Die Frage, ob Deutschland ein typisches Einwanderungsland sei
und wie Zuwanderung gesetzlich geregelt werden müsse, ist,
politisch betrachtet, brandaktuell. Sprachwissenschaftlich gesehen,
ergibt sich, bedingt durch die Zuwanderung von Gastarbeitern aus
ganz Europa, die Aufnahme von Asylbewerbern, die Umsiedlung von
Russlanddeutschen und die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen ein
weites Feld für Sprachkontakte in unterschiedlichen Ausprägungen,
ja, es kommt zu einer fast unübersichtlichen Situation. Wir können
nur einzelne Nuancen dieses vielschichtigen Sprachkontakts
herausgreifen:
Wir können in unserem Beitrag nicht alle diese verschiedenen
sprachlichen Zwischenwelten beschreiben und analysieren.
Stattdessen entwerfen wir ad hoc ein Modell, das verschiedene
Intensitätsstufen des Sprachkontaktes unter Zuhilfenahme einiger
Fachtermini erfassen soll. Strenggenommen müsste zu allen sich
ergebenden Einzelpunkten einiges gesagt werden, aber wir
beschränken uns auf ›Stichproben‹, die wir in unserer Tabelle
durchnummerieren. In der Senkrechten sind die einzelnen Ebenen der
Sprache aufgeführt (Wortebene, Lautebene, Formenebene, Satzebene,
Textstruktur) und in der Waagerechten verschiedene
Erscheinungsformen des Sprachkontakts.
Ebene der Sprache
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Abstufungen der Beeinflussung
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code-switching
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code-mixing und Interferenzen
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Pidginisierung
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Wortebene |
(B)
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Lautebene | ||||
Formenebene |
(B)
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(C)
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(D)
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Satzebene |
(B)
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(C)
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(D)
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Textebene |
(A)
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Im Prinzip müssten sich daraus 20 Unterpunkte ergeben, wir
greifen, wie angedeutet, jedoch nur einige unproblematische, klare
Fälle heraus.
(A) ›code-switching‹ auf Textebene
Dies ist die einfachste Form der Sprachvermischung. Ein Sprecher
der ZWS verwendet im Dialog mit seinen Landsleuten seine eigene
Sprache in einem bestimmten Textabschnitt, in einem folgenden
Abschnitt wechselt er / sie zu kompletten deutschen Äußerungen.
Dies geschieht sehr häufig bei Gastarbeiterkindern der zweiten und
dritten Generation. Alltägliche Beispiele können in jeder Großstadt
/ Kleinstadt in Bus oder Straßenbahn belauscht werden: man hört
einen konsistenten türkischen Text, dann plötzlich (bezogen auf das
Thema des Dialogs und dessen Hauptpersonen): »Was denkt der sich
eigentlich? Der spinnt doch.« Somit wird zwischen ›sauberen‹
türkischen und ›sauberen‹ deutschen Sätzen hin und her
›geschaltet‹.
(B) ›code-mixing‹
Bleiben wir beim Türkischen, das wohl am intensivsten
hinsichtlich der anstehenden Problematik untersucht ist. Ein
wichtiger Terminus beim ›code-mixing‹ ist der der Kopie (vgl.
Johanson 1991). Lexikalische Elemente der GGS (Deutsch) werden in
die ZWS (Türkisch) übernommen, wobei auch türkische Formelemente
(Suffixe) an deutsche Wörter treten. Zum Teil werden auch deutsche
Ausdrucksweisen analog ins Türkische übersetzt. Ein sehr schönes
Beispiel für diese eigentümliche Form der Sprachvermischung ist
sogar zum Aufsatztitel avanciert. Pazarkaya (1983) übertitelte
seine Untersuchungen zum Deutsch-Türkischen Sprachkontakt
mit
Schule -de bugün çok langweilig -di.
(die) Schule in heute sehr langweilig es war
= In der Schule
war es heute sehr langweilig.
Dieser offensichtlich von einem schulverdrossenen Zeitgenossen
geäußerte Satz ist wie folgt zu analysieren: An das deutsche Wort
›Schule‹ wird die türkische
Lokativendung –de (= in) angehängt, dann folgt bugün = türkisch für
›heute‹, das deutsche Wort ›langweilig‹ wird quasi verbalisiert und
erhält die türkische Endung –di für dritte Person Singular,
Präteritum, und wird mit çok = ›sehr‹
modifiziert.
