EIN NOMADISCHER ENTSCHLUSS – Der junge Jude aus Stargard in
Pommern hatte eine Lebensentscheidung zu treffen. Gerade erst, im
Sommer 1891, hatte er an der medizinischen Fakultät zu Freiburg im
Breisgau promoviert: Über Knochenabscesse; er wusste also
Schnitte zu setzen.
Die Heimat blieb ihm unvertraut, »never known a nation so
brutally chauvinistic«, schrieb er einem Freund nach London.
Damit stieß er auf eine verwandte Empfindungslage bei einem, dem er
bald lebenslang als nimmermüder Verteidiger zur Seite stehen sollte
– Nietzsche. Der hatte fünf Jahre zuvor in seinem Notizheft
vermerkt: »Es scheint mir immer mehr, man treibt uns Deutsche aus
dem Vaterlande, die wir nicht flach und nicht gutmüthig genug sind,
um an dieser märkischen Junker-Vaterländerei mitzuhelfen und in
ihre Hass schnaubende Verdummungs-Parole Deutschland Deutschland
über Alles einzustimmen.«
Der frischgebackene Freiburger Doktor jedenfalls ging nach
England. Er wollte nicht einfach die Nationalität wechseln. Bloß
Brite zu werden, das hielt er für irrelevant. Vielmehr kultivierte
er eine ganz eigene Mitte zwischen Integration und Abgrenzung,
betrieb eine kulturelle Symbiose zwischen dem kontinental-kulturell
Besten, das er mitbrachte und – wie er hoffte – einer
aristokratischen Noblesse des Empire. Levy versammelte bald eine
Runde von Freunden um sich. Zumeist trafen sie sich in seinem
Stammlokal Café Vienna in Bloomsbury. Einer aus der Runde schrieb
später: »Dr. Oscar Levy is an English institution, and his office
is to introduce to us not only Nietzsche, but all of Nietzsche’s
friends.« Der Levy-Kreis setzte darauf, dass durch seinen Einfluss
etwas die national-üblichen kulturellen Werte und die je
selbstbezüglichen Standards Übersteigendes entstehen könnte. Was
Levy dabei vorschwebte, waren Umrisse für eine ›Neue Renaissance‹.
Er erprobte eine Art kritisches Ferment: die Ideen Nietzsches in
den britischen Geist zu implantieren. Dass eine solche Operation
gerade auf der Insel – wo man, wie Nietzsche schrieb, »mit der
›Heilsarmee‹ moralisch grunzen lernt« – die geistige und geistliche
Welt nicht gleichgültig lassen würde, davon war schon der Röckener
einigermaßen überzeugt gewesen. Als er nämlich den Ecce homo
seiner englischen Übersetzerin Helen Zimmern am 8. Dezember 1888
avisierte, verband er damit die Vermutung: »dieses Attentat auf das
Christentum wird in England ein ungeheures Aufsehen
machen.«
Levy fand den Boden dafür schon bereitet, u.a. in der
Zivilisationskritik der um die Jahrhundertwende in London
gegründeten Zeitschriften Notes for Good Europeans, The
Savoy und The New Age.
Vor diesem Hintergrund gab Levy in schneller Folge zwischen 1909
und 1913 eine achtzehnbändige englische Nietzsche-Ausgabe heraus.
Deren außerordentliche philologische Qualität rühmte Josef
Hofmiller als einen »jener paradoxen Fälle, dass eine Übersetzung
sprachlich besser sein kann als das Original.« Diesem geistigen
Reservoir entnahm Oscar Levy die begrifflichen und mentalen
Versatzstücke für seine eigenen zeit- und kulturkritischen
Diagnosen. Levy untersuchte und attackierte vor allem dasjenige,
was er als den inneren Zusammenhalt in allen Nationen seiner Zeit
bemerkte: ein Überlegenheitsgefühl Anderen gegenüber, Missachtung
des (rassisch oder religiös) Fremden, Militarismus und – vor allem
– ein quer durch alle Konfessionen bemerkbares religiöses
Sonderbewusstsein der jeweils eigenen Gemeinschaft. Es herrschte
ganz allgemein ein Geist des verständigen ›Fertig-seins‹ und des
triumphalen ›Das-ist-auch-gut-so‹ – den Sokratismus unserer
Zeit, wie Nietzsche es nannte –, gegen den Levy mit seiner Vernunft
des unabgeschlossenen ›Unterwegs-seins‹ opponierte.
