Werner Drossard
Sprachliche Zwischenwelten

Die Frage, ob Deutschland ein typisches Einwanderungsland sei und wie Zuwanderung gesetzlich geregelt werden müsse, ist, politisch betrachtet, brandaktuell. Sprachwissenschaftlich gesehen, ergibt sich, bedingt durch die Zuwanderung von Gastarbeitern aus ganz Europa, die Aufnahme von Asylbewerbern, die Umsiedlung von Russlanddeutschen und die Unterbringung von Kriegsflüchtlingen ein weites Feld für Sprachkontakte in unterschiedlichen Ausprägungen, ja, es kommt zu einer fast unübersichtlichen Situation. Wir können nur einzelne Nuancen dieses vielschichtigen Sprachkontakts herausgreifen:

  1. Bevor es beispielsweise zu einem Kontakt zwischen dem Türkischen und dem Deutschen kommt, ist zu beachten, dass die türkischen Gastarbeiter aus verschiedenen Landesteilen mit verschiedenen Dialekten stammten und stammen. Es kommt somit zu einer Durchmischung verschiedener türkischer Dialekte, einer ersten sprachlichen Zwischenwelt innerhalb der Zuwanderersprache(n) = [ZWS].
  2. Bleiben wir beim Türkischen. Die erste Generation der Zuwanderer verhielt sich / verhält sich in puncto Sprachkontakt anders als die zweite und dritte Generation. Letztere ist in Deutschland aufgewachsen. Damit ergeben sich wiederum unterschiedliche Varianten der Sprachvermischung, es gibt verschiedene Grade der Beeinflussung der Gastgebersprache =[GGS] Deutsch ins Türkische hinein.
  3. Selbstverständlich kommunizieren unsere Gastarbeiter untereinander, also beispielsweise Spanier mit Türken, Italiener mit Kroaten, und dies mittels eines irgendwie gearteten Deutschen, das es zu beschreiben gilt.
  4. Ältere Russland- und Polendeutsche haben vor der Umsiedlung in ihren Familien deutsch gesprochen, aber in vielen Fällen deutsche Dialektvarianten, die abgetrennt vom Mutterland, in Sprachinseln ihre eigene Dynamik entwickelt haben. Dann sind Varianten des Deutschen aus Kasachstan zum einen eigenständige schwäbische Dialekte, zum anderen sind diese Dialekte wiederum vom Russischen beeinflusst. Nun aber, durch die Umsiedlung, trifft ein deutsch-dialektales russisches Sprachgemisch auf das Hochdeutsche, und in manchen Gegenden auf deutsche Dialekte.

Wir können in unserem Beitrag nicht alle diese verschiedenen sprachlichen Zwischenwelten beschreiben und analysieren. Stattdessen entwerfen wir ad hoc ein Modell, das verschiedene Intensitätsstufen des Sprachkontaktes unter Zuhilfenahme einiger Fachtermini erfassen soll. Strenggenommen müsste zu allen sich ergebenden Einzelpunkten einiges gesagt werden, aber wir beschränken uns auf ›Stichproben‹, die wir in unserer Tabelle durchnummerieren. In der Senkrechten sind die einzelnen Ebenen der Sprache aufgeführt (Wortebene, Lautebene, Formenebene, Satzebene, Textstruktur) und in der Waagerechten verschiedene Erscheinungsformen des Sprachkontakts.

Ebene der Sprache
Abstufungen der Beeinflussung
 
code-switching
code-mixing und Interferenzen
Pidginisierung
Wortebene  
(B)
   
Lautebene        
Formenebene  
(B)
(C)
(D)
Satzebene  
(B)
(C)
(D)
Textebene
(A)
     

Im Prinzip müssten sich daraus 20 Unterpunkte ergeben, wir greifen, wie angedeutet, jedoch nur einige unproblematische, klare Fälle heraus.

(A) ›code-switching‹ auf Textebene

Dies ist die einfachste Form der Sprachvermischung. Ein Sprecher der ZWS verwendet im Dialog mit seinen Landsleuten seine eigene Sprache in einem bestimmten Textabschnitt, in einem folgenden Abschnitt wechselt er / sie zu kompletten deutschen Äußerungen. Dies geschieht sehr häufig bei Gastarbeiterkindern der zweiten und dritten Generation. Alltägliche Beispiele können in jeder Großstadt / Kleinstadt in Bus oder Straßenbahn belauscht werden: man hört einen konsistenten türkischen Text, dann plötzlich (bezogen auf das Thema des Dialogs und dessen Hauptpersonen): »Was denkt der sich eigentlich? Der spinnt doch.« Somit wird zwischen ›sauberen‹ türkischen und ›sauberen‹ deutschen Sätzen hin und her ›geschaltet‹.