Dem aufmerksamen Bus- oder
Straßenbahnkunden wird auffallen, dass oft bestimmte Bezeichnungen
für Behörden oder Formulare in türkische Sätze eingeflochten
werden. Da hört man inmitten eines türkischen Redeschwalls oft
›Steuerkarte‹, ›Arbeitsamt‹ und ähnliches. Das alles sind Beispiele
für
›code-mixing‹.
In verschiedenen Spezialarbeiten ist darauf
hingewiesen worden, dass auch syntaktische Muster des Deutschen
ihre Spuren im Türkischen hinterlassen. Ein etwas kompliziertes
Beispiel findet sich bei Menz (1991: 31). Im Deutschen steht beim
Verb ›verzichten‹ die Präposition ›auf‹, bzw. bei komplexeren
Strukturen ›darauf, dass...‹ oder ›darauf, zu + Infinitiv‹. Manche
Türkisch-Sprecher versprachlichen das ›darauf-Objekt‹ in ihrer
Muttersprache im Dativ, obwohl im Türkischen selbst ›verzichten‹
mit dem Ablativ (= von) konstruiert wird. Man
vergleiche:
Patron vazgeçi –yor bu makinayi alma
–ya
Chef verzichten – 3. Pers. Präsens diese Maschine/Akkusativ Kauf –Dativ
wörtlich: Der Chef verzichtet dem Kauf die Maschine.
(= verzichtet darauf, die Maschine zu kaufen)
Im
Türkischen muss das letzte Element des Satzes eigentlich almak-tan
(= ›Kauf-Ablativ‹) heißen. Es mag sein, dass im Türkischen der
Dativ als Richtungskasus gewählt wird, weil im deutschen die
›auf‹-Ergänzung den Bezug, die Richtung angibt, auf die sich der
Verzicht
erstreckt.
Überlagerungen zwischen GGS und ZWS werden generell unter dem
Terminus ›Interferenz‹
erfasst.
(C) ›Interferenzen‹ als spezielle Fälle des
›code-mixing‹
Präpositionen
Besonders auffällig sind Interferenzen im Bereich der Präpositionen. Das hat jeder am eigenen Leib erfahren, der in der Schule Englisch oder Französisch gelernt hat. Wenn ich als Deutscher sage:
we were talking over
you
statt
we
were talking about you
Dann übertrage ich das deutsche ›über‹ wörtlich ins Englische,
ohne zu ahnen, zu beachten, dass das Englische hier ein ›about‹
fordert.
Zur weiteren Verdeutlichung im Migrations- und Übersiedlungskontext
sei hier auf den slavischen Hintergrund verwiesen, wie er für
Russland- und Polendeutsche relevant ist. Selbst, wenn
slavisch-basierte Sprecher schon längst ein fast fehlerfreies
Deutsch sprechen, so halten sich bestimmte Präpositionalfehler am
hartnäckigsten. Die gemeinslavische Präposition ›na‹ deckt das
Deutsche ›an‹ und ›auf‹ ab. Es kommt häufig zu Unsicherheiten bei
Verbergänzungen mit ›auf‹, etwa nach dem Muster:
Ich verzichtete an mein Bier und
ging.
Dies ist eine typische
Interferenzerscheinung aus dem Slavischen ins
Deutsche.
Ein kniffliges Problem:
türkisch-persisch ki (=
dass)
Zurück zum Türkischen. In jeder
türkischen Grammatik wird auf ein besonderes Interferenz-Phänomen
hingewiesen: Schon lange vor der Wanderung nach Europa hatte das
Türkische (im Rahmen der islamischen Kultur) Kontakte zum
Persischen. Durch diese prominente Sprache des Islam (eine
indoeuropäische Sprache, die mit dem Deutschen verwandt ist,
wohlgemerkt) hat sich schon vor Jahrhunderten eine Konjunktion (ki
= ›dass‹) ins Türkische ›geschlichen‹, eine Wortart, die eigentlich
dem Türkischen fremd ist.
