen. Der Ortswechsel ist zwar, ebenso wie das Zusammenleben mit seinen Problemen, zu ernst, als dass es sich insgesamt als ein Spiel fassen ließe. Doch die darin steckende Dynamik, die Verschiebung oder Vertauschung von Innen und Außen, von Möglichem, Vorgestelltem, Verwirklichtem machen aus dem ganzen Vorgang und der resultierenden Situation ein Feld, in dem eine avancierte Spieltheorie beweisen könnte, was sie für die Gesamtgesellschaft leistet.
Globalisierung hat im Universitätsbereich einen guten Klang. Man denkt an den produktiven Austausch (fast) sämtlicher Informationen und Verfahren, an die Sokrates- und Erasmus-Programme mit ihrer unbestreitbaren Horizonterweiterung und vieles mehr. Eine andere Folge der Globalisierung von Menschen (und Waren) ist jedoch die pausenlose Entwertung von Qualitäten und Qualifikationen, einerseits durch den progredierenden Wechsel von Angeboten wie Anforderungen, andererseits durch die Steuerung durch immer umfassendere, immer lückenloser vernetzte Zentralen der Profitoptimierung. Diese Entwertung ist tief kränkend für das Individuum, wo immer und in welcher Position auch immer es sich befindet. Die Industrie bietet als Kompensation nur die Mobilität pur, die Anpassung an laufend wechselnde Vorgaben. Die Betroffenen haben keine Wahl, als sich darauf einzulassen. Dennoch ist es etwas anderes, ob sie die Beweglichkeit, die Fähigkeit zu Variationen und Neuentwürfen sich nur abnötigen lassen oder sie von sich aus ausbilden. Eine Rückkehr zu statischen, gleichbleibenden Qualitäten und Qualifikationen wird es kaum geben. Wie ›offen‹ aber die Zukunft wirklich ist, entscheiden nicht die Moden und oft blindwütigen Modernisierungs-›Zwänge‹ der Industrie mit ihrer gänzlichen Ungerührtheit gegenüber der Naturgrundlage, der Bekömmlichkeit, der Sozialverträglichkeit und der Zukunft der Gattung Mensch. Sondern dafür sind die vielen unterschiedlichen, oft völlig ungleich motivierten Individuen gefragt, die von diesem Prozess bestimmt werden, ihm aber auch sämtliche Bewegungs-, Fortschritts- und Steuerungselemente liefern. Ihre Erfindungskraft und Reaktionsbereitschaft, ihre Hypothesen, Visionen sowie Kritiken und Beschwerden, ihre Gaben des Entwurfs, der Induktion und Extrapolation, des Experiments, der Reflexion, Analyse usw. müssen sich nicht zwangsläufig in der Bedienung fremder Interessen und Zielsetzungen erschöpfen. Sie wären immerhin tauglich für Korrekturen, für Auswege aus der Sackgasse der alleinzigen Kapitalvermehrung.
Allerdings: Wie ist es um die Durchsetzungsfähigkeit dieser so beweglichen Individuen bestellt?