»Ich fürchte«, schrieb Oscar Levy am 6. Juni 1921 nach Weimar, an Nietzsches Schwester, »ich habe mich bei den Deutschen, wie Ihr großer Bruder, zwischen den christlichen und den jüdischen Stuhl gesetzt.« Doch der böse Geist des Nationalismus blieb in allen Nationen ungebrochen virulent.
Als der Große Krieg der »nationalen Derwische«, wie Levy
sich ausdrückte (in einem Brief an Elisabeth Förster-Nietzsche vom
28. Dezember 1915), begann, wurde in England – absurd – gerade
seine große kulturelle Leistung, die Nietzsche-Ausgabe, als
›hunnische‹ Konterbande identifiziert. Ein Slogan machte zu jener
Zeit in London die Runde: The Euro-Nietzschean War. Read the
Devil in order to fight him the better. In dieser Fehlzeichnung
Nietzsches als demjenigen Macht- und Kriegsphilosophen, durch
dessen Einfluss (wie Förster-Nietzsche zu Kriegsbeginn am 30. Dez.
1914 an Baron v. Taube schrieb) »aus den geduldigen, nachsichtigen
Deutschen dieses stahlharte nach Macht strebende Volk geworden
ist«, war man sich bezeichnenderweise zwischen Foreign Office und
Nietzsche-Archiv einig.
1915 mußte Levy seine Insel verlassen, er ging in die Schweiz.
DISPLACED PERSON – Nach den Erfahrungen des Krieges war jener
schreckliche Geist allerdings nirgends besiegt, kaum blamiert. Der
kosmopolitische Träumer und Spötter Levy erfuhr und erlitt es
wieder einmal als erster. Er, der bereits ein Vierteljahrhundert in
England gelebt hatte, wurde, wie er im Herbst 1920 nach Weimar
berichtete, als einer der »former alien enemies« ausgemacht: »Ich
habe immer noch einen schweren Stand, sowohl als Deutscher als auch
als Nietzschejünger. Selbst mein Hierbleiben ist noch ungewiss.«
Obwohl sich ganz unterschiedliche britische Intellektuelle (Georges
B. Shaw, Arthur Connon Doyle, Lord Alfred Douglas, John Galsworthy)
vehement für ein Aufenthaltsrecht Levys in Großbritannien
einsetzten, gelang das nicht. Levy erhielt daraufhin demonstrativ
den soeben gestifteten ersten ›Nansen‹-Pass. Dieses von dem
bekannten Polarforscher Fridtjof Nansen angeregte, völkerrechtlich
basierte Reisedokument für staatenlose politische Flüchtlinge wurde
Anfang Juli 1922 auch vom Völkerbund anerkannt. So konnte Levy
seine nomadische Lebensweise fortsetzen.
Levy begriff Nietzsches Diktum »Wir sind Emigranten« als
zentrales Signum seines Selbstverständnisses. Damit machte er aber
auch eine Aussage über die generelle Eigenart seines Denkens.
Dessen ›Nomadismus‹ motivierte das immerwährende Interesse Levys
für das Phänomen des Jüdischen: »There is no race in the world more
enigmatic, more fatal, and therefore more interesting than the
Jews«, schrieb er 1920 im Vorwort zu einem Buch von
Pitt-Rivers.
Levys Untersuchungen waren fortan befasst mit den
geistesgeschichtlichen Zusammenhängen jener dunklen ideologischen
Kräfte, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Bolschewismus, an
denen Europa zu zerbrechen drohte. Er begriff die beiden
zeitgenössischen ›Erlösungsphantasien‹ als verquere Aufnahme
biblischer Quellen: die ›Rassenerlösung‹ der Nazis sei eine
säkulare Abirrung mit Versatzstücken des Alten Testaments, so wie
die ›Klassenerlösung‹ in Russland eine entsprechende im Horizont
des Neuen Testaments.