Das Türkische konstruiert sogenannte Objektsätze nominal, soll
heißen, einem deutschen
Ich weiß, dass du krank bist
entspricht in gestelztem, falschem Deutsch
Ich weiß dein Kranksein.
Die entsprechenden Sätze sehen dann im Türkischen wie folgt aus:
Bil -iyor -um ki hasta -sin
wissen -Präsens 1. Person Singular ›dass‹ krank -2. Person Singular
Ich weiß, dass du krank bist.
Hasta oldu -gun -u bil -iyor -um
krank sein -2. Pers.Sing.Poss Genitiv wissen Präsens -1. Person Sing.
Ich
weiß dein Kranksein.
wobei der erste Satz die ›dass‹-Konstruktion widerspiegelt und
der zweite die ursprüngliche türkische Variante
darstellt.
Natürlich gelingt es in einem formalen Deutsch in manchen
Fällen akzeptablere und grammatisch richtige Sätze zu produzieren,
so wie etwa im Paar:
Er kündigte an, dass er nicht erscheinen
werde.
Er kündigte sein
Nichterscheinen an.
Nun hat das
Türkische, eben bedingt durch eine Interferenz aus dem Persischen,
›schon immer‹ die Möglichkeit, ein ki (= ›dass‹) zu setzen, und
damit sozusagen den Objektsatz nicht nominal, sondern als Nebensatz
mit ›dass‹ zu bilden, und: Da das Deutsche eben als indoeuropäische
Sprache strukturell analog zum Persischen verfährt, ›kennt‹ der
Türkischsprecher diese ›dass‹-Alternative
schon.
Es ist viel
darüber gestritten und geschrieben worden, dass junge
Türkischsprecher in Deutschland, Holland oder Norwegen viel lieber
ki-Sätze bilden, als zu nominalisieren, also im Prinzip
›dass‹-Sätze bilden im Türkischen. Es steht fest, dass eine erste
Interferenz Persisch > Türkisch eine zweite Interferenz, bzw.
Analogie Persisch-Türkisch ki = Deutsch ›dass‹
begünstigt.
Es wurde sogar
festgestellt, dass das Türkische dieses ki für Relativpronomina
einsetzt. Der Normalfall des Türkischen besagt, dass eigentlich
Partizipialkonstruktionen die Modifikation eines Substantivs
leisten, also eine Konstruktion analog zum Deutschen
Der an der Ecke stehende
Mann
die einzige ›hochtürkische‹ Möglichkeit darstellt. Durch
Interferenzen aus den europäischen Sprachen und ihren
Relativpronomina ergibt sich dann auch im Türkischen:
O agaç ki gör
-düm
Der Baum ›den‹ sehen -1.Person Singular / Präteritum
Der
Baum, den ich sah.
Die
entsprechende hochtürkische Variante sieht wie folgt aus:
Gör -düg -üm
aðaç
sehen -PARTPASS -mein Baum
Der
von mir gesehene Baum.
(D)
Pidginisierung
Während sich bei allem bisher Gesagten die Verhältnisse noch
relativ überschaubar präsentieren, und in gewissem Sinne Türkisch
noch Türkisch blieb, und Deutsch noch Deutsch, kommt es bei
Pidginisierungseffekten zu ›brutalen‹ Verunstaltungen der GGS.
Dabei wird nicht, wie oben gezeigt, z.B. die ZWS (das Türkisch
z.B.) vom Deutschen interferiert, sondern das Deutsche wird von
einer formenreichen Sprache (einer flektierenden Sprache mit
Tempussuffixen, Kasusendungen, etc.) in eine ›formlose‹, technisch
gesprochen ›isolierende‹ Sprache umgewandelt. Viele
südostasiatische und westafrikanische Sprachen gehören diesem Typ
an, der sich u.a. dadurch auszeichnet, dass er das, was im
Deutschen Endungen für Tempus oder Kasus leisten, durch
selbstständige Wörter ausdrücken muss. Dabei wird z.B. die Funktion
des deutschen Dativs, der in vielen Fällen einen Rezipienten oder
Adressaten ausdrückt, durch das Wort ›geben‹ (Dativ = wörtlich:
›Kasus des Gebens‹) geleistet. Man betrachte:
Ich schickte meiner Oma (DATIV) ein
Paket
wird quasi zu
Ich schicken Paket geben
Oma.