(B) ›code-mixing‹

Bleiben wir beim Türkischen, das wohl am intensivsten hinsichtlich der anstehenden Problematik untersucht ist. Ein wichtiger Terminus beim ›code-mixing‹ ist der der Kopie (vgl. Johanson 1991). Lexikalische Elemente der GGS (Deutsch) werden in die ZWS (Türkisch) übernommen, wobei auch türkische Formelemente (Suffixe) an deutsche Wörter treten. Zum Teil werden auch deutsche Ausdrucksweisen analog ins Türkische übersetzt. Ein sehr schönes Beispiel für diese eigentümliche Form der Sprachvermischung ist sogar zum Aufsatztitel avanciert. Pazarkaya (1983) übertitelte seine Untersuchungen zum Deutsch-Türkischen Sprachkontakt mit

Schule -de bugün çok langweilig -di.

(die) Schule in heute sehr langweilig es war

= In der Schule war es heute sehr langweilig.

Dieser offensichtlich von einem schulverdrossenen Zeitgenossen geäußerte Satz ist wie folgt zu analysieren: An das deutsche Wort ›Schule‹ wird die türkische Lokativendung –de (= in) angehängt, dann folgt bugün = türkisch für ›heute‹, das deutsche Wort ›langweilig‹ wird quasi verbalisiert und erhält die türkische Endung –di für dritte Person Singular, Präteritum, und wird mit çok = ›sehr‹ modifiziert.

Dem aufmerksamen Bus- oder Straßenbahnkunden wird auffallen, dass oft bestimmte Bezeichnungen für Behörden oder Formulare in türkische Sätze eingeflochten werden. Da hört man inmitten eines türkischen Redeschwalls oft ›Steuerkarte‹, ›Arbeitsamt‹ und ähnliches. Das alles sind Beispiele für ›code-mixing‹.

In verschiedenen Spezialarbeiten ist darauf hingewiesen worden, dass auch syntaktische Muster des Deutschen ihre Spuren im Türkischen hinterlassen. Ein etwas kompliziertes Beispiel findet sich bei Menz (1991: 31). Im Deutschen steht beim Verb ›verzichten‹ die Präposition ›auf‹, bzw. bei komplexeren Strukturen ›darauf, dass...‹ oder ›darauf, zu + Infinitiv‹. Manche Türkisch-Sprecher versprachlichen das ›darauf-Objekt‹ in ihrer Muttersprache im Dativ, obwohl im Türkischen selbst ›verzichten‹ mit dem Ablativ (= von) konstruiert wird. Man vergleiche:

Patron vazgeçi –yor bu makinayi alma –ya

Chef verzichten – 3. Pers. Präsens diese Maschine/Akkusativ Kauf –Dativ

wörtlich: Der Chef verzichtet dem Kauf die Maschine.
(= verzichtet darauf, die Maschine zu kaufen)

Im Türkischen muss das letzte Element des Satzes eigentlich almak-tan (= ›Kauf-Ablativ‹) heißen. Es mag sein, dass im Türkischen der Dativ als Richtungskasus gewählt wird, weil im deutschen die ›auf‹-Ergänzung den Bezug, die Richtung angibt, auf die sich der Verzicht erstreckt.

Überlagerungen zwischen GGS und ZWS werden generell unter dem Terminus ›Interferenz‹ erfasst.

(C) ›Interferenzen‹ als spezielle Fälle des ›code-mixing‹

Präpositionen

Besonders auffällig sind Interferenzen im Bereich der Präpositionen. Das hat jeder am eigenen Leib erfahren, der in der Schule Englisch oder Französisch gelernt hat. Wenn ich als Deutscher sage:

we were talking over you

statt

we were talking about you

Dann übertrage ich das deutsche ›über‹ wörtlich ins Englische, ohne zu ahnen, zu beachten, dass das Englische hier ein ›about‹ fordert.
Zur weiteren Verdeutlichung im Migrations- und Übersiedlungskontext sei hier auf den slavischen Hintergrund verwiesen, wie er für Russland- und Polendeutsche relevant ist. Selbst, wenn slavisch-basierte Sprecher schon längst ein fast fehlerfreies Deutsch sprechen, so halten sich bestimmte Präpositionalfehler am hartnäckigsten. Die gemeinslavische Präposition ›na‹ deckt das Deutsche ›an‹ und ›auf‹ ab. Es kommt häufig zu Unsicherheiten bei Verbergänzungen mit ›auf‹, etwa nach dem Muster:

Ich verzichtete an mein Bier und ging.