Vor allem seit Sommer 1933 warnte Levy, dass die nationalistischen Isolationen nach außen und ›Säuberungen‹ nach innen, mit denen einige der wichtigsten Nationalstaaten Europas aus der europäischen Geschichts- und Kulturkontinuität ausbrechen wollten (namentlich der ›Nazional‹-Sozialismus, aber auch der bolschewistische ›Sozialismus in einem Lande‹), mehr seien als nur eine vorübergehende »Verrücktheits-Episode«. Gerade so hatte Thomas Mann die jüngsten Ereignisse in Deutschland in einem Gespräch mit Oscar Levy am 28. Mai 1933 verstehen wollen.
NIZZA – Im Frühjahr 1934 trafen sich an der Côte d'Azur
gelegentlich einige der Naziherrschaft entronnene
Schriftstellerkollegen. Der erste Winter ihres Missbehagens in der
Fremde war vorüber. Sie alle kamen aus einem seltsamen Land, das
sie ›Bei-uns-zu-Hause‹ nannten. Regelmäßig trafen sie hier einen,
bei dem sie, die ›les-chez-nous‹, wie man sie spöttisch titulierte,
mit ihrer Klage der ›Entwurzelung‹ nur ein helles Lachen ernteten.
Dieser eine war Oscar Levy, ein enger Freund von Heinrich Mann und
Ernst Toller. Levy war wahrscheinlich, das wussten sie jedoch noch
nicht, der erste wirkliche Europäer, den sie zu Gesicht bekamen.
Sein halbes Leben lang Emigrant, in England, der Schweiz und
Frankreich, hatte er längst keine deutschen Papiere mehr. Er zeigte
den neuen Schicksalsgenossen, wie man sich dennoch selbst erhalten
kann, sozusagen ›übernational‹ (wenn auch zunächst
erzwungenermaßen), in der Einübung einer – vorerst nur geistigen –
europäischen Existenz.
Erneut widmete sich Levy – jetzt im französischen Exil – mit
ganzer publizistischer Kraft der Verteidigung des Werkes von
Friedrich Nietzsche, diesmal gegen die volksdeutsche Vereinnahmung.
Levy eröffnete mit seinen Analysen und Polemiken schon früh eine
hoffnungsvolle Perspektive auf Nietzsche in einer hoffnungslosen
Welt. Er werde wohl, wie Levy am 18. Mai 1921 nach Weimar schrieb,
»als einziger Europäer diese Sintflut überleben...«
In dieser Zeit benutzte Levy für seine
Zeitschriftenpublikationen das Pseudonym Defensor Fidei. Mit
seinen Beiträgen unterstützte er vor allem Leopold Schwarzschild
und seine deutschsprachige Exilzeitschrift Das Neue
Tage-Buch, die von Juli 1933 bis Mai 1940 in Paris
erschien.
Im Bericht von einer Feier für Friedrich Nietzsche, den
»modernen Troubadour der Provence und des Mittelmeers«, die am
ersten März 1937 in Nizza stattfand und die das dortige ›Centre
Universitaire Méditerranéen‹ veranstaltete, machte Levy die
›erstrebenswerte europäische Konfession‹ deutlich, wenn er schrieb,
»dass es sich in Europa nicht um den alten Nationalismus oder den
alten Inter-Nationalismus handeln könne, sondern um einen neuen
›sur-nationalism‹«. Der erfordere allerdings nicht einfach eine
Rückkehr zu alten gesellschaftlich-politischen Normativen, sondern
eine Volte im Denken selber.
Sein letztes, 1940 in London veröffentlichtes Werk, The Idiocy of Idealism, versuchte sich an einer ideengeschichtlichen ›Naturgeschichte‹ der Diktatoren und Erlöser. George Bernard Shaw empfahl dieses Buch, das zu einer umfassenden Selbstbesinnung und Selbstkritik des christlich-idealistischen Europa aufrief, um zu erkennen, dass das Böse nicht von ›draussen‹ zu uns kam, sondern aus den Tiefen unseres Ureigensten. Shaw hat auch die unabhängige, bisweilen befremdliche geistige Verfassung des Autor, des lebenslangen Emigranten Levy begriffen, als er ihn pointiert einen »Entirely tactless Nietzschean Jew« nannte. Dieser blieb mit seinen Urteilen stets ungebunden, unwillkommen, störrisch, suchend, ortlos, ja nomadisch.