Technisch gesprochen: hier wird ›geben‹ zur Bezeichnung
der Dativ-Funktion ›grammatikalisiert‹.
Wenn nun viele Sprecher aus unterschiedlichen ZWS (trotz großer
formaler Ähnlichkeit ihrer eigenen ZWS zum Deutschen) auf Kriegsfuß
mit deutschen Verb- oder Substantivendungen stehen, dann wird eben
z.B. im Infinitiv gesprochen.
Ich laufen, du laufen, er laufen,
etc.
Was aber passiert z.B. mit dem Tempus,
spezieller etwa mit dem Ausdruck der Vorzeitigkeit? Wenn ein
Sprecher in Verlegenheit ist, zu sagen:
Ich habe Herrn X
angerufen
dann greift er, wie von Geisterhand geführt, ohne
Reflexion über Sprache, zu einem ›universalen‹ Mittel, wie es aus
isolierenden Sprachen ohne Tempussuffixe oder Tempusumschreibungen
(›habe angerufen‹) bekannt ist: er wählt entweder ein Adverb oder
ein zweites Verb, um die Abgeschlossenheit der Handlung
auszudrücken:
Ich anrufen Herr X
fertig.
Es ist erstaunlich, aber allzu logisch,
dass diese Pidginstruktur des Deutschen frappierend der
Konstruktion einer isolierenden Sprache gleicht. Man vergleiche
dazu das Khmer (Südostasien):
ò:púk mü´:l ka:saet
cop
Vater lesen Zeitung fertig.
=
Vater hat die Zeitung (zuende) gelesen.
Für
alle bisher beschriebenen Fälle (A) bis (D) muss festgehalten
werden, dass immer mindestens zwei Sprachen unterschiedliche
Missverhältnisse eingehen. Selbst bei der Herausbildung einer
Pidgin-Sprache gilt, dass die Sprecher über zwei Sprachen verfügen,
eine ›reine‹ Muttersprache und ein Pidgin, das noch nicht einmal
Bestandteile der Muttersprache enthalten muss, sondern als Mixtur
aus einer zweiten und dritten Sprache in verschiedenen Weltgegenden
zur Verständigung dienen kann. So ist z. B. bekannt, dass in der
Karibik Spanischsprecher ein anglo-französisches Pidgin
benutzen.
Natürlich stellt sich nun die Frage, ob es relativ klar
eingrenz- und beschreibbare Pidgin-Versionen des Deutschen gibt.
Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, und trotz dieser
Problematik gehen einige Linguisten schon weiter. Grundsätzlich
nämlich gilt (per Standarddefinition), dass Pidginsprachen zur
alleinigen Muttersprache von Sprechern avancieren können, man
spricht dann von Creol-Sprachen. Fälle dieser Art gibt es zuhauf in
der Karibik, in Afrika und in Ozeanien. Nun sagen einige, dass in
bestimmten Stadtvierteln großer Städte (man sollte mit dem Ausdruck
›Ghetto‹ etwas vorsichtig sein), auch in Deutschland Mischformen
entstanden sind, die quasi die ›Muttersprache‹ ihrer meist
jugendlichen Sprecher darstellen. Dann wäre man beim Creol..., aber
überlassen wir das weiteren
Forschungen.
Ein letzter Aspekt, den wir ansprechen wollen, betrifft eine in der Sprachkontaktforschung aktuelle Problematik. Es geht um die Rolle von Gemeinschaft und Individuum, konkret: darum, inwieweit neben den oben beschriebenen allgemeinen Tendenzen von Interferenzbildungen (bei einer Sprachgemeinschaft in Kontaktsituation) eben das Individuum als Instanz von Sprachmischung fassbar ist. Gerade hier spielen das persönliche Sprachverständnis, die persönliche Bildung und auch die persönlichen Fehler eine wesentliche Rolle. So muss man zu dem Schluss kommen, dass jeder Einzelne, der zur Kommunikation außer seiner eigenen Sprache eine zweite Sprache benutzt, über seine eigene kleine sprachliche Zwischenwelt verfügt, die nicht immer im großen Rahmen erklärbar ist.