4. Wachsende Spontaneität bei zunehmender Abhängigkeit?
Für sich selbst und die Ihren sorgen zu können war das einigermaßen stolze Selbstverständnis der Wandernden und dann bald ›Fahrenden‹ von der frühen Neuzeit an. Sie brachten ihre Hände mit (zu denen auch ein Kopf gehörte, wie zunehmend deutlich wurde) und damit alles, was sie in der neuen Situation wo auch immer benötigten. Dieses Vertrauen auf das eigene Können, die selbstverständliche Grundlage der Teilnahme an den gewaltigen Auswanderungsbewegungen, mit denen vor allem im 19. Jahrhundert halbe Kontinente – neu, unter Zurückdrängung bis Auslöschung der indigenen Bevölkerungen – besiedelt wurden, ist auch heute noch ein entscheidender Faktor beim Entschluss zur Emigration. Die Sicherheit jedoch, dass das Vertrauen sich bewährt, ist im Laufe der letzten 30 Jahre schwer erschüttert worden. Immer mehr Einwanderer müssen damit rechnen, dass sie in eine ausgehaltene, von der Wohlfahrt des Gastlands abhängige Existenz gelangen. Immer mehr von ihnen rechnen von Anfang an damit oder streben eben diese Abhängigkeit an. Erschwert wird ihnen die Situation noch dadurch, dass ein beträchtlicher Teil gerade der für sie zugänglichen Jobs durch spezielle Anwerbung- und Anstellungsverhältnisse, oft am Rande der Illegalität, durch Sub- und Subsubunternehmen, Scheinfirmen u.a. derart kontingentiert ist, dass arbeiten zu dürfen zur schieren Gnade wird, der gegenüber das Können und die Arbeitswilligkeit bereits weniger ins Gewicht fallen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, die seit den 70er Jahren trotz zaghafter, partieller Besserungsbemühungen zur Dauererscheinung ohne ein heute absehbares Ende geworden ist, hatten es die Arbeiter insgesamt schon immer schwer, ihre Forderungen auf eine angemessene Beteiligung an den Segnungen der von ihnen produzierten Zivilisation durchzusetzen. Die Mitgestaltung ihrer ganzen Gesellschaft, die tätige Sorge für deren Erhalt und Zukunft ist durch diese Schwächung der gesellschaftlichen Position erst recht erschwert.
Es gab nun umgekehrt Versuche, die Abhängigen als solche zu rehabilitieren; gegenwärtig haben diese Bestrebungen anscheinend Konjunktur. Waren sie in der Antike auf eine Komödienfigur beschränkt, den ›Parasiten‹, so wurde der frühen bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Tugendideal im Picaro, dem ›Landstörtzer‹ oder einfach Gauner, ein bewusst schimpfliches, despektierliches Gegenbild entgegengehalten. Diderot entwickelt in Rameaus Neffe dieses kritische Memento zur höchsten Kunstfertigkeit und stattet seine Figur mit einem derart anzüglichen Selbstbewusstsein aus, dass ›der Philosoph‹ gegenüber dieser alles zersetzenden Suada als der Unterlegene, ziemlich ratlos, dasteht. Gegenwärtig scheint das Contra gegen die immer noch auf ihr Arbeitsethos pochende Gesellschaft, die doch längst nicht mehr allen ihren Mitgliedern Arbeit bietet, zur ›Attacke‹ überzugehen. Mit Bravour wurde die hier fällige Retourkutsche etwa im Manifest der Glücklichen Arbeitslosen einer Gruppe von selbst ernannten ›Müßiggangstern‹ in Berlin gestaltet oder in der ›Kanak Attak‹ von hierzulande aufgewachsenen Türken und Türkinnen der zweiten Generation, die Feridun Zaimoglu in seinen einschlägigen/einschlagenden Interviewbänden sichtlich nicht erfunden, doch gehörig stilisiert hat.
Es ist beklemmend zu beobachten, dass die betont saloppen, bewusst leichtfertigen Aggressionen und Provokationen von Arbeitslosen oder sich irgendwie Durchmogelnden so viel mehr Selbstbewusstsein und Mitspracheanspruch ausdrücken, im zweiten Fall auch mehr Aufmerksamkeit finden als etwa die Produktionen des ›Werkkreises‹ der letzten Jahre, die sich um die nach wie vor ausstehende Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt bemühen. Dieses Missverhältnis ist nicht schwer zu erklären. Die einen haben Zeit; sie können sich um die Ausgestaltung, die Trends und ihre eigenwilligen Modifikationen, die Platzierung ihrer Produkte in aktuellen Strömungen wie in Vertriebskanälen kümmern. Die anderen dagegen, von der Arbeit oder der nicht minder aufreibenden Suche nach der nächsten Arbeit gestresst, können das alles nicht oder leisten es höchstens in kleinen Partikeln, ohne Überblick, ohne gründliche Regie. Die Überlegenheit gilt aber nicht in jedem Betracht. Die