Der vorliegende Band versammelt die Beiträge einer Tagung, die im Jahre 1998 an der Universität Buffalo anlässlich der Emeritierung von Georg G. Iggers veranstaltetet wurde. Der vielversprechende Titel »Crossing Boundaries« hat nicht nur mit einem weiten und sehr aktuellen Spektrum von Themen zu tun, sondern reflektiert zu einem guten Teil auch den Ansatz und die methodologischen Voraussetzungen der wissenschaftlichen Arbeit von Iggers selbst – des renommierten Historikers also, der seinerseits als engagierter Vorkämpfer der Bürgerrechte und aktiver Gegner der Rassendiskriminierung in den USA der 50er Jahre gilt (es sei insbesondere an die Little Rock School erinnert).
Die allgemeine Frage, die diese verschiedenartigen Studien verbindet, ist die Frage nach der Grenzüberschreitung, sei es im Sinne einer vergleichenden Analyse der Minderheiten in Deutschland und Amerika, sei es im Sinne der epistemologischen Probleme der Geschichtsschreibung in unserem Zeitalter, in dem ein Verständnis sozialer, wirtschaftlicher und kultureller bzw. »multikultureller« Wirklichkeiten verlangt ist, das über nationale Grenzen wie auch über den traditionellen, heute aber fragwürdig gewordenen Eurozentrismus hinausführt.
Wie es des öfteren in solchen Fälle geschieht, ist dieser Band durch eine gewisse Heterogeneität gekennzeichnet oder – wenn man sich schärfer ausdrücken will – dadurch sogar geschädigt. Man kann jedoch drei Leitfäden in den Vordergrund rücken, ohne dabei auf die einzelnen Beiträge näher einzugehen.
Zum ersten geht es um die Tragödie der Emigration deutscher Gelehrter nach 1933 – die epochemachende »Flucht der Musen«, welche auch aufgrund der Passivität der akademischen Welt und ihres Schweigens gegenüber dem seit 1880 wieder erstandenen Antisemitismus möglich war (so Konrad H. Jarausch, S. 16, 22). Außerordentlich lehrreich sind hier die autobiographischen Notizen vom Werner T. Angress, aber auch die nuancierten Portraits zweier ins Exil getriebener Prominenter, des Psychologen William Stern und des Philosophen Ernst Cassirer, die Supriya Mukherjee und Michael Hänel verfasst haben (S. 85-140).
Zum zweiten handelt es sich um Fallstudien über die hauptsächlich politisch motivierte Auswanderungswelle im Zeitraum 1918 – 1939, über das diskriminierte Frauenstudium in Wilhelminischen Deutschland, über bestimmte Aspekte der NAACP (National Association for Advancement of Colored People), über die rassistische Ausgrenzung in den USA und schließlich über die schon erwähnte Little Rock School. Pauschal gesagt: Es werden paradigmatische Beispiele eines geschichtlichen Dramas dargestellt, das das Schicksal des »kurzen Jahrhunderts« weitgehend bestimmt hat.
Zum dritten gilt es auf die bereits oben angedeuteten methodologischen Implikationen aufmerksam zu machen. Was bedeutet es heute – so könnte dieses letzte Thema zusammengefasst werden – die Geschichte der Emigration, der Minderheiten, der politischen Vertriebenen, der Civil Rights und des Verlustes eines vormals stolzen Eurozentrismus schreiben zu wollen? Welches sind die epistemologischen Voraussetzungen einer solchen Aufgabe? Und wie kann man das Spannungsfeld zwischen einer Objektivität à la Leopold von Ranke und einer relativistischen bzw. ideologisierenden Auffassung der Geschichte überwinden? Diese Fragen machen vielleicht den anregendsten Aspekt dieses Bandes aus. Darauf gibt es natürlich keine abschließende Antwort, doch die Ansätze, die u. a. Georg Iggers und Eckhardt Fuchs zu formulieren versuchen, sind zweifellos ernst zu nehmen. So meint z. B. Iggers, dass die Geschichtsschreibung sich keineswegs auf Ideologiekritik reduzieren lässt, obschon sie allerdings auch auf «politischen und philosophischen Voraussetzungen» beruhe. Iggers hebt hervor, die Tradition der deutschen Geschichtsschreibung habe immer wieder den Anspruch auf reine Objektivität erhoben, sie sei aber besonders im 20. Jahrhundert mit geschichtlichen Ereignissen konfrontiert worden, die nicht nur im Sinne einer »Professionalisierung« der Geschichtsschreibung behandelt können werden. So sind am Ende – laut Iggers – weder bloße Objektivität noch Relativismus und Fiction das Kennzeichen der Geschichtsschreibung, sondern es ist die Suche nach Plausibilität, die ihrerseits durch der Dialog zwischen verschiedenen Werten und Weltanschauungen zu erreichen sei (S. 190, 233-240). Wie Fuchs in seinem Beitrag Reshaping the World vorschlägt, handelt es sich dabei um die Formulierung neuer Paradigmen für die Aufgabe des Geschichtsschreibers – so z. B. das Paradigma der »Transkulturalität« nach dem Zeitalter der Kolonialisierung und in der gegenwärtigen Ära der Globalisierung, oder das Paradigma eines »soft Eurocentrisms«, das die Basis für eine »Weltgeschichte der Geschichtsschreibung« darstellen könne (S. 250-256). Die Frage nach der Plausibilität solcher Paradigmen steht damit ganz offen vor uns: All dies hat mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sowie mit unserer Stellung im »Kosmos« der Geschichte zu tun und verlangt zugleich – es ist schwer, dieser These nicht zuzustimmen – den intellektuellen Mut, »Grenzen zu überschreiten«.
Massimo Ferrari