Dies ist eine typische Interferenzerscheinung aus dem Slavischen ins Deutsche.

Ein kniffliges Problem: türkisch-persisch ki (= dass)

Zurück zum Türkischen. In jeder türkischen Grammatik wird auf ein besonderes Interferenz-Phänomen hingewiesen: Schon lange vor der Wanderung nach Europa hatte das Türkische (im Rahmen der islamischen Kultur) Kontakte zum Persischen. Durch diese prominente Sprache des Islam (eine indoeuropäische Sprache, die mit dem Deutschen verwandt ist, wohlgemerkt) hat sich schon vor Jahrhunderten eine Konjunktion (ki = ›dass‹) ins Türkische ›geschlichen‹, eine Wortart, die eigentlich dem Türkischen fremd ist.
Das Türkische konstruiert sogenannte Objektsätze nominal, soll heißen, einem deutschen

Ich weiß, dass du krank bist

entspricht in gestelztem, falschem Deutsch

Ich weiß dein Kranksein.

Die entsprechenden Sätze sehen dann im Türkischen wie folgt aus:

Bil -iyor -um ki hasta -sin

wissen -Präsens 1. Person Singular ›dass‹ krank -2. Person Singular

Ich weiß, dass du krank bist.

Hasta oldu -gun -u bil -iyor -um

krank sein -2. Pers.Sing.Poss Genitiv wissen Präsens -1. Person Sing.

Ich weiß dein Kranksein.

wobei der erste Satz die ›dass‹-Konstruktion widerspiegelt und der zweite die ursprüngliche türkische Variante darstellt.

Natürlich gelingt es in einem formalen Deutsch in manchen Fällen akzeptablere und grammatisch richtige Sätze zu produzieren, so wie etwa im Paar:

Er kündigte an, dass er nicht erscheinen werde.

Er kündigte sein Nichterscheinen an.

Nun hat das Türkische, eben bedingt durch eine Interferenz aus dem Persischen, ›schon immer‹ die Möglichkeit, ein ki (= ›dass‹) zu setzen, und damit sozusagen den Objektsatz nicht nominal, sondern als Nebensatz mit ›dass‹ zu bilden, und: Da das Deutsche eben als indoeuropäische Sprache strukturell analog zum Persischen verfährt, ›kennt‹ der Türkischsprecher diese ›dass‹-Alternative schon.

Es ist viel darüber gestritten und geschrieben worden, dass junge Türkischsprecher in Deutschland, Holland oder Norwegen viel lieber ki-Sätze bilden, als zu nominalisieren, also im Prinzip ›dass‹-Sätze bilden im Türkischen. Es steht fest, dass eine erste Interferenz Persisch > Türkisch eine zweite Interferenz, bzw. Analogie Persisch-Türkisch ki = Deutsch ›dass‹ begünstigt.

Es wurde sogar festgestellt, dass das Türkische dieses ki für Relativpronomina einsetzt. Der Normalfall des Türkischen besagt, dass eigentlich Partizipialkonstruktionen die Modifikation eines Substantivs leisten, also eine Konstruktion analog zum Deutschen

Der an der Ecke stehende Mann

die einzige ›hochtürkische‹ Möglichkeit darstellt. Durch Interferenzen aus den europäischen Sprachen und ihren Relativpronomina ergibt sich dann auch im Türkischen:

O agaç ki gör -düm

Der Baum ›den‹ sehen -1.Person Singular / Präteritum

Der Baum, den ich sah.

Die entsprechende hochtürkische Variante sieht wie folgt aus:

Gör -düg -üm aðaç

sehen -PARTPASS -mein Baum

Der von mir gesehene Baum.

(D) Pidginisierung

Während sich bei allem bisher Gesagten die Verhältnisse noch relativ überschaubar präsentieren, und in gewissem Sinne Türkisch noch Türkisch blieb, und Deutsch noch Deutsch, kommt es bei Pidginisierungseffekten zu ›brutalen‹ Verunstaltungen der GGS. Dabei wird nicht, wie oben gezeigt, z.B. die ZWS (das Türkisch z.B.) vom Deutschen interferiert, sondern das Deutsche wird von einer formenreichen Sprache (einer flektierenden Sprache mit Tempussuffixen, Kasusendungen, etc.) in eine ›formlose‹, technisch gesprochen ›isolierende‹ Sprache umgewandelt. Viele südostasiatische und westafrikanische Sprachen gehören diesem Typ an, der sich u.a. dadurch auszeichnet, dass er das, was im Deutschen Endungen für Tempus oder Kasus leisten, durch selbstständige Wörter ausdrücken muss. Dabei wird z.B. die Funktion des deutschen Dativs, der in vielen Fällen einen Rezipienten oder Adressaten ausdrückt, durch das Wort ›geben‹ (Dativ = wörtlich: ›Kasus des Gebens‹) geleistet. Man betrachte:

Ich schickte meiner Oma (DATIV) ein Paket

wird quasi zu

Ich schicken Paket geben Oma.