kessen Arbeitslosen oder Streetfighter und Rapperinnen verstehen es zwar, schick bis in die Zungenspitzen über die Ungerechtigkeiten dieser Gesellschaft herzuziehen, aber gerade von der verächtlichen Arbeit und von denen, die so dumm und subaltern sind, sich ihr von früh bis spät auszusetzen, haben sie nur eine wolkenhafte Ahnung, eben ausreichend für ihre postmodernen Invektiven. In dieser zentralen Frage haben diejenigen, die sich in ihrer Arbeit oder in einer ganzen Serie von schon absolvierten Arbeitsstellen auskennen, mehr zu bieten. Sie haben sich über die Bedingungen ihrer Arbeit wie über die Zwecke oder Verwertungskreisläufe der jeweiligen Produkte Gedanken gemacht, haben Erfahrungen damit gesammelt, und beides ist im Computerzeitalter nicht weniger wichtig, nicht weniger alarmierend als in der Epoche der Maschinen. Sie suchen auch – das besonders will die literarische Schulung des ›Werkkreises‹ verstärken – nach den Zusammenhängen unter der glatten Oberfläche und dem Diskurs der angeblich konvergierenden Interessen. Doch die oberflächliche, nirgends ernsthaft erwiderte Polemik der ersteren gegen die letzteren sollte nicht verdecken, dass die beiden Strömungen (und viele weitere außerhalb gerade dieser Dichotomie) zusammengehören. Erst wenn sie sich strikt aufeinander beziehen, ihre Widersprüche nicht bloß hinausposaunen, sondern austragen, wird der darin angelegte Aufklärungswert wirklich freigesetzt. Die heutige Situation ruft nach einer solchen Kooperation der faktisch getrennt oder in Konkurrenz zueinander Gehaltenen: Diejenigen, die noch oder vorübergehend einen Arbeitsplatz bekommen haben, können ihre Lage nicht mehr wie eine selbstverständliche oder für alle verbindliche begreifen. Aus eigener Erfahrung oder aus der Wahrnehmung der Erfahrungen anderer kommen sie nicht darum herum, die ungleiche Beteiligung der Arbeitswilligen (sowie auch einiger -unwilliger) am Arbeitsprozess und vor allem die fatale Konsequenz für sie selbst, die anwachsende Belastung einer jeden der immer selteneren ausfinanzierten Stellen, mit oder ohne Überstundenregelung, zu realisieren und sich dazu zu verhalten. Die ›Freigesetzten‹ aber haben eine ganze Skala vom Ingrimm bis zum Hohn auf eine dermaßen schlecht organisierte, gesellschaftlich ungesunde und destruktive, bei aller Renditerationalität durch und durch irrationale Verteilung zur Verfügung. Was in manchen ihrer Äußerungen zynisch klingt, bildet nur die Antwort auf eine Behandlung, die ihnen zynisch erscheinen muss. Das Sprachfeuerwerk, zu dem die so besonders medienwirksamen Gruppen ihre Situation verarbeiten, könnte, hartnäckiger auf die Ursachen der evidenten Skandale abgeklopft, den dringenden Veränderungsbedarf dieser Gesellschaft grell beleuchten.
Nach wie vor sind diejenigen, die die materielle Reproduktion der Gesellschaft aufrechterhalten, in keiner günstigen Position der Gesellschaft und ihren Entwicklungstrends gegenüber. Konkurrenz, Vereinzelung, Verunsicherung in vitalen Zukunftsfragen und Entwertung haben ebenso den Mut von vielen einzelnen angekratzt wie die Chance und den Effekt eines etwaigen geballten Auftretens reduziert. In dieser schwierigen Situation aber ist der Zuzug von Ausländern, die das Kontingent der Arbeitenden, Arbeitsuchenden und durchzubringenden Einwohner vermehren, eine zusätzliche Stärkung, eine weitere Belastung dagegen höchstens in dem Sinne, wie jede Herausforderung belastet. Sie bringen andere Erfahrungen hinzu, fundamentalere oder pointiertere Kritik sowohl an den herrschenden Verhältnissen als auch an den eingefahrenen Strategien gegen sie. Sie haben etwas andere Begriffe davon, wie Menschen, in diesem unvermeidlichen Plural, sich mit Verhältnissen arrangieren oder an ihnen ansetzen, um sie ›auf die Reihe zu bringen‹: zu durchdringen ebenso wie abzuändern. Dieses ›Hinzubringen‹ geht nie in einer Addition auf; es verlangt und entzündet Diskussionen, Auseinandersetzung, Reibung. Migration vereinzelt zwar und schwächt oder zerreißt bestehende Kollektive. Ihr Resultat aber bietet lauter Chancen, Zusammengehörigkeit und Kooperation neu zu konzipieren: aus der Situation heraus, womöglich der Situation besser gewachsen als frühere Zusammenschlüsse aus nur einem Land in nur einer Sprache, ohne die Korsetts der nationalen Identität und Homogenität.
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Unabtrennbar, aber jetzt noch für sich zu betrachten ist die Frage,
welche Selbsterkenntnis aus der Begegnung mit anderen herausspringt
oder -springen kann. Vielleicht können wir heute Rimbauds
Provokation »Ich ist ein anderer« besser verstehen: zum einen die
Attacke auf die einengende Selbstverständlichkeit des
›Ich‹-Bewusstseins, auf seine Kontinuität, Verlässlichkeit, seine
Einzigartigkeit, an deren Stelle gerade der Widerpart des ›Ich‹
auftaucht, zum anderen die provokative Gleichsetzung mit denen, die
in seiner Zeit verfemt waren, mit den ›Schwarzen‹, den
Revolutionären, den Menschen aus der ›Hölle‹ im sozialen Sinn des
Wortes. Das Ich wird um seine Identität gebracht, indem der Andere
an die Stelle tritt, die vordem, sonst, der Akt des Denkens oder
Sprechens dem sich so äußernden oder seiner selbst bewussten Ich
anwies. Jabès sagt es ein Jahrhundert später in einer viel
logischer klingenden Satzform, unterstreicht damit aber den
gleichen irritierenden Tatbestand: »Die Distanz, die uns von den
Fremden trennt, ist die gleiche, die uns von uns selbst trennt.«
Und Senocak (1997) füttert den doppelpolig-anzüglichen Sachverhalt
mit seinen – oder nicht nur seinen, durch die Veröffentlichung
jedenfalls allgemein zugänglichen – Erfahrungen aus dem ›Gastland‹
Deutschland: »Jeder hat einen Gast in sich, dessen Platz ihm nicht
zusteht.«
So notwendig aber die verschärfende Rückwendung auf sich selbst sein mag, heute reicht sie nicht mehr aus. Seit den Anschlägen aus heiterem Himmel auf annähernd viertausend Unbeteiligte in New York muss in allen Erwägungen über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft mitbedacht werden, dass die westliche Welt, deren Attraktivität in den Wanderungsbewegungen der letzten vierzig Jahre auf der Hand liegt, zugleich in großen nicht zu übergehenden Teilen der Welt tief verhasst ist. Sie ist es nicht wegen ihrer Demokratie und Menschenrechte, zu denen auch die Freizügigkeit gehört. Sondern weil sie ein System, an dem sie, d.h. ihre wirtschaftliche Elite, am meisten profitiert, der ganzen Welt mit ökonomischen und mit militärischen Machtmitteln aufgezwungen hat. Und weil ihre Demokratie und Menschenrechte sich mit dieser Welthegemonie mindestens vertragen, wenn nicht sie unterstützen. Auch gegenüber der islamischen Welt wird sich nicht, jedenfalls nicht auf Dauer, die Segregation aufrecht halten lassen. Damit es aber ernsthafte, zweiseitige Diskussionen und Austausch zwischen diesen beiden ›Welten‹ geben kann, ist es unerlässlich, dass wir das eigene uns selbstverständliche Modell mindestens soweit, versuchsweise, von außen betrachten, wie wir es umgekehrt von den islamischen Partnern verlangen. Wenigstens das Bewusstsein dieser Grenze, dieser Außenseite sowie ihres Bezugs zu dem Wir oder Ich, welches bei gründlicher Intro- und Extraspektion sich selbst als ›einen anderen‹ erkennen könnte, muss bei der theoretischen Beschäftigung wie der praktischen Kooperation mit den hierher Eingewanderten geweckt und wach gehalten werden.