Technisch gesprochen: hier wird ›geben‹ zur Bezeichnung der Dativ-Funktion ›grammatikalisiert‹.

Wenn nun viele Sprecher aus unterschiedlichen ZWS (trotz großer formaler Ähnlichkeit ihrer eigenen ZWS zum Deutschen) auf Kriegsfuß mit deutschen Verb- oder Substantivendungen stehen, dann wird eben z.B. im Infinitiv gesprochen.

Ich laufen, du laufen, er laufen, etc.

Was aber passiert z.B. mit dem Tempus, spezieller etwa mit dem Ausdruck der Vorzeitigkeit? Wenn ein Sprecher in Verlegenheit ist, zu sagen:

Ich habe Herrn X angerufen

dann greift er, wie von Geisterhand geführt, ohne Reflexion über Sprache, zu einem ›universalen‹ Mittel, wie es aus isolierenden Sprachen ohne Tempussuffixe oder Tempusumschreibungen (›habe angerufen‹) bekannt ist: er wählt entweder ein Adverb oder ein zweites Verb, um die Abgeschlossenheit der Handlung auszudrücken:

Ich anrufen Herr X fertig.

Es ist erstaunlich, aber allzu logisch, dass diese Pidginstruktur des Deutschen frappierend der Konstruktion einer isolierenden Sprache gleicht. Man vergleiche dazu das Khmer (Südostasien):

ò:púk mü´:l ka:saet cop

Vater lesen Zeitung fertig.

= Vater hat die Zeitung (zuende) gelesen.

Für alle bisher beschriebenen Fälle (A) bis (D) muss festgehalten werden, dass immer mindestens zwei Sprachen unterschiedliche Missverhältnisse eingehen. Selbst bei der Herausbildung einer Pidgin-Sprache gilt, dass die Sprecher über zwei Sprachen verfügen, eine ›reine‹ Muttersprache und ein Pidgin, das noch nicht einmal Bestandteile der Muttersprache enthalten muss, sondern als Mixtur aus einer zweiten und dritten Sprache in verschiedenen Weltgegenden zur Verständigung dienen kann. So ist z. B. bekannt, dass in der Karibik Spanischsprecher ein anglo-französisches Pidgin benutzen.

Natürlich stellt sich nun die Frage, ob es relativ klar eingrenz- und beschreibbare Pidgin-Versionen des Deutschen gibt. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, und trotz dieser Problematik gehen einige Linguisten schon weiter. Grundsätzlich nämlich gilt (per Standarddefinition), dass Pidginsprachen zur alleinigen Muttersprache von Sprechern avancieren können, man spricht dann von Creol-Sprachen. Fälle dieser Art gibt es zuhauf in der Karibik, in Afrika und in Ozeanien. Nun sagen einige, dass in bestimmten Stadtvierteln großer Städte (man sollte mit dem Ausdruck ›Ghetto‹ etwas vorsichtig sein), auch in Deutschland Mischformen entstanden sind, die quasi die ›Muttersprache‹ ihrer meist jugendlichen Sprecher darstellen. Dann wäre man beim Creol..., aber überlassen wir das weiteren Forschungen.

Ein letzter Aspekt, den wir ansprechen wollen, betrifft eine in der Sprachkontaktforschung aktuelle Problematik. Es geht um die Rolle von Gemeinschaft und Individuum, konkret: darum, inwieweit neben den oben beschriebenen allgemeinen Tendenzen von Interferenzbildungen (bei einer Sprachgemeinschaft in Kontaktsituation) eben das Individuum als Instanz von Sprachmischung fassbar ist. Gerade hier spielen das persönliche Sprachverständnis, die persönliche Bildung und auch die persönlichen Fehler eine wesentliche Rolle. So muss man zu dem Schluss kommen, dass jeder Einzelne, der zur Kommunikation außer seiner eigenen Sprache eine zweite Sprache benutzt, über seine eigene kleine sprachliche Zwischenwelt verfügt, die nicht immer im großen Rahmen erklärbar ist.